Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Der Mensch als "Person" ⋅1⋅
- 1. Der Person-Begriff der Philosophie
- 2. Der Mensch und sein "Herz" (לֵב ["leb"])
- 3. Das "Angesicht" (פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"])
- 4. Der Mensch als "animal loquens"
- 5. Die Willensfreiheit
- 6. Fazit
Die Definition, dass der Mensch ist Person in Leiblichkeit ist, ist natürlich in gewisser Weise ein Wagnis. Die Bibel kennt schließlich keinen philosophisch durchreflektierten Person-Begriff. Das was wir aber mit Person meinen, ist im Alten Testament dennoch in verschiedenen Umschreibungen präsent.
Diesen Umschreibungen, also dem biblischen Person-Begriff, müssen wir nun abschließend noch ein wenig nachspüren.
1. Der Person-Begriff der Philosophie
Personales Sein bedeutet nach unserem Verständnis ja, dass ein Seiendes über eine gewisse Erkenntnis seiner selbst verfügt, sich selbst "aufgelichtet ist", wie man früher gesagt hat.
Hinzu kommen muss, dass dieses Seiende sich in dem, was es tut oder erleidet, als ein "Ich" erfährt.
Und als drittes gehört ein gewisses Maß der Selbstverfügbarkeit zu einer Person. Eine Person muss, in gewissen Grenzen, über sich selbst verfügen können, ein gewisses Maß an Freiheit besitzen.
Kommen diese drei Faktoren zusammen, dann spricht man in der Philosophie davon, dass ein Seiendes ein "Selbst", eine Person, ist.
Der Hebräer ist es nun nicht gewohnt, philosophische Reflexionen anzustellen. Es gibt in seiner Gedankenwelt so etwas wie abstrakte Seinsbeschreibungen nicht. Das was wir aber mit Personalität meinen, ist dem Hebräer natürlich der Sache nach nichtsdestoweniger bekannt.
2. Der Mensch und sein "Herz" (לֵב ["leb"])
In diesem Zusammenhang ist vor allem das hebräische Wort לֵב ["leb"] wichtig, das unserem deutschen "Herz" entspricht. Dieses Wort meint natürlich zuerst das entsprechende Organ. Darüber hinaus übersteigt es diesen Bedeutungshorizont allerdings genauso, wie in unserer Sprache.
a. לֵב ["leb"] als Ausdruck für das ganze Innere des Menschen
Dabei ist das Wort לֵב ["leb"] in der Bibel nicht, wie das im Zusammenhang mit unserem Wort "Herz" in aller Regel festzustellen ist, auf den emotionalen Bereich des Menschen eingeschränkt. לֵב ["leb"] umgreift eigentlich das ganze "Innere" des Menschen.
So heißt es etwa im Buch der Sprüche: ⋅2⋅
"Mein Sohn, vergiss meine Lehre nicht, dein Herz bewahre meine Gebote!" (Spr 3,1.)
Hier steht das Wort לֵב ["leb"] für das ganze Tun und Wollen des Menschen. So könnte man "dein Herz" auch mit "du" wiedergeben:
"... bewahre du meine Gebote!"
לֵב ["leb"] steht also häufig für das "Ich" des Menschen, sein Selbstbewusstsein, sein Erkennen, Streben, Fühlen und Wollen. לֵב ["leb"] umschreibt letztlich sogar die Fähigkeit zur sittlichen Beurteilung allen Verhaltens. So umschreiben viele Wendungen, die sich um den Begriff לֵב ["leb"] ranken, letztlich das, was wir im Deutschen mit "verantwortlichem Handeln" oder ganz einfach mit "Verantwortung" wiedergeben würden.
b. Denken als dialogisches Geschehen
Ein weiterer Bedeutungshorizont wächst dem Wort לֵב ["leb"] dadurch zu, dass die hebräische Sprache kein Wort für "denken" kennt. Wenn der Hebräer "denken" ausdrücken möchte, dann ist er gezwungen zu umschreiben. Er sagt dann in der Regel:
"Sprechen in meinem Herzen"
oder sogar
"Sprechen zu seinem Herzen"
Im Grunde ist dies eine wunderbare Umschreibung. Sie bringt auf großartige Weise zum Ausdruck, dass Denken kein eindimensionaler Vorgang ist. Für den Hebräer ist Denken eine dialogische Angelegenheit. Er geht mit sich selbst zu Rate, er steht im Dialog mit seinem ganzen Innern.
3. Das "Angesicht" (פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"])
Ein weiterer wesentlicher Begriff, der den Menschen in seinem Person-Sein umschreibt, ist das Wort פָּנִים ["panim"], das "Angesicht".
Wörtlich bedeutet פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"] dabei das Zugewendete.
Manchmal wird dieser Begriff auch im Zusammenhang mit Tieren verwendet. So heißt es in Spr 27,23:
"Achte gar wohl auf das פָּנֶה ["panæh"] deiner Schafe, widme deine Sorge den Herden." (Spr 27,23.)
Hier ist mit פָּנֶה ["panæh"], also mit dem was die Schafe einem zuwenden, im übertragenen Sinne das Aussehen der Schafe gemeint.
Und hier und da kann פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"] sogar von Sachen gebraucht werden. Dann bedeutet das Wort etwa soviel wie "Vorderseite", also die Seite, die einem zugewandt ist. Die Vorderseite des Bundeszeltes etwa kann mit dem Begriff פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"] bezeichnet werden.
In aller Regel jedoch wird der Begriff פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"] in Aussagen über Mensch und Gott verwendet. Diese Verwendung des Wortes überwiegt ganz stark. Das "Angesicht" ist das, was der Mensch oder Gott einem anderen zuwendet. Damit werden Umschreibungen mit פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"] nicht selten zum Ausdruck für Begegnung und häufig auch für Segen.
Bekannt ist hier vor allem die Stelle:
"Jahwe segne dich und behüte dich! Jahwe lasse sein Antlitz auf dich leuchten und sei dir gnädig! Jahwe erhebe sein Antlitz hin zu dir und schaffe dir Heil!" (Num 6,24-26.)
Hier steht פָּנָיו ["panaw"] für die personale Zuwendung Jahwes.
In einer ganzen Reihe von Texte wird פָּנֶה ["panæh"] oder פָּנִים ["panim"] dann so verwandt, dass man das Wort auch direkt mit "Person" übersetzen kann. Ein Beispiel hierfür ist etwa 2 Sam 17,11: ⋅3⋅
"Folgendes ist vielmehr mein Rat: Ganz Israel von Dan bis Beerscheba soll sich um dich scharen, so zahlreich wie der Sand am Meere; וּפָנֶיךָ ["wupanækha"] ... "
also wörtlich: "und dein Angesicht" - und dementsprechend zu übersetzen:
"... und du selbst persönlich in ihrer Mitte ins Feld ziehen." (2 Sam 17,11.)
In dieser Verwendung des Wortes wird deutlich, dass für den Hebräer das "Wesen" eines Menschen am ehesten in seinem Gesicht, in dem was er dem anderen zuwendet, zum Ausdruck kommt.
So heißt es etwa im Buch des Ben Sira:
"Das Herz des Menschen verändert sein Antlitz, sei es heiter, sei es grämlich." (Sir 13,25.)
4. Der Mensch als "animal loquens"
Abgesehen von Begriffen wie "Herz" und "Angesicht" bringt noch ein weiteres Element die Personalität des Menschen in den Blick.
Wäre der Hebräer an einer Definition des Menschen interessiert gewesen, dann hätte er ihn wohl kaum als "vernünftiges Lebewesen", als "animal rationale", beschrieben. Der Hebräer hätte den Menschen wohl "sprechendes Lebewesen" genannt. Das Phänomen des Sprechens ist für ihn mit konstitutiv für den Menschen überhaupt.
Das wird besonders deutlich, wenn man das hebräische Wort für Tier anschaut. Tier heißt im Hebräischen בְּהֵמָה ["behemah"] (Gen 3,14 u. ö.) und etymologisch steckt da die Bedeutung "das Stumme" dahinter.
Nun weiß der Hebräer natürlich auch, dass Tiere kommunikative Laute hervorbringen. Und er hat auch - wie im Deutschen - Worte, die dies ausdrücken:
- die Löwen brüllen (Am 3,4. 8 u. ö.),
- die Vögel singen (Ps 104,12),
- und die Raben krächzen nach Futter (Ps 147,9).
Eines tun Tiere aber trotz allem nicht: sprechen nämlich.
Obschon die Tiere dem Menschen sehr nahe stehen - sie sind wie er am sechsten Tag geschaffen (Gen 1,25) und nach Gen 2,19 sogar auf den Menschen hin -, obschon auch die Tiere von einer נֶפֶשׁ ["næphæsch"] erfüllt sind, sprechen tun Tiere nicht. Das eigentliche Sprechen eignet allein dem Menschen.
Martin Buber nennt den Menschen von daher das "dialogische Wesen".
Sprechen ist für das Alte Testament schlechthin das Wesensband der menschlichen Gemeinschaft und es ist darüber hinaus sogar der wesentliche innere Vollzug des Menschseins. Sogar das Denken ist für den Hebräer - wie wir oben gesehen haben - schließlich sprechen: "Sprechen zu seinem Herzen".
Der biblische Mensch hatte von Haus aus einen Sinn dafür, dass der Mensch nicht nur die Sprache macht, sondern dass auch die Sprache den Menschen macht, dass sie ihn letztlich ausmacht.
In Israel weiß man von daher wie selbstverständlich um den Unterschied von "Ich-Welt", der sprechenden Personwelt, und der "Es-Welt", der Sachwelt.
5. Die Willensfreiheit
Bleibt uns noch ein Merkmal, das wesentlich zur Personalität gehört, nämlich die Freiheit des Menschen, die Entscheidungsfreiheit.
Dieser Punkt scheint etwas schwieriger zu sein, wenn wir auf das Alte Testament blicken. In Stellen, wie etwa in Ex 7,3, scheint von einer Freiheit des Menschen nicht sehr viel zu spüren zu sein. Es heißt dort:
"Ich [= Jahwe] aber werde das Herz des Pharao verhärten und viele Zeichen und Wunder im Land Ägypten wirken." (Ex 7,3.)
Es entsteht hier der Eindruck, als könnte der Pharao gar nicht mehr anders. Die Verhärtung des Herzens ist ein Werk Jahwes. Er musste folglich so handeln, wie er es getan hat.
Das ist aber für den Hebräer nur die eine Seite der Medaille. Es scheint für das Alte Testament keine Notwendigkeit zu sein, die Spannung zwischen menschlicher Freiheit und Wirken Jahwes aufzulösen.
Ein Kapitel später schon kann der Text nämlich dann ohne weiteres sagen:
"Als der Pharao sah, dass man wieder atmen konnte, verhärtete er sein Herz und hörte nicht auf sie, wie Jahwe vorausgesagt hatte." (Ex 8,11.)
Hier ist es ganz eindeutig der Pharao, der sein Herz verhärtet und daher auch voll verantwortlich handelt. ⋅4⋅
Für den Hebräer ist es anscheinend kein Widerspruch, davon zu sprechen, dass der Mensch frei ist, und gleichzeitig darum zu wissen, dass Jahwe in seinem Leben wirkt und in dieses Leben eingreift. Das eine berührt das andere nur bedingt. Es bleibt bei einer von Gott dem Menschen verliehenen Möglichkeit, sich zu entscheiden.
Und letztlich ist dies die Entscheidung für oder gegen Jahwe. Wenn diese Entscheidung einmal gefallen ist, dann ist es für den Hebräer im Grunde zweitrangig, ob die Verhärtung des Herzens, die ja eine Folge der Absage an Jahwe ist, auf ein Eingreifen Gottes oder einen willentlichen Akt des Pharao zurückgeht. Der Pharao hat seine Entscheidung gegen Jahwe getroffen. Und diese Entscheidung macht den Menschen für sein Handeln voll verantwortlich.
Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament spielt diese Entscheidungsfreiheit - und die damit verbundene Verantwortlichkeit und Schuldhaftigkeit - denn auch eine ganz entscheidende Rolle.
Das ganze Deuteronomistische Geschichtswerk ist ja letztlich ein einziger Schuldaufweis des Volkes, der Israel vor Augen führen soll, dass es für seine jetzige Lage voll verantwortlich ist; und zwar deswegen, weil es sich gegen Jahwe gestellt hat.
Die Schrift weiß zwar um die vielen Einschränkungen der Willensfreiheit durch die konkreten Umstände, aber sie widerspricht vehement, wenn man die Entscheidungsfreiheit letztlich zu leugnen versucht.
Von daher ist es zu verstehen, dass die heutigen Juden äußerst heftig reagieren, wenn man bei uns beispielsweise immer wieder fragt, wie Gott denn den "Holocaust" zulassen konnte. Auf dem Boden der Bibel ist es nicht zulässig, Gott für das Handeln der Menschen verantwortlich machen zu wollen.
6. Fazit
Das verweist uns noch einmal darauf, dass das Handeln des Menschen ein vor Gott verantwortetes Handeln sein muss. Wir haben dies bereits ja im Blick auf das Herrschen des Menschen als "Abbild Gottes", gleichsam als Wesir Gottes über Tier und Welt, gesehen. Und hier schließt sich praktisch der Kreis.
In der so anskizzierten Personalität des Menschen kommt nun nämlich erneut zum Aufscheinen, dass Person-Sein mit Abbild-Gottes-Sein zutiefst zusammenhängt. Das Abbild-Gottes-Sein kommt im Person-Sein des Menschen am stärksten zum Ausdruck.
Wir dürfen dabei nur nicht vergessen, dass für den Hebräer - ganz anders als das bei uns oftmals geschieht - Personalität und Individualität nie in eins gesetzt werden können.
Der Mensch ist als Person gleichzeitig dialogisches Wesen. Und damit ist für den Hebräer das "Ich" immer zugleich auch seinshafte Geöffnetheit auf "Du" und "Wir" hin.
Die moderne Versuchung Personalität mit Individualität zu verwechseln und damit Selbstverwirklichung von Solidarität und Gemeinschaftsbe- und -einbezogenheit zu trennen, liegt absolut nicht auf der Linie des alttestamentlichen Menschenbildes.
Anmerkungen