Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Jahwe, der Befreier aus Ägypten, der Geleiter in der Wüste, der Geber des Landes ⋅1⋅
Damit haben wir die Grundzüge des alttestamentlichen Gottesbildes bereits nachgezeichnet. Wir sind dabei letztlich beim Sprechen von der besonderen Zuwendung Jahwes angelangt. Worin bestand nun diese besondere Zuwendung? Woran ist Gottes Bundeswille spürbar.
Auf diese Fragen antwortet vor allem die Verkündigung der Propheten. Hier wird die Bundescharta ausgelegt und weiter entfaltet.
Wir sind ja auch bisher bereits immer wieder auf Kernaussagen der Propheten gestoßen. Schauen wir nun darauf, was die Propheten zur weiteren Ausfaltung des alttestamentlichen Gottesbildes beigetragen haben. Was sagen sie nun über das besondere Verhältnis Gottes zum Menschen?
Auf fünf Aspekte möchte ich hier ein wenig näher eingehen. Es ist dies das Sprechen von
- Jahwe, dem Befreier aus Ägypten, dem Geleiter in der Wüste und Geber des Landes,
- Jahwe als Vater und Mutter,
- Jahwe als Hirt,
- Jahwe als König und
- Jahwe als Bräutigam.
Obwohl viele Propheten vor allem den Untergang des Volkes ansagen mussten, muss man sich immer vor Augen halten, dass sich die Propheten zuallererst berufen fühlten, das alttestamentliche Evangelium zu verkünden. Egal ob sie jetzt Unheil oder Heil anzusagen hatten, hinter ihrer konkreten Ansage stand immer die frohe Botschaft vom Gott, der sich seines Volkes angenommen hat. Das "Ja" oder das "Nein" des Volkes zu diesem Gott war schließlich erst ausschlaggebend dafür, welche Konsequenzen das Volk zu erwarten hatte: Heil im Falle des "Ja" und Unheil im Falle des "Nein".
Das waren dann jedoch erst die Konsequenzen. Die eigentliche Botschaft aber war immer zuerst, dass Gott sich seines Volkes bereits angenommen hatte. Und diese Annahme Gottes fand ihren Höhepunkt in der Befreiung aus Ägypten. Gott, der sein Volk befreit hatte, das war der erste Inhalt der prophetischen Verkündigung, das Evangelium des Alten Testamentes.
Ausgangspunkt der prophetischen Verkündigung war demnach die Voraustat Gottes, die Botschaft von dem Gott, der sich seinem Volk bereits zugewandt hatte. Und diese Botschaft kommt am besten in der Selbstvorstellung Jahwes zum Ausdruck:
"Ich bin Jahwe, dein Gott, der ich dich aus Ägypten herausgeführt habe." (Ex 20,2.)
Diese Selbstvorstellung Jahwes beleuchteten die Propheten nun nach den verschiedensten Seiten hin. Sie sprechen von Jahwe als Befreier aus Ägypten, als Geleiter in der Wüste und als Geber des Landes.
1. Amos
Letzteres war für Amos ganz besonders wichtig. Der erste Schriftpropheten (ab 760 v. Chr.) sah vor allem im Abschluss des Exodusgeschehens, also in der wunderbaren Landgabe an das schwache Israel, das entscheidende Kennzeichen der besonderen göttlichen Zuwendung.
Gutes hat Gott auch anderen Völkern zuteil werden lassen, aus Gefahren herausgeführt hat er auch andere, ⋅2⋅ dass das schwache Israel aber das Land aus der Hand Jahwes erhielt, und das obschon dort zuvor das starke Volk der Amoriter wohnte (vgl. Am 2,9), das ist für Amos das eigentliche Zeichen für die besondere Erwählung Israels durch Jahwe.
Diese besondere Erwählung ist aber nicht einfach nur irgendeine Auszeichnung. Aufgrund dieser besonderen Stellung ruht auf Israel nun auch eine ganz besondere Verpflichtung. Beides gehört für Amos zusammen.
Besonders der Gottesspruch in Am 3,2 macht dies deutlich:
"Nur euch habe ich ersehen aus allen Geschlechtern des Erdbodens. Darum suche ich an euch heim alle eure Sünden" (Am 3,2.)
Wenn Amos zum Ausdruck bringen möchte, dass Gott Israel "aus allen Geschlechtern ersehen hat" dann verwendet er das Verbum יָדַע ["jada<"], also "erkennen", oder "sich vertraut machen". Jahwe hat Israel "erkannt", hat es "sich vertraut gemacht". Schon dieses Wort macht den intim-personalen Charakter dieses Sonderverhältnisses deutlich. Auch Adam erkannte seine Frau, wie es in der Genesis heißt.
Die geschichtliche Aussonderung Israels ist also eine ganz persönliche und enge Verbindung mit Gott. Und nach Amos ist sie vorab eine Verbindung mit dem Willen Gottes. Dieser Wille Jahwes möchte das Volk ja zum Heil führen, so wie er es einst in das Land geführt hat. Jahwes Wille sollte demnach nun auch im Land Israels Lebensnorm sein, um zu einem geglückten Leben zu gelangen.
Weil Israel von diesem Weg abgewichen ist, korrespondiert im Gottesspruch von Am 3,2 mit diesem "sich vertraut machen" das Wort für "heimsuchen" bzw. "ahnden". Eine zwangsläufige Folge aus der Missachtung dieses Sonderverhältnisses zu Jahwe.
2. Hosea
Hosea (ab 750 v. Chr. wirkend), der einzige Prophet, der auch direkt aus dem Nordreich stammte, legte den Akzent etwas anders als sein älterer Zeitgenosse. Während Amos die Landgabe als Zeichen der besonderen Zuwendung herausstrich, betonte Hosea vor allem die eigentliche Tat der Befreiung aus Ägypten. ⋅3⋅
Aber auch er bringt das Motiv der Landgabe zumindest indirekt mit hinein. Die Herausführung aus dem Sklavenhaus beschreibt er nämlich meist unter Verwendung der Verben "heraufziehen" (Hos 2,17) bzw. "heraufführen" (Hos 12,14). Damit verbindet er die Befreiungstat aus Ägypten mit dem Führen in das Land und somit indirekt natürlich auch mit der Landgabe.
Die Wüstenwanderung selbst - als die Zeit unter der unmittelbaren Führung Jahwes - bezeichnet Hosea dabei als "Weiden in der Wüste" (Hos 13,5). Die Zeit der Wüstenwanderung ist also für ihn gleichsam das Mittelglied zwischen den beiden Heilstaten, zwischen Befreiung und Landgabe.
Dass die Rettungshandlung Jahwes am Schilfmeer auch bei Hosea in der Gabe des Landes dann gleichsam kulminiert, wird zumindest indirekt deutlich. Für die Ankündigung einer neuen Heilszukunft Israels verwendet das Hosea-Buch nämlich das Bild einer neuen Landgabe. In Hos 2,16-17 heißt es:
"Darum, siehe, will ich sie locken und in die Wüste führen und ihr zu Herzen reden. Von dort her will ich ihr ihre Weinberge zurückgeben, das Tal von Achor zur Hoffnungspforte machen. Dort wird sie gefügig sein wie in den Tagen ihrer Jugend und wie am Tage, da sie aus dem Lande Ägypten auszog." (Hos 2,16-17.)
Demnach ist die Befreiung aus Ägypten mit ihrem Höhepunkt der Landgabe auch bei Hosea das besondere Zeichen der Zuwendung Gottes.
3. Jesaja
Im Unterschied zu seinen Vorgängern hat der Prophet Jesaja (ab 740 v. Chr.) die Befreiungstat Jahwes, soweit das die von ihm überkommenen authentischen Texte erkennen lassen, in seiner Verkündigung nun weniger hervorgehoben.
Im Weinberglied aus dem 5. Kapitel seines Buches klingt die Landgabe zumindest noch indirekt an. Hier vergleicht Jesaja Israel mit einem Weinberg, den Gott gepflanzt hat:
"Ja, der Weinberg Jahwes Zebaot ist das Haus Israel, und die Männer von Juda sind seine Lieblingspflanzung" (Jes 5,7.)
Ansonsten verschiebt Jesaja den Akzent über die Landgabe hinaus. Für ihn ist der eigentliche Höhepunkt der Zuwendung Gottes die Erwählung des Zions und Jerusalems:
"Jahwe hat Zion festgegründet, dort sind die Armen seines Volkes geborgen." (Jes 14,22) ⋅4⋅
Dass dies nicht nur auf den Tempel und den rechten Gottesdienst abzielt, macht Jes 14,22, der eben zitierte Spruch, dabei ganz deutlich. "Die Armen des Volkes" sind auf dem Zion geborgen. Der Ort, den Jahwe erwählt, an dem er den Menschen sein Angesicht zuwendet, das ist auch vorab der Ort, an dem Jahwe sich als Anwalt der Armen und Schwachen erweist. Sie werden seine helfende und rettende Nähe ganz besonders erfahren.
4. Micha
Fast gar nicht reflektiert wurde das Zugehörigkeitsverhältnis zwischen Jahwe und Israel dann vom Propheten Micha, der um 700 v. Chr. auftrat. Seine Gerichtsreden setzen dieses Verhältnis ganz einfach voraus. Aber selbst hier lässt sich erkennen, dass die vorausgegangene Zuwendung Gottes zu seinem Volk in der Befreiung aus Ägypten ein ganz allgemeines Grunddatum des israelitischen Jahweglaubens darstellt.
Wenn Mi 6,1-8 authentisch sind, wofür gute Gründe sprechen, dann stellt sich hier Jahwe bei Micha nämlich so vor:
"Mein Volk ..., ich habe dich doch aus dem Land Ägypten heraufgeführt, aus dem Haus der Knechtschaft dich ausgelöst." (Mi 6,3-4.)
Auch hier also als besonderes Zeichen der Zuwendung Gottes zu seinem Volk die Erinnerung an Jahwe den Befreier aus Ägypten.
5. Jeremia
Bei Jeremia (ab 620 v. Chr.) ist die Heraus- bzw. Heraufführung Israels aus Ägypten dann wieder ein Grunddatum seiner Predigt. Auf dieses Thema kommt er immer wieder zu sprechen. ⋅5⋅
In Jer 2,6 wird Jahwe dann im Partizipialstil sogar ganz einfach der "Heraufführer aus Ägypten" und der "Geleiter durch die Wüste" genannt. Und dann fährt der Gottesspruch folgendermaßen fort:
"Ich brachte euch in ein Gartenland, damit ihr seine Frucht und seine Güter genießen sollt." (Jer 2,7; vgl. Jer 7,7.)
Alle drei Themen - Befreiung aus Ägypten, Führung in der Wüste und Landgabe - sind hier also in einem Spruch vereint.
In Jer 14,21 erinnert der Prophet dann ausdrücklich an die בְּרִית ["berit"], den Bund, den Gott am Sinai mit seinem Volk geschlossen hat:
"Gedenke deines 'Bundes' und brich ihn nicht!" (Jer 14,21.)
Und er spricht hier interessanterweise ganz ausdrücklich von "deinem" Bund, den Bund also den Jahwe mit seinem Volk geschlossen hat. Hier erinnert Jeremia an die alte Tradition, dass der Bund Gottes mit den Menschen gleichsam eine Selbstverpflichtung Gottes ist, so wie sie auch im Bund mit Abraham in Gen 15 und in der alten jahwistischen Überlieferung vom Sinaigeschehen zum Ausdruck gebracht wir.
Gott, der sich in einem Bund an die Menschen bindet, verpflichtet sich selbst und zwar sich allein, dem Menschen seine Zuwendung zu schenken.
In Jer 14,21 klingt also dieser alte Bundesgedanke an, ein Gedanke, in dem Gottes Zuwendung zum Menschen auf eindrucksvolle Art zum Ausdruck kommt.
6. Ezechiel
Auch Ezechiel (ab 595 v. Chr.) spricht in diesem Sinn vom Bund Gottes mit seinem Volk. Er schildert in einem geschichtlichen Rückblick, wie sich Jahwe durch einen Eid verpflichtete:
"Am Tage, da ich Israel erwählte, erhob ich meine Hand zum Schwur gegenüber den Nachkommen des Hauses Jakob und offenbarte mich ihnen im Land Ägypten und erhob meine Hand ihnen gegenüber zum Schwur: Ich bin Jahwe, euer Gott. An jenem Tage erhob ich ihnen gegenüber meine Hand zum Schwur, dass ich sie aus dem Land Ägypten herausführen werde in das Land, das ich ihnen bestimmt hatte, das von Milch und Honig fließt..." (Ez 20,5-6.)
Hier wird in der Perspektive nach rückwärts "der Schwur an die Väter", mit dem das Erwählungsverhältnis ja begann, mit dem Schwur an die Moseschar in Ägypten gleichgesetzt. Beide Zuwendungen gehen letztlich auf ein und denselben Bundeswillen Jahwes zurück.
Die eigentliche Zielrichtung dieses geschichtlichen Rückblicks bei Ezechiel ist aber die Aussage, dass das Heilshandeln Jahwes am Anfang bereits die Verheißung des zukünftigen Heilswaltens beinhaltet: Jahwe will wieder und wird wieder "mit starker Hand" und "mit ausgestrecktem Arm" Israel aus der Verstoßung unter die Völker heimführen. In Ez 20,34 und Ez 20,42 wird das dann ausdrücklich gesagt:
"Ich will euch aus den Völkern herausführen und euch versammeln aus den Ländern, in die ihr zerstreut waret, mit starker Hand, mit erhobenem Arm, mit überschäumendem Grimm [... ] Und ihr sollt erkennen, dass ich Jahwe bin, wenn ich euch in das Land Israel bringe, in das Land, das ich geschworen habe euren Vätern zu geben." (Ez 20,34. 42.)
7. Deutero-Jesaja
Diese doppelte Perspektive Ezechiels, die Verbindung von Anfang und Zukunft, wird noch stärker von Deutero-Jesaja (um 550 v. Chr.) entfaltet.
Er erinnert die Gemeinde der Verbannten in Babylon sogar
- an den "Noah-Bund" (Jes 54,9),
- sodann an die Zuwendung Jahwes zu Abraham (Jes 41,8)
- und den Vätern (Jes 43,27).
Das fundamentale Heilsereignis ist aber auch bei ihm die Befreiung aus Ägypten und das göttliche Geleit des Volkes durch die Wüste mit dem Ziel der Landgabe. Diese Gottestat ist für ihn dann wahrhaft "Grund legend", d. h. auf ihr baut sich letztlich noch Größeres, Zukünftiges auf:
- Deutero-Jesaja stellt Israel einen neuen erlösenden Auszug, dieses Mal aus dem Unterdrückerland Babel, vor Augen. ⋅6⋅
- Er malt die "labende" Führung durch Wüste und Einöde auf dem Heimweg aus. ⋅7⋅
- Und er verheißt die endgültige Beheimatung in einem erneuerten Zion. ⋅8⋅
Im Judentum zur Zeit Jesu und dann auch im Christentum wird das Sprechen vom Neuen Jerusalem dann zum Bild der eschatologischen Gottesherrschaft, die unter den Menschen errichtet werden wird.
Hier kommt die Botschaft vom Gott, der die Menschen in das Land führt, die Botschaft vom Gott, der sich den Menschen führend zuwendet und ihnen eine Heimat bereitet, dann zu ihrem letztlich unüberbietbaren Höhepunkt. Eine Botschaft, der in der Verkündigung der Propheten schon der Weg bereitet wird und die sich bereits dort abzeichnet.
Anmerkungen