Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Ester ⋅1⋅
- 1. Das Thema des Buches
- 2. Die Anfeindung der Juden und die Vernichtung der Feinde
- 3. Zur Textkritik des Ester-Buches
- 4. Die Abfassungszeit
- 5. Das Purim-Fest
- 6. Die Intention des Buches
Auch das Buch Ester ist eine aus wechselnden Einzelszenen aufgebaute Novelle. Hier ist es mit Rut, dem Büchlein Jona oder auch dem deuterokanonischen Judit-Buch vergleichbar.
1. Das Thema des Buches
Das Buch Ester erzählt von der Befreiung des Volkes Israel durch die Vermittlung einer Frau.
Die Geschichte des Ester-Buches spielt am persischen Hof in Susa. Sie beginnt mit einem Bericht darüber, dass der Perserkönig Ahaschwerosch seine Gemahlin Waschti verstößt, weil sie sich weigert, bei einem Gastmahl zu erscheinen (Est 1).
Ahaschwerosch ist dabei der hebräische Name für (Arta-)Xerxes. Gemeint ist in diesem Zusammenhang Xerxes I. der von 485-465 v. Chr. regierte.
Unter allen schönen Jungfrauen des Landes wird nun eine Nachfolgerin für Königin Waschti gesucht. Dabei gewinnt Ester die Gunst des Königs.
Der Name Ester ist im übrigen ein persischer Name. Ester heißt eigentlich mit ihrem hebräischen Namen "Hadassa", was wohl soviel wie "Myrthe" bedeutet. Sie ist eine jüdische Waise und lebt bei ihrem Onkel und Vormund Mordechai.
Ester wird nun Königin.
Ihrem Onkel Mordechai gelingt es etwas später, den König vor einer Verschwörung zu warnen. Diese Tat wird in der Folge aufgeschrieben.
Mordechai fällt aber dennoch in Ungnade, weil er den Kniefall vor dem Günstling des Königs, dem allmächtigen Wesir Haman, verweigert. Haman ist dabei auffälligerweise kein Perser, sondern ein Agagiter, d. h. ein Angehöriger des mit Israel verfeindeten Königsgeschlechts der Amalekiter (vgl. Ex 17,8ff; 1 Sam 15).
Die Folge der Weigerung Mordechais ist, dass alle in Persien lebenden Juden durch den Hass Hamans, von der Ausrottung bedroht sind.
Dank des Eingreifens von Königin Ester wandelt sich die Lage aber vollständig zum Guten: Haman wird seiner schändlichen Absicht überführt und hingerichtet, der König erinnert sich an die Verdienste Mordechais und gibt ihm die Stellung, die zuvor Haman bei Hof innehatte.
Ester gibt sich nun als Jüdin zu erkennen und erwirkt die Erlaubnis, dass die Juden ihre Feinde umbringen dürfen. So geschieht es am 13. Adar und am folgenden Tag, wie Est 9,1-19 berichten. Es folgt also ein schreckliches Blutbad unter den Feinden der Juden.
Zur Erinnerung an diesen Sieg wird das Purim-Fest eingesetzt und die Juden werden ermahnt, es alljährlich zu feiern.
2. Die Anfeindung der Juden und die Vernichtung der Feinde
Einerseits ist das Ester-Buch so eine anschauliche Erzählung über die Feindseligkeit, die den Juden in der antiken Welt begegnete.
Es gab bereits hier nämlich einen ausgeprägten Judenhass, der in der besonderen Lebensweise der Juden seinen Ursprung hatte. Diese Lebensweise brachte das Volk Israel immer wieder in Konflikt mit den Gesetzen der jeweiligen politischen Macht. ⋅2⋅
Der übersteigerte jüdische Nationalismus, der im Ester-Buch - aber auch an anderen Stellen der Bibel - begegnet, ist zunächst einmal durchaus als eine Art Gegenwehr verständlich. Er ist eine Reaktion der Verteidigung.
Andererseits bleibt ein bitterer Beigeschmack bei der Schilderung der Massenabschlachtung der Feinde, so wie sie im Ester-Buch dargestellt ist.
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es aus diesem Grund bereits im frühen Judentum Zweifel gab, ob das Buch überhaupt als kanonisch gelten könne. ⋅3⋅
Im Christentum setzte dann erst recht eine Diskussion über die Kanonizität des Ester-Buches ein, doch hat sich die Tradition schließlich durchgesetzt.
Sicherlich muss man - ähnlich wie etwa bei den Landnahmeberichten - den Anteil der literarischen Konvention berücksichtigen: Solche Haremsintrigen, wie sie im Ester-Buch geschildert werden, und auch solche Massenabschlachtungen sind nicht zuletzt ein literarisches Stilmittel. Sie dienen der dramatischen Einkleidung einer These, die hinter dieser Folie dennoch durchaus religiöser Art sein kann.
3. Zur Textkritik des Ester-Buches
Bevor wir hier nun weiterfragen, ist es notwendig, einen Blick auf die Textgestalt des Ester-Buches zu werfen. Der Text dieser Erzählung wirft nämlich eine ganze Reihe von Problemen auf.
a. Zwei Fassungen des Textes
Das hängt damit zusammen, dass uns das Buch in zwei Fassungen überliefert ist:
- in einer Kurzform, der masoretischen (hebräischen) Fassung,
- und in einer Langform, der griechischen Fassung,
Hinzu kommt, dass es vom griechischen Text wieder zwei verschiedene Fassungen gibt:
- Den gewöhnlichen Typ der Septuaginta (G)
- und den hiervon abweichenden Typ, der auf Lukian von Antiochien zurückgeht (GL).
Die griechische Übersetzung fügt an einigen Stellen dem hebräischen Text mehr oder minder umfassende Ergänzungen zu.
Auffallend hierbei ist, dass diese griechischen Zusätze insgesamt auf einen frömmeren Ton gestimmt sind als der hebräische Text. Sie sprechen deutlicher aus, was der hebräische Verfasser ansonsten nur ahnen lässt.
Hieronymus hat bei der lateinischen Übersetzung des Ester-Buches diese Zusätze bereits berücksichtigt. Aber er hat den hebräischen Text fortlaufend übersetzt und die Zusätze dann hinten angestellt. Die Vulgata zählt die griechischen Zusätze daher als Est 10,4-16,24.
Heutige katholische Bibelausgaben bringen die griechischen Ergänzungen gewöhnlich an den Stellen, an denen sie auch im griechischen Text stehen. Sie zählen sie dabei - im Unterschied zu den hebräischen Passagen mit eigener Verszählung nach Buchstaben.
Die evangelische Tradition scheidet diese Stellen als apokryph ganz aus dem Text aus.
b. Übersicht ⋅4⋅
Im folgenden Überblick wurden die griechischen Teile kursiv gesetzt. Die Verszählung der Vulgata wurde dabei in Klammern hinten angefügt.
in G zwischen Est 3,13 und Est 3,14 eingefügt (Est 13,1-7 [V])
in G zwischen Est 4,8 und 4,9 eingefügt (Est 15,1-3 [V])
(Est 15,4-15 [V])
(Est 15,16-19 [V])
in der griechischen Version vor Est 8,13 eingefügt (Est 16,1-24 [V])
(.3A-3L)
4. Die Abfassungszeit
Die griechische Übersetzung des Ester-Buches mit ihren Zusätzen existierte nachweislich bereits im Jahre 114 v. Chr. Die Bemerkung in Est 10,3L macht deutlich, dass diese Übersetzung damals nach Ägypten geschickt wurde, um die Feier des Purim-Festes zu rechtfertigen.
Es heißt dort nämlich:
"Im vierten Jahr der Regierung des Ptolemäus und der Kleopatra brachte Dositheus, der von sich behauptete, er sei ein Priester und Levit, und sein Sohn Ptolemäus den voraufgehenden Purim-Brief, dessen Richtigkeit sie bezeugten, und den Lysimachus, der Sohn des Ptolemäus von den Bewohnern Jerusalems, übersetzt habe." (Est 10,3L.)
Der hebräische Text ist dann dementsprechend älter. Nach 2 Makk 15,36 feierten die Juden Palästinas schon im Jahre 160 v. Chr. einen "Mordechaitag". Dieses Fest setzt die Geschichte der Ester vermutlich bereits als bekannt voraus.
Wahrscheinlich war der hebräische Text, um diese Zeit, also bereits um das Jahr 160 v. Chr., vorhanden. Das Buch wäre dann im zweiten Viertel des zweiten Jahrhunderts v. Chr. verfasst worden.
Vielleicht setzt die Stelle in 2 Makk 15,36 mit der Erwähnung des Mordechaitages aber nur eine Vorstufe des heutigen Ester-Buches voraus. Die Abfassung des heutigen hebräischen Textes wäre dann dementsprechend später - jedoch deutlich vor 114 v. Chr. - zu denken.
5. Das Purim-Fest
Fraglich ist nämlich, ob die ursprüngliche Ester-Erzählung schon von Anfang an mit dem Purim-Fest in Verbindung stand. Interessanterweise spricht 2 Makk 15,36 ja von einem "Mordechaitag", aber nicht von einem "Purim-Fest".
Auch ist der Abschnitt Est 9,20-32, der das Purim-Fest offiziell einführt, in einem anderen Stil gehalten als die übrigen Abschnitte des Ester-Buches. Er könnte also durchaus ein späterer Zusatz sein.
Möglicherweise ist das Ester-Buch erst nachträglich zur Legende des Purim-Festes geworden.
Die Anfänge dieses Festes liegen im Dunkeln. Man vermutet, dass es von Israel aus dem persischen Raum übernommen wurde. Dort war es wohl eine Art Neujahrsfest.
Der Name Purim wird in Est 3,7 mit dem Wort "Los" erklärt. Vielleicht fand im persischen Raum am Neujahrstag eine Art Schicksalsbestimmung durch das "Los" statt, ähnlich vielleicht - um ein Beispiel zu gebrauchen - unserem Bleigießen.
Dieses persische Fest wäre dann, ohne seinen ursprünglichen Sinngehalt, von den Juden übernommen worden. Es war ein ausgesprochen "profanes" Fest, das durch Freude sowie durch Verteilung von Geschenken an Freunde und Arme (Est 9,18-19. 22; ⋅5⋅ geprägt war.
Vielleicht hat man diesem Fest durch die Ester-Geschichte nun einen neuen Inhalt geben wollen.
Das ist durchaus möglich. Die Ester-Erzählung trägt nämlich ebenfalls einige Züge, die in den persischen Raum weisen.
- Der Name Ester bedeutet in der persischen Sprache "Stern" und könnte mit der Göttin "Ischtar" zusammenhängen.
- Hinter dem Namen Mordechai könnte sich der Name eines "Mardukverehrers" verbergen.
- So könnte die Ester-Erzählung ursprünglich durchaus eine persische Erzählung gewesen sein, die gleichzeitig mit dem Purim-Fest nach Israel kam. Dort wurden beide dann instinktiv miteinander verbunden. Das spätere Ester-Buch wurde damit zur heutigen Festtagslegende des Purim-Festes.
So gehört das Ester-Buch heute auch zu den fünf מְגִלּוֺת ["megillot"], den fünf "Rollen", die man an den Hauptfesten las. Selbstverständlich wurde das Buch Ester dabei am Purim-Fest verlesen.
6. Die Intention des Buches
Das Buch Ester erwähnt in seinem hebräischen Textbestand den Namen Jahwe an keiner Stelle. Dennoch ist Gott in diesem Buch präsent.
Der Aufstieg Mordechais und Esters und die Rettung des Volkes, die daraus resultiert, erinnert an die Geschichte Daniels, vor allem aber an die Geschichte Josefs.
Auch Josef war zuerst versklavt, kam dann aber zu Ehren und brachte seinem Volk dadurch letztlich Heil. Dabei offenbart auch in der Josefserzählung der Genesis Gott seine Macht nicht auf äußere Weise. Er lenkt das Geschehen im Stillen, im Verborgenen.
Ebenso führt im hebräischen Buch Ester, die Vorsehung allen Umschwung des Geschehens herbei. Die Handelnden wissen es und setzen all ihr Vertrauen auf Gott. Dabei kommt die Überzeugung zum Tragen, dass Gott diesen Rettungsplan auf jeden Fall verwirklicht. Er braucht zwar den Menschen als Werkzeug, selbst wenn aber das menschliche Werkzeug, das er erwählt hat, versagt, wird Gott seinem Plan zum Erfolg verhelfen. Dies bringt Est 4,13-17, ein Schlüsseltext des ganzen Buches, zum Ausdruck:
"Mordechai sagte, man solle Ester zurückmelden: "Denk in deinem Herzen ja nicht daran, du würdest allein von allen Juden dank des königlichen Hauses gerettet! Vielmehr, wenn du dich in dieser Zeit in Schweigen hüllst, wird den Juden Errettung und Befreiung von einem anderen Orte erstehen. Du aber und das Haus deines Vaters werden untergehen. [...]" (Est 4,13-14.)
Anmerkungen
(Vgl.: Alfons Deissler, Anton Vögtle (Hrsg.), Neue Jerusalemer Bibel (Freiburg / Basel / Wien 1985) 596.)