Die Bibel
Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...
Theologische Intentionen des chronistischen Geschichtswerkes
- 1. Grundsätzliches Anliegen des chronistischen Geschichtswerkes
- 2. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang
- 3. Die Erwählung der Davididen und des Jerusalemer Heiligtums
- 4. Die Bedeutung des Kultes
- 5. Die Bewahrung der Eigenart der Jerusalemer Kultgemeinde
- 6. Die Sicht der Zukunft - Hoffnung auf einen Messias?
Nach diesen Einleitungsfragen kommen wir zur theologischen Intention des chronistischen Geschichtswerkes.
1. Grundsätzliches Anliegen des chronistischen Geschichtswerkes
Allgemein können wir sagen, dass der Chronist die Entstehungsgeschichte der nachexilischen Gemeinde darstellten wollte. ⋅1⋅
Er steht dabei in der Nachfolge des Deuteronomistischen Geschichtswerkes. Dabei legt er das Deuteronomistische Geschichtswerk über weite Strecken neu aus. Er ist also streckenweise geradezu eine "Auslegung" des Deuteronomistischen Geschichtswerkes in einer veränderten und für eine veränderte Zeit.
Der Chronist stellt die Vergangenheit aus der Sicht seiner Zeit dar:
- Er gestaltet um,
- wertet weit stärker als das Deuteronomistische Geschichtswerk,
- korrigiert
- und idealisiert.
Die Deutung der Vorgänge erfolgt dabei oft durch das mahnende und zukunftsansagende Wort der Propheten (2 Chr 12,5ff; 15,2ff u. a.).
Da die wichtigsten Vorlagen des Chronisten die Samuel- und Königsbücher darstellen, können wir seine Intention im Vergleich mit diesen Büchern recht gut bestimmen. Wir müssen nur fragen, was er auslässt, bzw. was er hinzufügt. Dadurch werden die Schwerpunkte seiner Darstellung deutlich.
2. Der Tun-Ergehen-Zusammenhang
In 2 Chr 26,16-23 beschreibt der Chronist den Hochmut und die Bestrafung des Königs Usija. Usija greift in priesterliche Rechte ein und wird deshalb aussätzig. Von seinem Hochmut ist in 2 Kön 15,5 nicht die Rede.
Dies führt uns bereits zu einem wichtigen Punkt chronistischer Theologie. Der Chronist versucht deutlich zu machen, dass es Usija gemäß seinem Tun erging.
Dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang ist eine wichtiger Maßstab, mit dem der Chronist die Geschichte einsichtig zu machen versucht. Die Ereignisse der Geschichte sind die "personale Vergeltung", die gemäß dem Tun der Menschen erfolgt.
So hat der Chronist offenbar auch das Bedürfnis, zu erklären, warum der schlechte König Manasse so lange regieren konnte. Er berichtet daher von einer assyrischen Gefangenschaft des Königs. Durch diese Gefangenschaft motiviert hätte sich der König bekehrt, vor Gott gedemütigt und dementsprechend noch lange regieren können (2 Chr 33,11-20). Durch diesen konstruierten Bericht wird für den Chronisten die lange Regierungszeit des Manasse verständlich.
Hinter solch einer Geschichtsdarstellung steht der mehrfach ausgesprochene Grundsatz: Wer sich an Gott hält, wird gehalten, wer ihn verlässt, wird verlassen (1 Chr 28,9; 2 Chr 15,2 u. a.).
3. Die Erwählung der Davididen und des Jerusalemer Heiligtums
Großes Gewicht legt der Chronist - wie bereits schon das Deuteronomistische Geschichtswerk - auch auf die Person Davids.
- Er ist "Mann Gottes" (2 Chr 8,14),
- Vorbild der Gesetzestreue (2 Chr 7,17 u. a.);
- ja, Jahwe wird - in Anlehnung an die Gottesnamen der Väterzeit sogar - "Gott Davids, deines Vaters" (2 Chr 21,12; 34,3) genannt.
- Weniger erfreuliche Geschehnisse, wie die Batscheba-Affaire oder Abschaloms Aufstand, werden im chronistischen Werk ganz einfach übergangen.
Die großen Kriege der Regierungszeit Davids werden eigentlich nur am Rande erwähnt (1 Chr 18-19; 1 Chr 22,8; 1 Chr 28,3). Weit bedeutender scheint hier zu sein, dass die Zeit Davids für den Chronisten zugleich die Zeit der Vorbereitungen für den Tempelbau gewesen ist.
Salomo hat diesen Tempelbau dann zwar durchgeführt - das ist auch für den Chronisten das eigentlich entscheidende und bedeutende Ereignis - aber bereits David hat die Vorbereitungen dafür getroffen:
- David erwirbt den Bauplatz
- und plant den Kult (1 Chr 21ff; 28,19).
Wie wichtig für den Chronisten dieser Tempelbau gewesen ist, das wird auch daran deutlich, dass er die Natans-Weissagung aus 2 Sam 7 ganz auf Salomo, also ganz auf den Erbauer des Tempels, konzentriert (1 Chr 17,11ff; vgl. 1 Chr 22,6ff; 1 Chr 28,5ff).
Dadurch verknüpft der Chronist die Erwählung der Davididen mit der Erwählung des Jerusalemer Heiligtums.
Dies wird noch verstärkt durch den Bericht, wie Gott selbst den Tempel als wahres Heiligtum anerkennt: Feuer vom Himmel fährt bei der Einweihung auf den neuen Altar herab (2 Chr 7,1; vgl. 1 Chr 21,26; Lev 9,23-24; 1 Kön 18).
So treffen die Erwählung der Davididen und die Erwählung des Jerusalemer Heiligtums im chronistischen Werk zusammen.
4. Die Bedeutung des Kultes
Der Kult am Jerusalemer Heiligtum spielt überhaupt eine grundlegende Rolle im chronistischen Werk. Der Chronist berichtet ausführlich von großen Feiern,
- speziell dem Passah (2 Chr 30; 2 Chr 35; Esra 6,19ff)
- und dem Laufhüttenfest (2 Chr 7,9-10; Neh 8,13ff).
Und auch sonst gestaltet er seinen Bericht gern analog zu gottesdienstlichen Feiern.
- So scheint die Gesetzesverlesung durch Esra mit der sich anschließenden Unterweisung (in aramäisch (?)) schon eine Art vorweggenommener Synagogen-Gottesdienst zu sein (Neh 8).
In solchen Darstellungen dürfte sich insgesamt die Lebensform der nachexilischen Jerusalemer Gemeinde widerspiegeln. Wir können aus dem chronistischen Werk daher wohl eine ganze Reihe Rückschlüsse auf die gottesdienstlichen Feiern der nachexilischen Zeit ziehen.
So erfahren wir von der Gestaltung des Kults durch
- die Tempelmusik,
- die levitischen Sänger (1 Chr 15,16ff; 2 Chr 5,11ff; 29,25ff)
- und von den Priestern für den Opferdienst (2 Chr 23,23; 24,1ff u. a.).
Wir werden über die Gliederung des Tempelpersonals informiert, die recht differenziert ist und im Laufe der Zeit auch gewissen Wandlungen unterworfen war. ⋅2⋅
Ein Zeugnis für den späteren Gebrauch der Psalmen im Gottesdienst mag der in 1 Chr 16,7-36 eingefügte Hymnus sein. Er verbindet verschiedene Psalmen (Ps 105; 96; 106) zu einem neuen Lied. ⋅3⋅
5. Die Bewahrung der Eigenart der Jerusalemer Kultgemeinde
Das eigentliche Thema des Chronisten kann man daher mit den Worten "Begründung und Erhaltung der Jerusalemer Kultgemeinde" umschreiben.
Damit haben wir aber auch gleich das Ziel seiner Darstellung erfasst. Dieses Ziel ist die Bewahrung der Eigenart dieser Kultgemeinde.
Um die Eigenart des Kultes zu bewahren ist es - aus der Sicht des Chronisten - anscheinend unabdingbar notwendig, sich von den Fremden abzugrenzen. Auf diesem Hintergrund ist einmal
- in den Büchern Esra und Nehemia die Polemik gegen die Mischehen zu verstehen (Esra 9; Neh 9,2; 10,29ff).
- Zum anderen erklärt er auch die Betonung der Trennung von den nicht mehr als rechtgläubig geltenden Samaritanern, also den Nachkommen des Nordreiches (2 Chr 13,5ff; 2 Chr 19,2; 2 Chr 25,7; 2 Chr 30,6ff; Esra 4,1ff; auch Neh 2,19f u. a.). ⋅4⋅
6. Die Sicht der Zukunft - Hoffnung auf einen Messias?
Gerade im Vergleich mit dem Deuteronomistischen Geschichtswerk bleibt eine Frage noch offen:
In welchem Licht erscheint beim Chronisten die Zukunft? Gibt es für Israel hier eine konkrete Zukunftshoffnung.
a. Positive Einstellung zum Königtum
In diesem Zusammenhang könnte wichtig sein, dass das chronistische Geschichtswerk das Königtum weit positiver sieht als die Deuteronomisten.
Schon der eigentliche Einsatz der chronistischen Geschichtsschreibung lässt die Bedeutung des Königtums erahnen. Die ersten wirklichen Berichte nach den langen Genealogien handeln von den Ereignissen der Königszeit und den Taten der Könige (1 Chr 10,1ff).
So sind beim Chronisten Königtum und Gottesherrschaft weit enger als nach der älteren Tradition (vgl. aber Ps 110,1) verbunden.
Der davidische Herrscher sitzt "auf Jahwes Thron" und erscheint gleichsam als Gottes Stellvertreter auf Erden. Das Königtum in Jerusalem erscheint analog als Königtum Gottes auf Erden (1 Chr 17,14; 1 Chr 28,5; 1 Chr 29,11-12. 23; 2 Chr 9,8; 2 Chr 13,8).
b. Verborgene Messiashoffnung?
Diese positive Sicht des Königtums hat verschiedentlich zur Annahme geführt, dass der Chronist auch für die Gegenwart ein neues Aufleben dieses Königtums erhoffe und erwarte. Hinter diesen - auf die Vergangenheit bezogenen - Aussagen vermutete man also eine unausgesprochene Hoffnung auf einen neuen König, den Messias, in dem sich Gottes Macht offenbart.
Allerdings greift der Chronist in der Darstellung der nachexilischen Zeit auf diese Erwartung an keiner Stelle zurück. Die messianische Bewegung, die unter den Propheten Haggai und Sacharja bereits aufgebrochen ist, wird gänzlich übergangen.
Die Königszeit endet offenbar auch für den Chronisten in einer Katastrophe (2 Chr 36,11ff); die Heilswende mit der Heimkehr und dem Wiederaufbau des Tempels kommt nicht durch eine wie auch immer geartete neue Herrschergestalt. Jahwes Geist ist es, der nach siebzigjähriger Sühnezeit (2 Chr 36,21) die Wende herbeiführt. Er erweckt den Perserkönig Kyrus, der daraufhin das Edikt erlässt, durch das die Rückkehr der Israeliten ermöglicht wird (2 Chr 36,22-23; Esra 1,1ff). ⋅5⋅
c. Hoffnung auf neue staatliche Selbständigkeit
Es bleibt offen, ob die Außenpolitik damit gleichsam an den fremden Herrscher abgetreten wird, ob die sich um das Heiligtum scharende, gesetzestreue Gemeinde nun an ihrem Glauben genug hat, oder ob etwa auch der Chronist
"die Hoffnung auf eine noch einmal kommende Erneuerung des Throns Davids" ⋅6⋅
hegt. Vielleicht lebt im chronistischen Werk - wenn auch versteckt - so doch insgeheim die sich erst in der Makkabäerzeit verwirklichende Sehnsucht nach politischer Selbständigkeit weiter.
Neh 9,36-37 (ähnlich auch Esra 9,7ff und Neh 9,32) könnte solch eine Sehnsucht deutlich werden:
"Siehe, heute sind wir Knechte! Das Land, das du unseren Vätern gegeben hast, um seine Früchte zu genießen - siehe, in ihm sind wir Knecht! Sein Ertrag bereichert die Könige, die du wegen unserer Sünden über uns bestellt hast. Sie herrschen über unsere Leiber und unser Vieh nach ihrem Gutdünken. Wir aber sind in großer Bedrängnis." (Neh 9,36-37.)
Anmerkungen
Vielleicht belegt aber das chronistische Geschichtswerk nur den sich im Laufe der Zeit zuspitzenden Gegensatz, der schließlich zur endgültigen Trennung führt.
Ähnlich wie bei der Deutung der Priesterschrift ist umstritten, ob der Chronist noch entscheidende Zukunftshoffnungen hegt oder gar eschatologischen Strömungen seiner Zeit entgegentreten will.