Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Das einigende Band ⋅1⋅

Nach diesem Blick auf die politische Lage in Palästina zur Zeit Jesu wollen wir uns in folgendem mit der geistig religiösen Lage in Israel beschäftigen. Denn wie Israel in politischer Hinsicht seine Einheit verloren hatte, so war das Volk auch geistig und religiös gespalten. Zwar waren die großen einheitsstiftenden Faktoren noch wirksam - sie spielen auch im Leben Jesu eine nicht unbedeutende Rolle -, doch stellt sich bei näherem Zusehen heraus, dass sie nicht mehr in der Lage waren, das Volk zu einen.

Sehen wir uns diese einheitsstiftenden Faktoren, das Israel einigende Band, zunächst genauer an.

1. Der Name "Israel" zur Zeit Jesu

Als erstes wäre hier bereits der Name "Israel" zu nennen. "Israel" bezeichnete das Gottesvolk. Israelit zu heißen, diesen geheiligten Namen zu tragen, bedeutete, Angehöriger dieses erwählten Volkes zu sein. Das verband und verbindet die Juden untereinander.

Inbegriff und Zentrum dieses geheiligten Volkes wurde die Stadt Jerusalem und der dortige Tempel.

2. Jerusalem

Jerusalem, die heilige Stadt, hatte sich nicht zuletzt durch die Politik Herodes d. Gr. und schon vor ihm, durch die Politik der Hasmonäer, zum geistigen und religiösen Zentrum des Judentums herausgebildet. Die Stadt hatte in der hellenistischen und römischen Zeit gewissermaßen ein internationales Gepräge bekommen. Dies wurde dadurch nur noch unterstützt, dass die Grenzen zum umfangreichen Diasporajudentum fließend geworden waren.

3. Der Tempel

Modell Jerusalems zur Zeit des zweiten Tempels

Modell Jerusalems zur Zeit des zweiten Tempels,
vormals beim "Holyland-Hotel" in Jerusalem.

Foto-Button© Katholisches Bibelwerk Linz, Kapuzinerstr. 84, A-4020 Linz

Hinzu kam, dass es in Jerusalem den Tempel gab, der einzige Ort in der Welt, an dem Jahwe, dem Gott Israels, die gültigen Opfer dar­ge­bracht werden konnten.

Mit Ausnahme gewisser Krei­se - auf die wir nach­her noch zu sprechen kom­men wer­den - wurde das Jeru­salemer Heiligtum als Stätte des Jahwe­kultes von allen respek­tiert.

Für die große Mehrheit des Volkes war das Heiligtum die Stätte der Sühne geblieben. Hier wurde durch den Kult sowohl den Priestern als auch dem ganzen Volk, den Familien, dem einzelnen und dem ganzen Land Reinheit und Heiligung erwirkt. Die verbreitete Anerkennung des Tempels bestärkte dabei die Autorität der Priesterschaft, die den kultischen Dienst ausführte.

a. Die Feste

Im Tempel wurden auch die Feste gefeiert, deren Ordnung durch den liturgischen Jahreskalender geregelt wurde.

(1) Neujahr

Er begann mit dem Neujahrsfest, das im Herbst gefeiert wurde. Die damalige theologische Sinngebung dieses Festtages ist dabei nicht mehr eindeutig fassbar.

Vielleicht war er ursprünglich mit der Vorstellung vom Königtum Jahwes verknüpft, etwa mit dem Gedanken an Jahwes Thronbesteigung, seinen königlichen Einzug ins Heiligtum, wie er in manchen Psalmen noch aufleuchtet. Vielleicht stand aber auch der Gerichtsgedanke im Vordergrund, wie spätere Aussagen nahe legen. ⋅2⋅

(2) Jom Kippur

Die zehn Tage nach dem Neujahrsfest beging man auf jeden Fall als eine Zeit der Umkehr. An ihrem Ende feierte man den "jom kippur", den Versöhnungstag.

An ihm bekleidete sich der Hohepriester mit weißen Gewändern und betrat das Allerheiligste des Tempels. Selbst er durfte nur an diesem Tag diesen hinteren Raum des Tempelgebäudes, der sich hinter dem zweiten Vorhang befand, betreten. Mit dem Blut von Tieren sollte er dort seine Sünden, die Sünden der Priesterschaft und die des ganzen Volkes sühnen.

Am Versöhnungstag war auch das Ritual des Azazel- oder Sündenbockes vorgesehen. Bei diesem Ritus schickte man einen Bock in die Wüste und stürzte ihn von einem Felsen hinab. Damit verbunden war die Symbolik, dass die ganze Sündenlast des Volkes mit diesem Bock in die Wüste geschickt und damit letztlich aus dem Volk ausgemerzt werden sollte.

(3) Laubhüttenfest

Am sechsten Tag nach dem großen "jom kippur", der mehr ein Feiertag für die Priesterschaft als für das Volk war, zelebrierte Israel das Laubhüttenfest. Wegen seiner allseitigen Beliebtheit wurde es mitunter auch schlechthin das Fest genannt. Es wurde rund sieben Tage lang gefeiert.

Ursprünglich war es wohl das Fest der Weinernte, das in den Weingärten gefeiert worden sein dürfte. Von daher rührt wohl auch der Brauch, in Laubhütten zu wohnen, und die ausgelassene Art des Feierns.

Im Laufe der Zeit wuchs diesem Fest als theologischer Inhalt die Erinnerung an die Zeit der Wüstenwanderung, der Generation des Mose, und die Erinnerung an die Landnahme zu.

(4) Das Tempelweihfest

Ein verhältnismäßig junges Fest hingegen war das Tempelweihfest, das dem Gedanken der Wiedereinweihung des Tempels durch Judas Makkabäus gewidmet war. Judas Makkabäus hat den Tempel wieder einweihen lassen, nachdem er unter dem Seleukidenherrscher Antiochus IV. Epiphanes verwüstet worden war.

Dieser Festtag hatte einen ganz besonderen nationalen Charakter. Das wird schon dadurch deutlich, dass der Einweihungstag auf den Verwüstungstag des Tempels gelegt wurde, nämlich auf den 25. Kislev (November / Dezember). Schon Judas Makkabäus hatte die Wiedereinweihung auf diesen Tag terminiert.

Flavius Josephus nennt das Tempelweihfest Lichterfest,

"weil uns wider Erwarten eine solche Freiheit aufleuchtete."

Auch in dieser Aussage werden die nationalen bis nationalistischen Züge dieses Tages deutlich.

(5) Das Pascha

Schließlich gab es das Paschafest mit den ungesäuerten Broten, das in das Frühjahr fiel. Es wurde und wird am 15. Nisan gefeiert.

Das Pascha war das große Wallfahrtsfest, an dem Tausende von Juden aus allen Teilen des Imperiums nach Jerusalem strömten. Sie kamen, um der Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft zu gedenken, eine Erinnerung, die gleichfalls geeignet sein musste, den Gedanken an eine nationale Befreiung zu stärken.

(6) Das Wochenfest

Das fünfzig Tage nach dem Pascha gefeierte Wochenfest, das Pfingstfest, war das Erntedankfest zum Abschluss der Getreideernte.

Später verband man mit diesem Festtag den Gedanken an die Gesetzgebung auf dem Sinai.

b. Der Tempelgottesdienst

Zu jedem dieser Feste gehörte eine spezielle Opferhandlung im Tempel in Jerusalem. Aber die Opfer waren nicht nur auf die Festtage beschränkt. Täglich wurden im Heiligtum Opfer dargebracht. Am Morgen, bald nach Sonnenaufgang, war es das Morgenopfer, am frühen Nachmittag das Abendopfer.

Dazwischen geschaltet gab es die verschiedensten Gebetszeiten, zu denen man im Tempel zusammenkam, so wie auch Jesus und auch noch nach Ostern die Jünger anscheinend immer wieder in den Tempel gegangen sind, um dort zu beten.

4. Der Synagogengottesdienst

Diese Gottesdienste, vor allem aber die Opfergottesdienste waren auf den Tempel in Jerusalem konzentriert. Opfer gab es nur im Heiligtum in der Davidstadt. Außerhalb Jerusalems versammelten sich die Juden zum Gottesdienst in den Synagogen, insbesondere am Sabbat, um den wöchentlichen Ruhetag zu begehen. Dies geschah durch Gebet, Anhören des Schriftwortes und in der Predigt. In den Synagogen entwickelte sich also ein reiner Wortgottesdienst.

Die in den Synagogen auftretenden Prediger übten dabei einen tiefgreifenden Einfluss auf das Bewusstsein und die Mentalität des Volkes aus.

Dieser kultlose Gottesdienst, der die Gemeinden in der Diaspora geprägt hatte, wurde zum Vorbild des späteren christlichen Gottesdienstes.

5. Religiöses Leben in der Familie

Einen fest verankerten Platz besaß die jüdische Religiosität im Haus und in der Familie, wo man die häuslichen Feste und vor allem den Sabbat feierte.

Die Sabbatfeier beschränkte sich dabei keinesfalls auf den Gottesdienstbesuch in der Synagoge, sondern wurde zuhause vorbereitet und fortgesetzt.

War der Beginn des Sabbatabends in Jerusalem durch Posaunenstöße und auf dem Land durch Ausrufen verkündet worden, zündete man im Haus die Sabbatlampe an, vertauschte das Alltagsgewand mit dem guten Kleid und setzte sich zu Tisch, um das Vorabendmahl des Sabbats einzunehmen.

Der Sabbat war ein Zeichen der Erwählung Israels und darum auch sinnenfälliges Zeichen seiner Einheit.

Jegliche Arbeit war verpönt und untersagt. Aber das führte nicht etwa zu einem langweiligen und traurigen Tag, wie Christen manchmal annehmen. Der Sabbat wurde in Freude begangen. Man ahmte die Sabbatruhe des Schöpfers nach, der am siebten Tag nach seinem Schöpfungswerk ausgeruht hatte.

Bei der Mahlzeit an diesem Tag sollte man des Bedürftigen, des müden Wanderers oder des Bettlers gedenken und ihn zu Tisch laden.

Im Buch der Jubiläen liest man, nachdem strikte Weisungen für die Sabbatruhe gegeben sind, die Aufforderung:

"Feiert Sabbat und preist den Herrn, euren Gott, der euch einen Festtag und heiligen Tag verlieh! Ein Tag des heiligen Königtums für ganz Israel ist dieser Tag für immer." (Jubiläenbuch 50,9.)

6. Die Bedeutung der Schrift und des Gesetzes

Im Zusammenhang mit dem Synagogengottesdienst, aber auch im Blick auf die Feiern in der Familie kann man bereits erahnen, welchen Stellenwert die Schrift in Israel im Laufe der Zeit eingenommen hatte. Die Bibel war gemeinsamer Besitz Israels.

Das Gesetz des Mose hatte sich dabei einen besonderen Rang erworben. Es war zur obersten Instanz geworden. Von daher ist auch klar, dass die Auslegung des Gesetzes fortan das umstrittenste religiöse Problem war.

  • Welche Interpretation war die richtige?
  • Bedurfte es zusätzlicher Einsichten, um seinen wahren Sinn zu erfassen?
  • Und waren weiterführende Auslegungsbestimmungen erforderlich, um dem Willen Jahwes zu entsprechen?

Weil das Gesetz den Weg zum Heil wies, waren diese Fragen von einem eminenten theologischen Gewicht.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Joachim Gnilka, Jesus von Nazareth (Herders Theologischer Kommentar zum NT - Supplementband 3) (Freiburg/Basel/Wien 1990) 51-74. Zur Anmerkung Button

2 Nach jüdischer Überlieferung sitzt Gott am Neujahrstag über alle zu Gericht, die in die Welt kommen sollen (Vgl.: Pesikt 189a). Zur Anmerkung Button