Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Weiter-Button Zurück-Button Das "Jüngste Gericht"

Gesamtansicht der Westwand

Die Westwand mit der Darstellung des jüngsten Gerichtes.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Als man bei der Innenrenovation des Breisacher Münsters im Jahre 1885 an der Westwand den Verputz abschlug, kamen mehrere Bilder und Inschriften zum Vorschein. Damit begann die Wiederentdeckung des größten mittelalterlichen Wandgemäldes nördlich der Alpen, des jüngsten Gerichtes von Martin Schongauer.

Insgesamt bietet das Werk heute durch Übertünchung, Kriegsschäden, Übermalung und spannungsreiche Fixierung - trotz umfangreicher Sicherungsmaßnahmen - einen fragmentarischen Anblick. Nichtsdestoweniger ist die Botschaft, die die Menschen diesem gewaltigen Bild entnehmen konnten, noch heute vernehmbar.

Gerade hier, in der Westhalle des Breisacher Münsters, haben wir ein ganzes Kompendium dieser mittelalterlichen Bildsprache vor uns.

Zu Siegeszeichen gewordene Marterwerkzeuge

Als sich Martin Schongauer 1469 auf der Wanderschaft in Burgund befand, sah er im Heilig-Geist-Spital von Beaune den Altar Rogier van der Weydens . In Paris hat sich eine Zeichnung Christi als Weltenrichter erhalten, die Schongauer nach dem Beauner Jüngsten Gericht angefertigt hatte . Sie belegt, wie sehr dieser Altar Martin Schongauer beeindruckt haben muss.

Die Parallelen zwischen dem Altar des Hôtel-Dieu in Beaune und dem Breisacher "Jüngsten Gericht" sind aber nicht nur darauf zurückzuführen, dass das Breisacher Werk von den Tafeln Rogier van der Weydens beeinflusst ist. Beide Darstellungen folgen einer ungeschriebenen Regel: So stellte man damals nicht nur in Beaune und in Breisach das "Jüngste Gericht" dar. Die Werke folgen jener Grammatik, mittels derer Bilder Bildung vermittelten und zur lesbaren Verkündigung wurden.

In der Mitte der Darstellung finden wir dementsprechend Christus. Er ist der Christkönig, der - wie auch am Hochaltar - breitbeinig sitzend, in der Pose des Herrschers dargestellt ist. Und wie es einem mittelalterlichen Herrscher gebührt, folgt ihm seine Dienerschaft mit den Zeichen seiner Hoheit und Macht.

Detail der Westwand

Die Engel mit den Marterwerkzeugen.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Hier sind es die Engel, die Christus folgen. Sie tragen aber nicht Szepter und Reichsapfel sondern das Kreuz und die Lanze, die Geißelsäule und - der Engel in der Leibung über dem Fenster - die Nägel, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Es sind die Marterwerkzeuge, die Geräte der Hinrichtung, die ihm hier als Siegeszeichen nachgetragen werden, denn durch sein Leiden und seinen Tod hat Christus die Welt und den Tod besiegt. Die Zeichen der absoluten Ohnmacht Christi, sind zu Zeichen des Triumphes geworden.

Schriftbänder, wie Fahnen im Wind, verkünden die Bedeutung des Geschehens:

"Hoc signum crucis erit in celo, cum Dominus ad iudicium venerit."
Dieses Zeichen des Kreuzes wird am Himmel sein, wenn der Herr zum Gericht erscheinen wird.

"Tempus misericordia praetererit, tempus iusititiae advenit."
Die Zeit des Erbarmens ist vorbei, angebrochen ist die Zeit der Gerechtigkeit.

Johannes der Täufer und ein gehörnter Moses

Detail der Westwand

Die Vertreter des Alten Testamentes.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Zu beiden Seiten Christi finden sich nun - gleich einem Hofstaat - eine Fülle von Personen. Zu seiner Linken kniet eine große Gestalt. Es handelt sich um Johannes den Täufer, den letzten der Propheten, den letzten Vertreter des Alten Testamentes.

Hinter Johannes erkennt man nun auch die wichtigsten Vertreter des Alten Bundes: die Patriarchen und die Propheten. Eindeutig zu identifizieren ist Moses, der die Gesetzestafeln in den Händen hält - und er ist gehörnt.

Diese Hörner des Moses haben nichts mit dem Teufel zu tun. Es handelt sich um einen einfachen Übersetzungsfehler der lateinischen Bibel. Der biblische Bericht schildert, dass das Antlitz des Moses, nach der Begegnung mit Gott auf dem Gottesberg gestrahlt habe. Im Hebräischen verwendet man für den Ausdruck "strahlen" allerdings das gleiche Wort wie für "Hörner haben" bzw. "gehörnt sein". So jedoch wurde der Vers ins Lateinische übertragen. Es heißt in der Vulgata:

"videntes autem Aaron et filii Israhel cornutam Mosi faciem timuerunt prope accedere"
(Exodus 34,30)

Während die Einheitsübersetzung den hebräischen Text folgendermaßen überträgt:

"Als Aaron und alle Israeliten Mose sahen, strahlte die Haut seines Gesichtes Licht aus, und sie fürchteten sich, in seine Nähe zu kommen."

bedeutet die lateinische Übersetzung "sein Angesicht hatte Hörner". Und von daher wurde Moses in allen mittelalterlichen Werken - bis hin zur berühmten Darstellung des Moses von Michelangelo in San Pietro in Vincoli in Rom - mit Hörnern dargestellt.

Maria und die Apostel

Detail der Westwand

Die Vertreter des Neuen Testamentes.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Zur Rechten Christi kniet nun Maria, die erste Vertreterin des Neuen Testamentes. Mit ihrem Ja-Wort begann schließlich - der Überlieferung nach - die neue Geschichte Gottes mit den Menschen.

Hinter ihr erkennt man die Apostel als Repräsentanten der Christenheit. Nur Petrus mit den Schlüsseln ist allerdings noch einigermaßen zu identifizieren.

Die ganze Darstellung folgt einem geprägten, als "Deesis" bekanntem Muster. Das griechische, eigentlich "Bitte" bedeutende Wort, meint die Darstellung des thronenden Christus zwischen Maria und Johannes dem Täufer, die zu seinen Seiten fürbittend stehen oder knien. Die öfters um die Apostel und weitere Gestalten, wie die Erzengel Michael und Gabriel erweiterte Gruppe, findet sich zunächst in der orthodoxen Kirche. Entstanden ist diese Art der Darstellung im 10. bzw. 11. Jahrhundert in Byzanz. Vor allem durch Elfenbeinarbeiten wurde sie dem Abendland vermittelt.

Durch die Anbringung des Gemäldes in der Westhalle entstehen in Breisach weitere Bezüge: Johannes der Täufer mit den Gestalten des Alten Testamentes findet sich nicht nur zur Linken Christi, sondern darüber hinaus auf der nördlichen Wandhälfte, auf der Seite der Finsternis. Die neutestamentlichen Gestalten hingegen sind auf der Südseite, der Seite des Lichtes, dargestellt, denn Christus, das Licht der Welt, ist erst im Neuen Testament voll erkannt worden.

Alle Personen sind im Übrigen in der Kleidung der Zeit dargestellt, denn das hier vor Augen geführte Geschehen ist keine Erzählung aus grauer Vorzeit und kein Ereignis, das erst in ferner Zukunft eintreten wird. Es hat seine Bedeutung im Hier und Jetzt der Menschen, die dieses Bild betrachten.

Der zum Gericht wiederkehrende Christus

In der Mitte nun sitzt der breitbeinig thronende Christus, der auch hier wieder mit entblößtem Oberkörper dargestellt wird. Das Fleisch wird betont, denn...

"... das Wort ist Fleisch geworden"
(Johannes 1,14)

Detail der Westwand

Christus thronend auf dem Regenbogen.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Christus thront dabei auf einem Regenbogen - auf dem Zeichen des Bundes, denn der Bund, den Gott mit den Menschen geschlossen hat, ist die Grundlage für das Gericht, für die Rechenschaft, die Gott vom Menschen verlangen wird.

Dass Christus zum Gericht kommt, verdeutlicht das Bild übrigens selbst: Rechts von Christus - vom Betrachter aus gesehen - erkennt man nämlich ein Schwert, das aus Christi Mund kommt. Die Erklärung hierfür findet man im letzten Buch des Neuen Testamentes. Dort sieht Johannes in einer Vision folgendes:

"Als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der wie ein Mensch aussah; er war bekleidet mit einem Gewand, das bis auf die Füße reichte, und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße Wolle, leuchtend weiß wie Schnee, und seine Augen wie Feuerflammen; seine Beine glänzten wie Golderz, das im Schmelzofen glüht, und seine Stimme war wie das Rauschen von Wassermassen. In seiner Rechten hielt er sieben Sterne, und aus seinem Mund kam ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Gesicht leuchtete wie die machtvoll strahlende Sonne. Als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt. Schreib auf, was du gesehen hast: was ist und was danach geschehen wird."
(Offenbarung 1,12-19)

Das Schwert, das aus dem Mund Christi hervorgeht ist dabei Symbol sowohl für das Gericht als auch für die Gerechtigkeit: Es ist ein gerechtes Gericht, zu dem der Herr wiederkehrt.

Auf der anderen Seite kommt allerdings eine Pflanze aus dem Mund Christi: eine Lilie, hier Symbol für die Barmherzigkeit. Gottes Gericht ist ein gerechtes, aber auch ein barmherziges Gericht. Das kann der Betrachter aus dieser Darstellung lesen.

Die segnende Rechte

Detail der Westwand

Die segnende Hand Christi.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Auf der Seite der Lilie, auf der Südseite, der Seite des Lichtes, erhebt Christus nun seine Rechte. Und diese Hand segnet. Auch das kann man dem Bild klar entnehmen, denn Christi Hand formt den klassischen Segensgestus.

Im Mittelalter wäre niemand auf die Idee gekommen, mit der flachen Hand - wie heute meist üblich - zu segnen. Die flache Hand ist ein eigentlich nichtssagender Gestus. Die Segenshand des Mittelalters hingegen war lesbare Verkündigung. Drei Finger deuten nach oben, denn der Segen ergeht im Namen des Dreifaltigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Zwei Finger deuten nach unten, denn der Segen ergeht durch Jesus Christus, der Gott und Mensch zugleich gewesen ist.

Oberhalb der Segenshand entrollt ein Spruchband dementsprechend die Verheißung:

"venite benedicti patris mei, possidete regnum, quod vobis paratum est ab inici seculi"
Kommt her, die ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung der Welt für euch bestimmt ist.
(Matthäus 25,34)

Die Linke allerdings formt einen abweisende Geste, deren vernichtendes Urteil man auch ohne das erklärende Spruchband ohne große Schwierigkeiten verstehen würde:

"ite maledicti in ignem aeternum"
Weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer.
(Matthäus 25,41)

Die Auferstehung der Toten

Die Adressaten dieser beiden Urteilssprüche sind zu beiden Seiten des Westportals dargestellt. Zwei Engel mit langgezogenen Posaunen blasen hier nämlich zum Gericht. Und unten stehen die Toten aus ihren Gräbern auf.

Detail der Westwand

Die Auferstehung der Toten.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Denen auf der Nordseite, auf der Seite der Finsternis, denen der Urteilsspruch der Verdammnis gilt, sieht man Schrecken und Furcht an. Die auf der Südseite hingegen sind voller freudiger Erwartung: Sie strecken sich Christus gleichsam entgegen.

Weiter-Button Zurück-Button Literaturhinweise

Grundlegendes zum Breisacher Münster ist zusammengestellt in:
Gebhard Klein, Das Breisacher Sankt Stephansmünster (Breisach, 3. Auflage 2002).
Zu Martin Schongauer und dem "Jüngsten Gericht" vergleiche vor allem:
Joseph Sauer, Der Freskenzyklus im Münster zu Breisach (Freiburg i. Br. 1934),
Bernd Mathias Kremer, Martin Schongauer und Breisach - Zu 500. Todestag des Malers und Kupferstechers, in: Badische Heimat (4/1991)
Hans-Jürgen Treppe, Restaurierung des St. Stephansmünsters zu Breisach a. Rh. - Vorbereitung - Planung - Ausführung,  , in: Badische Heimat (4/1991)
Gebhard Klein, Martin Schongauer und das "Jüngste Gericht" im Breisacher St. Stephansmünster, Schriftenreihe des Münsterbauvereins Breisach e. V., Nr. 2, (Breisach 1998).
Zur Symbolik im Allgemeinen:
Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole - Bilder und Zeichen der christlichen Kunst (Köln 8. Auflage 1984)
sowie
Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster (Freiburg 4. Auflage 1985).