Die Bibel

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Weiter-ButtonZurück-Button Der Mensch und seine Lebenskraft ⋅1⋅

Damit kommen wir zum zweiten Begriff, nämlich zu dem, was den Menschen lebendig macht, zu seiner Lebenskraft, zur נֶפֶשׁ ["næphæsch"].

Wir haben diesen Begriff ja oben bereits etwas zu beleuchten versucht. Nun müssen wir ihn im Blick auf den Menschen noch etwas genauer entfalten.

1. Die ursprüngliche Wortbedeutung

Bereits gesehen haben wir, dass נֶפֶשׁ ["næphæsch"] das lebensspende "Element" im Menschen und auch im Tier bezeichnet. Dieser Ausdruck wird zwar meistens mit dem deutschen Begriff "Seele" übersetzt, er entspricht aber in den seltensten Fällen dem, was wir unter "Seele" oder ψυχή ["psychæ"] verstehen.

Dass das schon vom Wort her nicht sein kann, sieht man sofort, wenn man sich die ursprüngliche Wortbedeutung von נֶפֶשׁ ["næphæsch"] anschaut. Der Begriff נֶפֶשׁ ["næphæsch"] hat ursprünglich absolut nichts mit Geist oder etwas Geistigem zu tun.

Im Psalm 107 kann man die ursprüngliche Wortbedeutung noch ablesen. Dort heißt es, wenn man wörtlich überträgt, im Vers 5:

"Hungrige, auch Durstende, sie verschmachten an ihrer נֶפֶשׁ ["næphæsch"]." (Ps 107,5)

Und im Vers 9:

"Denn er hat die lechzende נֶפֶשׁ ["næphæsch"] gestillt, und die hungernde נֶפֶשׁ ["næphæsch"] mit Gut erfüllt." (Ps 107,9)

Hier ist noch deutlich zu spüren, dass נֶפֶשׁ ["næphæsch"] anfänglich einmal die "Kehle" bedeutete. Im Psalm 107 schwingt diese Bedeutung noch klar mit. Dem Hungernden wird die נֶפֶשׁ ["næphæsch"] mit Gutem angefüllt, so wie man dem Verhungernden eben etwas in die Kehle stopft.

Von daher ist auch verständlich, dass נֶפֶשׁ ["næphæsch"] manchmal auch "Gier" bedeuten kann. Denn mit dem Begriff Kehle verbindet man eben auch das Verschlingen von etwas.

Und weil dem Menschen, dem man die Kehle zudrückt die Luft wegbleibt, deshalb rückt der terminus נֶפֶשׁ ["næphæsch"] im Hebräischen dann immer stärker in den Bedeutungshorizont von "Atem". Weil der Atem aber lebensnotwendig ist, erfährt der Begriff נֶפֶשׁ ["næphæsch"] letztlich dann die Bedeutungserweiterung in Richtung "Lebenselement", bis hin zum Begriff "Leben" überhaupt.

2. נֶפֶשׁ ["næphæsch"] und Blut

Die Lebenskraft des Menschen, und im übrigen auch der Tiere, vermutete der Hebräer nun vorab im Blut. Deshalb kann man in der Bibel auch sagen:

"Die נֶפֶשׁ ["næphæsch"] ist im Blut." (Dtn 12,23⋅2⋅

Und im Buch Levitikus heißt es sogar:

"Das Blut ist die נֶפֶשׁ ["næphæsch"]." (Lev 17,14⋅3⋅

Auch das ist wieder ganz konkret gedacht. Man kann ja selbst ganz einfach beobachten, wie im verströmenden Blut das Leben dahingeht. Das Blut ist demnach für den Hebräer der Sitz des individuellen Lebens und damit auch der נֶפֶשׁ ["næphæsch"].

Von daher wird aber auch verständlich, dass die Juden aus Respekt vor dem Leben, das von Gott herkommt und demnach allein Gott gehört, auch beim Tier unter keinen Umständen das Blut verzehren.

3. נֶפֶשׁ ["næphæsch"] als "ich"

Da die נֶפֶשׁ ["næphæsch"] das individuelle Lebensprinzip meint, kann dieser Begriff in der hebräischen Sprache dann sogar zum Ausdruck für mich selbst werden. Er kann an die Stelle des Personalpronomens treten.

So heißt es beispielsweise in Psalm 3:

"Viele sind es, die von meiner נֶפֶשׁ ["næphæsch"] sagen: keine Hilfe wird ihm bei Gott." (Ps 3,3⋅4⋅

Und der Ausdruck "von meiner נֶפֶשׁ ["næphæsch"]" ist hier ganz klar gleichbedeutend mit den Worten "von mir":

"Viele sind es, die von mir sagen: keine Hilfe wird ihm bei Gott." (Ps 3,3.)

4. Die נֶפֶשׁ ["næphæsch"] als Sitz des Gefühls

Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff נֶפֶשׁ ["næphæsch"] - von seiner ursprünglichen Wortbedeutung her - auch etwas "gierhaftes" beinhaltet. Von daher erhält נֶפֶשׁ ["næphæsch"] auch ein Bedeutungsfeld, das in die Richtung unseres Begriffes "Trieb" geht.

נֶפֶשׁ ["næphæsch"] umschreibt so auch den Lebenstrieb, das Begehren. Und dann darüber hinausgehend auch die damit zusammenhänge Empfindung, die Gestimmtheit und das Gefühl.

Der Hebräer bringt damit zum Ausdruck, dass für ihn auch das Affektive und Emotionale im Menschen an der נֶפֶשׁ ["næphæsch"] des Menschen haftet. So kann von der נֶפֶשׁ ["næphæsch"] ausgesagt werden, dass sie Trauer und Freude, Liebe und Hass, Wohlgefallen und Überdruss empfindet. Diese emotionalen Aussagen gehören sogar primär dem Bereich der נֶפֶשׁ ["næphæsch"] an.

5. Zum Verhältnis von נֶפֶשׁ ["næphæsch"] und בָּשָׂר ["basar"]

Nur darf man jetzt nicht vergessen, dass der Hebräer hier synthetisch und nicht analytisch denkt. Es wäre daher falsch zu sagen: Die נֶפֶשׁ ["næphæsch"] ist also der Ort des Gefühles und בָּשָׂר ["basar"], das Fleisch, bezeichnet den Leib, in dem diese נֶפֶשׁ ["næphæsch"] wohnt. Das wäre ganz und gar unbiblisch gedacht.

Für den Hebräer sind beides eben nur Aspekte ein und desselben Menschen. So können manchmal die Begriffe נֶפֶשׁ ["næphæsch"] und בָּשָׂר ["basar"] sogar wechselseitig verwendet werden. Dadurch wird noch einmal deutlich, wie sehr dieses "Leben" dem Leib zuinnerst ist. Die primär der נֶפֶשׁ ["næphæsch"] zugehörigen emotionalen Aussagen können auch auf das "Fleisch", d. h. den leiblichen Aspekt des Ganzheitswesens Mensch übertragen werden. So heißt es etwa in Ps 63,2:

"Gott,... meine נֶפֶשׁ ["næphæsch"] (Seele) dürstet nach dir, nach dir schmachtet mein Fleisch wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser." (Ps 63,2)

Hier werden die Begriffe נֶפֶשׁ ["næphæsch"] und בָּשָׂר ["basar"] völlig austauschbar verwendet. ⋅5⋅

Und genau auf der gleichen Linie liegt es, wenn Ezechiel davon spricht, dass das Gegenteil eines "steinernen Herzen", also ein gott- und menschenoffenes Herz, ein "Herz aus Fleisch" ist (vgl.: Ez 11,19; Ez 36,26).

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Alfons Deissler, Wer bist Du Mensch? (Freiburg 1985) 21-22. Zur Anmerkung Button

2 Übersetzung nach: Alfons Deissler, Wer bist Du Mensch? (Freiburg 1985) 21. Zur Anmerkung Button

3 Übersetzung nach: Alfons Deissler, Wer bist Du Mensch? (Freiburg 1985) 21. Zur Anmerkung Button

4 Eigene Übersetzung. Zur Anmerkung Button

5 Weitere affektive Aussagen über "Fleisch" finden sich auch in: Ps 16,9; Ps 84,3; Ps 119,20; Ijob 14,22.
(Vgl.: Alfons Deissler, Wer bist Du Mensch? (Freiburg 1985) 22.) Zur Anmerkung Button