Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Zurück-Button Die Schriftauslegung unter dem Einfluss der historischen Kritik ⋅1⋅

Im Großen und Ganzen stellte sich die christliche Theologie aber den Herausforderungen, die durch die Aufklärung an sie gestellt wurden. Dabei schoss sie in den Anfängen - wie so häufig - wieder einmal über das Ziel hinaus.

In großer Begeisterung über die Gedanken der Aufklärung banden sich viele Theologen - jetzt anscheinend befreit von der überlieferten Autorität der Schrift - allein an die Vernunft. Die Schrift galt manchem Exegeten letztlich als nichts anderes mehr als das, was der Mensch mit Hilfe seiner Vernunft auf die gleiche Art und Weise so gefunden hätte oder hätte finden können. Hier sind etwa die Gedanken Lessings zu vergleichen, die er in seiner Schrift "Über die Erziehung des Menschengeschlechts" niedergelegt hat. Bei dem Exegeten Johann David Michaelis kann man Ende des 18. Jahrhunderts lesen:

"Die Frage, ob die Bücher des NT von Gott eingegeben sind, ist der christlichen Religion nicht völlig so wichtig, als die vorige, ob sie echt sind. Sie steht und fällt nicht schlechterdings mit ihr. Gesetzt, Gott hätte keines der ntl. Bücher inspiriert, sondern Mt, Mk, Lk, Joh, Paulus bloß sich selbst überlassen zu schreiben, was sie wußten, die Schriften wären aber nur alt, echt und glaubwürdig, so würde die christliche Religion die wahre bleiben. Ohnehin setzen wir bei Untersuchung der Wahrheit dieser Wunder gar nicht das göttliche Ansehen der Schrift selber voraus, sondern betrachten sie bloß als menschliches Zeugnis."

Bei einer solchen Auffassung hat die Lehre vom vierfachen Schriftsinn natürlich absolut keinen Platz mehr. Die Bedeutung der Väterexegese nahm immer mehr ab bis hinein ins 20. Jahrhundert. Erst von Theologen wie etwa vor allem Henri de Lubac wurden die Gedanken der großen Kirchenväter wieder neu zugänglich gemacht.

Die Spannung, die zwischen der klassischen Bibeltheologie und der Exegese der Aufklärung entstanden war, wird sehr deutlich, wenn wir jenem Text von Michaelis, den ich gerade zitiert habe, eine Aussage des jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien gegenüberstellen. Philo schreibt über die Inspiration:

"Ein Prophet sagt überhaupt nichts eigenes, sondern er ist nur Dolmetsch, ein anderer gibt ihm alles, was er vorbringt, ein. Solange er in Begeisterung, in Ekstase ist, ist er seiner selbst nicht bewusst, die Vernunft all fort und hat die Bewegung der Seele verlassen. Der Geist aber kommt und macht Wohnung bei ihm und spielt auf dem Organismus der Stimme und bringt die Laute hervor zur deutlichen Anzeige dessen, was er offenbart."

War die Bibel bislang aufgrund solcher Inspirationsvorstellungen mehr oder weniger als ein Block subnaturaler Offenbarungswahrheit verständlich gewesen, so konnte dies angesichts der historischen Kritik nicht länger gelten. Zunehmend musste ein autoritativ vorausgesetztes einem durch kritische Reflexion ausgewiesenen Offenbarungsverständnis weichen. So beginnt mit der Aufklärung die Geschichte die biblische Hermeneutik im Zusammenhang mit der historisch-kritischen Bibelauslegung, die bis heute noch nicht an ihr Ende gekommen ist.

Die historisch-kritische Bibelauslegung entspricht der Einschätzung der Bibel als einer Sammlung von Glaubenszeugnissen, die freilich von Menschen in einer bestimmten historischen Situation auch in zeitbedingter Sprache für Menschen in einer damaligen bestimmten Situation verfasst wurden.

In das Denken dieser Menschen müssen wir selbst im wahrsten Sinne des Wortes über-setzen, um zu verstehen, was der Text in dieser damaligen Situation sagen wollte. Dann können wir den Text übersetzen in den Horizont unserer heutigen Zeit mit ihren Anforderungen und Fragen. Genau dies ist die Aufgabe der Exegese, und dazu will und sollte diese Einleitung die Grundlagen und die Voraussetzungen schaffen.

Zurück-Button Anmerkung

1 Wo nicht anders vermerkt folge ich meinem Lehrer Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.). Zur Anmerkung Button