Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Die Völkerwallfahrt nach dem Zion (Jes 2,2-4; Mi 4,1-4) ⋅1⋅
Ähnlich universal angelegt ist ein Text, der sowohl im Buch Jesaja als auch im Buch Micha vorkommt. Er stammt vermutlich von keinem der beiden Propheten, sondern wurde nachträglich sowohl in das eine als auch in das andere Buch eingefügt. Dabei wird er in beiden Prophetenbüchern beinahe in wortwörtlicher Übereinstimmung wiedergegeben.
Es handelt sich um die Verheißung der endzeitlichen Völkerwallfahrt nach dem Zion in Jes 2,2-4 und Mi 4,1-4.
Beide Texte sollen hier im Vergleich nebeneinandergestellt werden:
Der Ausdruck "Ende der Tage" am Beginn dieser beiden Stellen meint natürlich noch nicht unbedingt das, was wir mit Endzeit umschreiben. Er muss also nicht gleich eschatologisch im strengen Sinn des Wortes gedeutet werden. Dem Inhalt nach kommt er aber unserer Vorstellung von Endzeit sehr nahe. Die Perspektiven, die diese beiden Texte eröffnen, gehen ganz klar ins Universale und zielen auf eine unüberbietbare endgültige Heilszeit ab.
Dabei sagt dieser Text, dass dann, wenn diese Heilszeit beginnt, der Wille Jahwes, seine Willensoffenbarung, wie sie vorab im Dekalog gebündelt ist, zum ersehnten und gesuchten Heilsgut der ganzen Menschheit wird.
Damit läuft Jes 2,2-4 und Mi 4,1-4 parallel mit Jes 51,4-5. Dort heißt es, ebenfalls in einem universalen Gottesspruch:
"Horcht her, ihr Völker, hört auf mich, ihr Nationen! Denn von mir kommt die Weisung, und mein Recht wird zum Licht der Völker ... Mein Arm verschafft den Völkern ihr Recht; auf mich hoffen die Inseln, sie warten auf meinen Arm." (Jes 51,4-5) ⋅2⋅
Wenn Jes 2,2-4 und Mi 4,1-4 davon sprechen, dass die Völker der Erde zum Zion pilgern, dann treten diese Völker also in eine Analogie zum Bundesvolk Israel. Denn die Sippen und Stämme Israels ziehen ja jetzt schon nach Jerusalem, dem Gnadenort Jahwes.
Diese Analogie ist wichtig. Die Völker kommen dadurch nämlich nicht als Vasallen Israels zum Zion, sie mehren nicht den Reichtum des Jahwe-Volkes. Sie bringen auch keine Opfergaben, sondern Israel teilt mit ihnen sein bisheriges Privileg der Gottesoffenbarung.
Und die Völker der Erde werden dann dieser Gottesoffenbarung so sehr entsprechen, dass sie auf alle Mittel von Macht und Gewalt verzichten und sich in einem universalen Friedensreich zusammenfinden. ⋅3⋅
Diese Verheißung von der endzeitlichen Völkerwallfahrt zum Zion steht natürlich in einem ungeheuren Kontrast zur realen Kriegsgeschichte des Alten Orients. Aber genau dieser Kontrast macht ja erst das ungeheuerliche dieser Botschaft deutlich. Von daher gewinnt sie ihre unüberbietbare Faszination. Eine Faszination, die das Wort vom "Umschmieden der Schwerter zu Pflugscharen", bis heute nicht verloren hat.
Wichtig für die rechte Deutung von Jes 2,2-4 und Mi 4,1-4 ist allerdings, dass nach Lage des Textes, Jahwe diese Zeit herbeiführen wird. Israel versteht diese Endzeit nicht als eine von Menschen gemachte und herbeigeführte Heilszeit. Sie wird das Werk Jahwes sein. Denn er ist der Herr der Geschichte und damit auch der Geber des שַׁלוֺם ["schalom"].
Anmerkungen
(Vgl.: Alfons Deissler, Was wird am Ende der Tage geschehen? - Biblische Visionen der Zukunft (Freiburg 1991) 95.)