Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Deutero-Jesaja ⋅1⋅

Wir haben bereits angedeutet, dass in den Kapiteln 40-55 des Jesaja-Buches ein anderer Verfasser als Jesaja anzunehmen ist. Während Jes 1-39 die Zeit des Untergangs Samariens vor Augen hat, also im 8. Jahrhundert v. Chr. anzusiedeln ist, erwartet der Verfasser von Jes 40-55 bereits das Ende des babylonischen Reiches (Jes 43,14; 46-47) und den Aufstieg des Persers Kyrus (Jes 44,26-27 u. a.). Wir befinden uns also bereits in der Endphase des babylonischen Exiles; gut zweihundert Jahre nach Jesaja also.

Auf den Verfasser von Jes 40-55 müssen wir also nun zu sprechen kommen.

1. Zur Person des Deutero-Jesaja

Jes 40-55 enthält die Predigt eines dem Namen nach unbekannten Propheten. Er führt die Theologie des Jesaja offensichtlich weiter und ist wie dieser ein großer Prophet.

Da er ansonsten unbekannt bleibt, hat ihm die Forschung den Verlegenheitsnamen Deutero-Jesaja, also "zweiter Jesaja", gegeben.

2. Zum geschichtlichen Hintergrund

Nicht nur zur Person des Propheten machen Jes 40-55 keine Angaben, auch Orts- oder Zeitangaben fehlen völlig. So kann der Raum und die Zeit des Wirkens des Deutero-Jesaja nur erschlossen werden.

Als Ergebnis der Untersuchungen am Jesaja-Buch kann man mit Abstrichen folgendes festhalten:

Während Ezechiel in der Frühzeit des Exils auftrat, fällt die Tätigkeit Deutero-Jesajas in die Endphase der Exilszeit.

Für Jes 41,2-3. 25 und Jes 45,1ff könnte der Sieg des Perserkönigs Kyrus über den Lyderkönig Krösos im Jahre 546 v. Chr. den Hintergrund abgeben. Die Einnahme Babylons selbst im Jahre 539 v. Chr. durch Kyrus scheint allerdings noch nicht stattgefunden zu haben. ⋅2⋅

So kann man also sagen, dass Deutero-Jesaja in Babylon wohl in der Zeit zwischen 550 v. Chr und 540 v. Chr. predigte. Das war die Zeit zwischen den ersten Siegen des Kyrus, die den Zusammenbruch des babylonischen Reiches bereits erahnen ließen, und dem Befreiungs-Edikt von 538 v. Chr., das dann die ersten Rückwanderungen der Israeliten nach Palästina erlaubte.

3. Überblick ⋅3⋅

Deutero-Jesaja redet zu den Israeliten im Exil, dem "Rest des Hauses" Israel (Jes 46,3). Er tritt auf in einer Zeit der Hoffnungslosigkeit.

So ist sein Schicksal gar nicht so viel anders als das der Gerichtspropheten: Sie verkündeten das Gericht und man glaubte ihnen nicht. Deutero-Jesaja nun spricht von der Heilswende und das Volk bleibt wieder "blind" und "taub" (Jes 42,18ff; 43,8). ⋅4⋅

Ganz grob gezeichnet kann man seine Botschaft folgendermaßen gliedern:

Jes 40
Prolog. Berufungs"vision" (Jes 40,1-8. 9-11)
Gottes Unvergleichlichkeit. Disputationsworte (Jes 40,12-31)
Jes 41,8ff; 51
Abraham
Jes 44
Geistausgießung (Jes 44,1-5). Bilderpolemik (Jes 44,9ff)
Jes 41; 44,24ff; 45,1-7
Kyrus
Jes 46-47
Babels Fall. Spottlied (Jes 47)
Jes 42; 49; 50; 53
Gottesknechtlieder
Jes 51,9ff
"Wach auf, Arm Jahwes!" Klage und Gottes Antwort.
Jes 52,7-10
Eschatologisches Thronbesteigungslied (vgl. Ps 47; 93; 96-99)
Jes 54
Noachbund (Jes 54,9-10)
Jes 55
Davidverheißung (Jes 55,3ff). Epilog
"Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken."

Die Sammlung zeigt, ohne aus einem Guss verfasst zu sein, eine größere Einheitlichkeit als die Kapitel 1-39.

Sie beginnt mit einem Text, der einem prophetischen Berufungsbericht entspricht (Jes 40,1-11). Nach den ersten Worten dieses Berichtes "Tröstet, tröstet mein Volk" (Jes 40,1), nennt man das Buch des Deutero-Jesaja auch das "Trostbuch Israels".

4. Zur Theologie des Deutero-Jesaja

Mit dem Begriff "Trostbuch" ist dann auch schon bereits das Hauptthema des Deutero-Jesaja umschrieben.

Die Prophetenworte von Jes 1-39 waren im allgemeinen Drohworte, voller Anspielungen auf die Ereignisse während der Regierung des Ahas und König Hiskijas.

Die Worte von Jes 40-55 gehören in einen anderen geschichtlichen Zusammenhang: Es sind Worte des tröstenden Zuspruchs.

Das Gericht hat sich durch die Zerstörung Jerusalems vollzogen, nun aber ist die Zeit der Wiederherstellung nahe.

a. Die Heilsbotschaft des Deutero-Jesaja

Eine völlige Erneuerung wird geschehen. Jahwe ist es, der dem Volk nun neues Heil schafft. Er nämlich bildet Licht und Finsternis, Heil und Unheil (Jes 45,7).

Hier wird das Thema von Gott als Schöpfer, der Licht und Finsternis bildet, mit dem Thema von Gott als dem Retter verbunden. Diese Verbindung hebt bereits die Bedeutung dieses Gedankens hervor.

Neben dem Vergleich der Rettung mit einer neuen Schöpfung verbindet Deutero-Jesaja auch den Exodus-Gedanken mit dem zukünftigen Heil, das von Jahwe ausgeht. Gott wird sein Volk in einem neuen Exodus, wunderbarer als der erste, zu einem neuen Jerusalem führen, schöner als das erste.

Die Heimkehr nach Jerusalem und der Wiederaufbau der Stadt ist das Ziel des Auszuges (Jes 49,16-17; 51,3. 11; 54,11ff u. a.) und damit auch ein weiteres wichtiges Thema der Heilsbotschaft des Deutero-Jesaja. Am Ort der Herrschaft Gottes, nämlich Jerusalem, wird wieder die Wohnung seiner Gemeinde sein (vgl. Jes 52,1).

b. Beginnende Eschatologie

Auffallend ist in diesem Zusammenhang die immer wiederkehrende Unterscheidung von zwei Zeiten. Deutero-Jesaja redet von der "vergangenen", der Unheilszeit, und der "künftigen", der Heilszeit.

Von dieser künftigen Zeit spricht er in einer leidenschaftlichen Sprache von prägnanter Kürze; sie steht nämlich unmittelbar bevor. Deutero-Jesaja ist überzeugt von der drängenden Nähe des Heils.

Diese immer wieder durchbrechende Unterscheidung von vergangener Zeit und künftiger Heilszeit bei Deutero-Jesaja kennzeichnet im übrigen bereits den Beginn der Eschatologie, jener intensiven Beschäftigung mit dem Kommenden, dem endgültigen Durchbruch des Heils, wie er dann in der Reich-Gottes-Botschaft Jesu einen Höhepunkt erfährt.

Im Vergleich zum ersten Jesaja (Proto-Jesaja) liegt hier bei Deutero-Jesaja also ein theologisch viel stärker ausgearbeitetes Denken vor.

c. Zum Gottesbild von Deutero-Jesaja

Das spürt man auch in der Art, wie Deutero-Jesaja von Gott spricht.

Wenn man vielleicht auch noch nicht davon ausgehen kann, dass Deutero-Jesaja im Sinne eines konsequenten "Monotheismus" die Existenz anderer Götter schlechthin leugnet, so nimmt der Monotheismus bei ihm doch immer deutlichere Formen an.

Die Nichtigkeit der falschen Götter wird durch ihre Ohnmacht immer wieder herausgestrichen:

"Sie (die anderen Götter) mögen nähertreten und uns künden, was sich ereignen wird. Das Frühere - was haben sie davon kundgetan, damit wir es im Auge behalten? Oder was noch kommen wird, das lasst uns hören, dass wir auf seinen Ausgang merken. Verkündet, was in Zukunft sich ereignen wird, damit wir erkennen, dass ihr Götter seid. Ja, tut irgend etwas, damit wir staunen und schauen allesamt. Seht da, ihr seid ein Nichts, und euer Tun ist nichtig; ein Gräuel ist, wer euch erwählt." (Jes 41,22-24.)

Gegen dieses Unvermögen dieser vermeintlichen Götter bemüht sich Deutero-Jesaja um so mehr die unerforschliche Weisheit und Vorsehung Gottes herauszustellen. Jahwe, ist nämlich nicht nur der einzige Gott, er ist ein mächtig waltender Gott.

d. Religiöser Universalismus

Und dieses Walten Jahwes gilt nicht nur Israel, es gilt allen Völkern der Erde. Zum ersten Mal gewinnt hier, in den Aussagen Deutero-Jesajas, ein religiöser Universalismus klaren Ausdruck.

Das Heil bleibt nämlich keineswegs auf die unmittelbar Betroffenen beschränkt. Es geschieht sichtbar vor aller Welt (Jes 40,5; 52,10), ja, bezieht die Völker mit ein.

Deutero-Jesaja erwartet demnach von der Zukunft, dass alle Völker der Erde die Wahrheit Gottes einsehen und Jahwe als Gott anerkennen, was auch bei Deutero-Jesaja letztlich natürlich nur durch die Vermittlung Israels geschehen wird:

"... Vor mir wird sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird bei mir schwören und sagen: Nur in Jahwe ist Heil und Kraft! Zu ihm kommen tief beschämt alle, die wieder ihn geeifert haben. In Jahwe aber werden siegreich und ruhmvoll sein alle Nachkommen Israels." (Jes 45,23-25.)

e. Die Messianologie

Wichtig ist noch, dass die Tradition von der Davidsherrschaft und dem Königtum bei Deutero-Jesaja aufgespalten werden. "König" ist nur noch Jahwe selbst (Jes 52,7).

Der Titel "Gesalbter" bleibt nun allein dem Perser Kyrus vorbehalten (Jes 45,1). Er ist es, der von Gott erwählt wurde, dem Volk Rettung zu verschaffen.

Die Natansverheißung von 2 Sam 7 überträgt Deutero-Jesaja auf das Volk als Ganzes (Jes 55,3). In sofern spielt die Messiasverheißung bei ihm nicht die Rolle, wie bei anderen Propheten.

Der Frage nach dem Messias begegnen wir erst, wenn wir die Gottesknechtslieder betrachten.

f. Die Gottesknechtslieder

Diese vier Gedichte, die im Werk des Deutero-Jesaja eingebettet sind, die sogenannten "Gottesknechtslieder", sind von ausgesprochener Bedeutung.

Sie bilden eine selbständige und in sich zusammenhängende Schicht im Werk des Deutero-Jesaja. Das heißt, man kann sie direkt aus dem Buch herauslösen und als eigenen Komplex betrachten.

(1) Der Inhalt

Die Gottesknechtslieder berichten von einem vollkommenen Jünger Jahwes. Er sammelt Jahwes Volk und ist gleichzeitig das Licht der Völker schlechthin. Er predigt den wahren Glauben und sühnt letztlich durch seinen Tod die Sünden des Volkes. Deshalb wird er am Ende von Gott verherrlicht.

(2) Die Abgrenzung

Die Abgrenzung dieser vier Gottesknechtslieder ist nicht ganz unumstritten. Mit Abstrichen kann man sie allerdings folgendermaßen eingrenzen:

  1. Jes 42,1-4 (5-9)
  2. Jes 49,1-6 [7-13⋅5⋅
  3. Jes 50,4-9 (10-11)
  4. Jes 52,13-53,12

(3) Von wem stammen die Gottesknechtslieder?

Diese Texte gehören zu den am intensivsten erforschten und am meisten umstrittenen des ganzen Alten Testamentes. Weder über ihren Ursprung noch über ihre Bedeutung herrscht Übereinstimmung.

Am wahrscheinlichsten dürfte es sein, dass die ersten drei Lieder auf Deutero-Jesaja selbst zurückgehen. Das vierte könnte das Werk seiner Schüler sein.

(4) Wer ist der Gottesknecht?

Am meisten diskutiert worden ist wohl die Frage, wer mit diesem עֶבֶד יְהוָה ["<æbæd jahwe"], diesem Gottesknecht, wohl gemeint ist. Ist es eine reale oder eine fiktive Gestalt? Eine Gestalt der Vergangenheit oder der Zukunft?

  • Eine Möglichkeit der Erklärung ist, dass man im Gottesknecht eine Personifikation Israels sieht. Die Gemeinde Israels würde dementsprechend symbolisch als Gottesknecht angesprochen. Dafür würde sprechen, dass an anderen Stellen im Werk Deutero-Jesajas Israel tatsächlich als Knecht bezeichnet wird.
  • Aber die individuellen Züge dieses Gottesknechtes sind sehr ausgeprägt. Deshalb sehen andere Exegeten, die gegenwärtig wohl die Mehrheit bilden, im Knecht eine geschichtliche Person, und zwar entweder der Vergangenheit oder der Gegenwart.
  • So könnte man hinter diesem Gottesknecht tatsächlich den Propheten selbst sehen. Das hieße, dass Deutero-Jesaja sein eigenes Schicksal in diesen Gottesknecht-Liedern dargestellt hätte. In diesem Falle wäre das vierte Lied, das dann seinen Tod schildert, von seinen Schülern hinzugefügt worden. ⋅6⋅

Aber keine der drei Deutungen löst alle Schwierigkeiten, die die Gottesknechtslieder aufgeben. Und auch verknüpfte Lösungsmöglichkeiten, wie etwa die Auffassung, dass der Knecht wohl ein einzelner sei, der aber das Schicksal des ganzen Volkes verkörpert, lassen viele Fragen offen.

Nach Alfons Deissler würde man den Texten nicht genügend Rechnung tragen, wenn man sich für eine Deutung entschließen würde, die sich auf die Vergangenheit oder Gegenwart beschränkt. Auch wenn man im Gottesknecht den Propheten selbst sehen möchte, so bliebe dennoch eine weitere Dimension in ihnen sichtbar. Es sei nämlich ein wesentliches Merkmal dieses Gottesknechtes, dass er auch der Mittler des zukünftigen Heiles ist.

In diesem Sinne haben die Texte denn auch ihre Wirkungsgeschichte entfaltet.

5. Zur Wirkungsgeschichte von Deutero-Jesaja und insbesondere der Gottesknechtslieder

Bereits in der jüdischen Überlieferung wurden diese Abschnitte nämlich - zumindest teilweise - messianisch ausgelegt. Die Leidenszüge hat man dabei allerdings außer Acht gelassen. Einen leidenden Messias konnte man sich nur schwer denken.

Hier setzte aber genau die christliche Deutung der Gottesknechtslieder an. Im Leiden des Knechtes und dessen stellvertretender Sühne sah man das Schicksal Jesu Christi geradezu exemplarisch vorgebildet. Die Evangelien greifen diese Texte daher uneingeschränkt auf (Lk 22,19-20. 37; Mk 10,45).

In der urchristlichen Predigt war damit Jesus Christus ganz klar die Inkarnation dieser von Deutero-Jesaja angekündigten vollkommenen Knechtsgestalt (Mt 12,17-21; Joh 1,29).

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Alfons Deissler, Anton Vögtle (Hrsg.), Neue Jerusalemer Bibel (Freiburg / Basel / Wien 1985) 1014-1015; Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament (Berlin / New York 4. Auflage 1989) 257-267. Zur Anmerkung Button

2 Der Prophet kündet zwar die Zerstörung der Stadt und den Untergang ihrer Götter an (Jes 46-47; vgl. Jes 21,9), seine Schilderung scheint aber eine zukünftige Erwartung zu sein. Die tatsächliche Einnahme Babylons durch Kyrus ging anders vor sich. Kyrus zog im Triumph ein und hat im Rahmen seiner toleranten Religionspolitik gegenüber den unterworfenen Völkern (vgl. Esra 6,3-5) den babylonischen Kult erhalten oder wiederhergestellt.
(Vgl.: Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament (Berlin / New York 4. Auflage 1989) 257.) Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament (Berlin / New York 4. Auflage 1989) 260. Zur Anmerkung Button

4 Vgl. Jes 6,9-10; Jer 5,21; Ez 12,2. Zur Anmerkung Button

5 Jes 49,7-13 werden in Klammer von Schmidt genannt.
(Vgl.: Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament (Berlin / New York 4. Auflage 1989) 265.) Zur Anmerkung Button

6 Die Schwierigkeiten der autobiographischen Deutung lassen sich in zwei Grundfragen zusammenfassen. Zum einen: Warum ist die Präsentation des Gottesknechtes Jes 42 nicht in den Auditionsbericht Jes 40 integriert? Bedarf es einer gleichsam zweiten Berufung, weil Deutero-Jesajas Auftrag an Israel auf die Völker erweitert wird? Wieweit übernimmt der Prophet diese weltweite Verkündigung aber wirklich (vgl. Jes 42,10; 43,10; 52,10 u. a.)? Zum andern: zielen die ersten drei Lieder nicht von vornherein auf Jes 53, so dass die vier Texte als Einheit zu verstehen sind? Wie kann die Schülerschaft von ihrem Meister im Rückblick bekennen, dass er Leben nach dem Tode empfing und die Schuld der "Vielen" trug?
(Vgl.: Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament (Berlin / New York 4. Auflage 1989) 267.) Zur Anmerkung Button