Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Vergleich des Matthäus- mit dem Markus-Evangelium ⋅1⋅
1. Formale Unterschiede zwischen Markus und Matthäus
Wenn wir das Matthäus-Evangelium formal mit dem Markus-Text vergleichen, dann fällt auf, dass Matthäus zwar auch noch unter dem Einfluss des Aramäischen steht, aber weit glatter und korrekter formuliert. Auch ist er nicht so ausmalend, wie seine Markus-Vorlage.
Neben dem schon erwähnten klaren, katechetischen und systematischen Aufbau im Wechsel von Rede- und Erzählpartien fallen folgende Merkmale des matthäischen Stils besonders auf:
- Die Texte werden bei Matthäus unter einem sachlichen Thema zusammengestellt Dadurch werden regelrechte Redekomplexe erst geschaffen. Sie werden zudem bearbeitet und erhalten vielfältige Bezüge.
- Auffallend ist eine schon beinahe penible Genauigkeit des Matthäus:
So werden in Mt 21,1-11 beispielsweise die Tiere verdoppelt. Da in Sach 9,9 beim Einzug des Friedenskönigs von einem Esel und einem Jungesel die Rede ist, lässt Matthäus Jesus auch auf zwei Eseln in Jerusalem einreiten. - Einprägsame Formulierungen werden wiederholt.
- Und immer wieder tauchen schematische Zahlen auf:
- 7 Gleichnisse in Mt 13,
- 10 Wundergeschichten in Mt 8-9,
- 7 Weherufe gegen die Pharisäer in Mt 23
und 3 mal 14 Generationen beim Stammbaum. - Die Wundergeschichten werden bei Matthäus immer wieder mit stereotypischen Formulierungen begonnen und abgeschlossen.
- Und darüber hinaus verwendet er häufig Reflexionszitate, d. h. alttestamentliche Zitate, die durch Einführungsformeln abgehoben sind. Mit ihnen möchte er zeigen, dass Jesus das Ziel der alttestamentlichen Offenbarung ist (vgl. Mt 21,4 mit Sach 9,9).
2. Sachliche Änderungen gegenüber Markus
Auffallend ist auch, dass Matthäus selbst sachliche Änderungen am Markus-Text vornimmt.
a. Kürzung von Heilungswundern
So werden von ihm die Heilungswunder oft gekürzt. Er gleicht sie dadurch den Streit- und Schulgesprächen an.
b. Die Person Jesu und der Glaube
Er schematisiert die Heilungen dadurch aber auch. Einzelzüge werden fast ganz beseitigt. So wird der Nachdruck von Matthäus viel deutlicher auf die Person Jesu gelegt, von dem es mehrfach heißt, dass er
"alle Krankheiten und alle Schwäche im Volk heilte." (Mt 4,23; 9,35.)
Matthäus betont durch seine Eingriffe aber auch stärker, dass der Glaube allein Voraussetzung für die Heilung ist. Aus Mk 7,29
"Er antwortete ihr: Weil du das gesagt hast, sage ich dir: Geh nach Hause, der Dämon hat deine Tochter verlassen." (Mk 7,29.)
wird bei Matthäus:
"Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt" (Mt 15,28.)
Die Bedeutung des Glaubens dieser Frau wird durch die Änderung bei Matthäus also herausgestrichen.
Vielleicht lässt Matthäus die beiden Heilungen von Mk 7,31-37, wo Jesus einen Taubstummen heilt, ohne dass etwas vom Glauben dieses Mannes geschildert wird, und Mk 8,22-26, wo die Heilung eines Blinden unter ähnlichen Umständen erzählt wird, genau deshalb weg. Beide Heilungserzählungen boten ihm offenbar keine Anknüpfungspunkte für diese theologische Interpretation.
c. Jesus, der erhöhte Herr
Durch diese Änderungen tritt Jesus bei Matthäus insgesamt viel hoheitlicher auf, als bei Markus. Die Person Jesu wird von Matthäus also stärker dem Glauben an den erhöhten Herrn angeglichen.
(1) Gemütsbewegungen
Zu diesem Bild Jesu passen natürlich Gemütsbewegungen wenig, die Markus in seinem Evangelium schildert. Matthäus lässt sie dementsprechend bei der Aufnahme seiner Markusvorlage Mk 1,41 auch weg. Aus ...
"Jesus hatte Mitleid mit ihm; er streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein!" (Mk 1,41.)
... wird bei Matthäus ...
"Jesus streckte die Hand aus, berührte ihn und sagte: Ich will es - werde rein!" (Mt 8,4.)
Das Sprechen vom Mitleid Jesu wird bei Matthäus also getilgt.
Und aus Mk 10,14
"Als Jesus das sah, wurde er unwillig und sagte zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes." (Mk 10,14.)
wird bei Matthäus:
"Doch Jesus sagte: Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Himmelreich." (Mt 9,14.)
Vom Unwillen Jesus ist bei Matthäus also keine Spur mehr zu entdecken.
(2) Anstößige Züge
Auf der gleichen Linie liegt es, wenn Matthäus anstößige Züge aus dem Jesus-Bild des Markus-Evangeliums ganz einfach tilgt. Wenn in Mk 3,21 die Rede davon war, dass Jesus "außer sich" gewesen ist. Dann lässt Matthäus diesen Hinweis ganz einfach weg.
Und aus Mk 6,5:
"... und er konnte dort auch nicht eine Machttat tun." (Mk 6,5.)
wird dann bei Matthäus die deutlich abgeschwächte Formulierung:
"... und er wirkte dort nicht viele Machttaten." (Mt 13,58.)
Solche Äuffälligkeiten müssen natürlich die Frage heraufbeschwören, warum Matthäus so etwas macht. Was veranlasst ihn, dazu die Konturen des erhöhten Herrn in der Geschichte Jesu von Nazaret weit stärker herauszuarbeiten, als dies seine Vorlage getan hat?
Damit sind wir bei der Frage nach der theologischen Intention des Matthäus angelangt.
Anmerkung