Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Leben und Offenbarungen der heiligen Brigitta
Nach der Übersetzung von Ludwig Clarus (1888) digitalisiert und bearbeitet von Gertrud Willy
Der englische Lobgesang von der Vortrefflichkeit der Jungfrau Maria.
- Vorrede
- Kapitel I. - In den nachfolgenden drei Lesungen zeigt der Engel, wie Gott die selige, glorwürdige Jungfrau Maria, seine Mutter, von Ewigkeit her über alle Geschöpfe. ehe etwas erschaffen worden war, geliebt hat. - Am Sonntage. Erste Lektion.
- Kapitel II. - Am Sonntage. Zweite Lektion
- Kapitel III. - Am Sonntage. Dritte Lektion.
- Kapitel IV. - In den drei folgenden Lektionen zeigt der Engel, wie die Engel nach Luzifers Fall von der Erschaffung der seligsten Jungfrau wußten und wie sehr sie sich derselben freuten, auch wie nach der Erschaffung der Welt die Jungfrau vor Gott und den Engeln dazustehen schien. - Am Montage. Erste Lektion.
- Kapitel V. - Am Montage. Zweite Lektion.
- Kapitel VI. - Am Montage. Dritte Lektion.
- Kapitel VII. - In den folgenden drei Lektionen handelt der Engel von der Buße Adams und von dem Troste, den er aus dem Vorherwissen der künftigen Erschaffung der seligen Jungfrau und deren großen Demut und Würde schöpfte. Wie Abraham, der Patriarch, und Isaak und Jakob, ingleichen alle Propheten durch die bevorstehende Geburt der verehrungswürdigen Mutter Gottes getröstet worden. - Am Dienstage. Erste Lektion.
- Kapitel VIII. - Am Dienstage. Zweite Lektion.
- Kapitel IX. - Am Dienstage. Dritte Lektion.
- Kapitel X. - In den folgenden drei Lektionen handelt der Engel von der Empfängnis und der Geburt der Jungfrau, und wie sie, auch da sie noch in ihrer Mutter Leibe war, Gott geliebt hat. - Am Mittwoch. Erste Lektion.
- Kapitel XI. - Am Mittwoch. Zweite Lektion.
- Kapitel XII. - Am Mittwoch. Dritte Lektion.
- Kapitel XIII. - In den folgenden drei Lektionen zeigt der Engel, wie sich die Jungfrau Maria verhalten, nachdem sie den Verstand und die Erkenntnis Gottes erhalten. Von der Schönheit ihrer Seele und ihres Leibes, und wie ihr Wille alle ihre Sinne bezwungen. Von der Empfängnis des Sohnes Gottes im Schoße der Jungfrau und seiner herrlichen Geburt in diese Welt hinein - Am Donnerstage. Erste Lektion.
- Kapitel XIV. - Am Donnerstage. Zweite Lektion.
- Kapitel XV. - Am Donnerstage. Dritte Lektion.
- Kapitel XVI. - In den drei folgenden Lektionen handelt der Engel von der glorreichsten Jungfrau höchst bitterem Leide beim schmerzlichen Tode ihres gebenedeiten Sohnes, und von der Standhaftigkeit des Gemütes, welche die Jungfrau in allen ihren Schmerzen gehabt. - Am Freitage. Erste Lektion.
- Kapitel XVII. - Am Freitage. Zweite Lektion.
- Kapitel XVIII. - Am Freitage. Dritte Lektion.
- Kapitel XIX. - In den folgenden drei Lektionen zeigt der Engel, wie unbeweglich die selige Jungfrau im rechten Glauben war, als die übrigen an Christi Auferstehung zweifelten, und wie nützlich sie vielen durch ihr Leben und ihre Lehre geworden. Und wie sie mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden. - Am Samstage. Erste Lektion.
- Kapitel XX. - Am Samstage. Zweite Lektion.
- Kapitel XXI. - Am Samstage. Dritte Lektion.
Der englische Lobgesang von der Vortrefflichkeit der Jungfrau Maria.
Vorrede.
Nachdem die selige Brigitta, eine Fürstin aus Nerike im Königreiche Schweden, mehrere Jahre lang in Rom in einem Kardinalatshofe gewohnt, welcher nahe bei der Kirche San Lorenzo in Damaso belegen, wußte sie immer noch nicht, welche Lesungen der Nonnen in ihrem Kloster, dessen Errichtung Christus in Schweden befohlen, und dessen Regel er selber zu Ehren seiner jungfräulichen Mutter ihr diktiert hatte, vorgenommen werden sollten. Während nun, im Zweifel hierüber die selige Brigitta betete, erschien ihr Christus und sprach: "Ich werde Dir meinen Engel senden, welcher Dir die Lektionen, die in der Frühmetten durch die Klosterfrauen in Deinem Kloster zu Ehren meiner jungfräulichen Mutter gelesen werden sollen, Dir offenbaren wird. Er selber wird Dir dieselben diktieren und Du schreibe dieselben auf, wie er Dir dieselben sagen wird. Die selige Brigitta hatte ein Gemach, dessen eines Fenster nach dem Hochaltar hinaussah, und durch welches sie täglich den Leib Christi sehen konnte. In diesem Gemache nun hielt sie sich täglich mit einer Schreibtafel und Papier und der Feder in 40 der Hand zu schreiben bereit, nachdem sie ihre Tagzeiten und Gebete verrichtet hatte. So bereit wartete sie des Engels des Herrn. Derselbe kam und stellte sich ihr zur Seite und stand gar ehrbar aufgerichtet, wobei er immer sein Antlitz mit ehrerbietiger Haltung und den Blick auf den Altar gerichtet hielt, auf dem der Leib Christi beigesetzt war. Also stehend diktierte er die erwähnte Lesung, d. h. die unten verzeichneten zur Lesung bestimmten Lektionen in den Frühmetten für die Schwestern im gedachten Kloster, welche von der hohen Vortrefflichkeit der von Ewigkeit her seligen Jungfrau Maria handeln, deutlich und geordnet in der Muttersprache der seligen Brigitta. Und sie selber schrieb dieselben Tag für Tag in höchster Andacht aus dem Munde des Engels nieder, und zeigte demütiglich ihrem geistlichen Vater täglich dasjenige, was sie an dem Tage niedergeschrieben. Es begab sich aber an einzelnen Tagen, daß der Engel sich zum Diktieren nicht einfand. Wenn sie nun an einem solchen Tage von ihrem geistlichen Vater nach dem an diesem Tage Niedergeschriebenen gefragt ward, antwortete sie demütig und sprach: Vater, heute habe ich nichts geschrieben: ich habe zwar lange auf des Herrn Engel gewartet, daß er diktieren möchte, was ich schreiben sollte, allein er ist nicht gekommen. Auf diese Weise nun ist von dem Munde des Engels der nachfolgende englische Lobgesang von der Vortrefflichkeit der seligen Jungfrau Maria angegeben und demnächst niedergeschrieben worden. Durch den Engel ist derselbe auch in Lektionen abgeteilt, um in den Frühmetten der Schwestern, welche wöchentlich gelesen werden müssen, das ganze Jahr hindurch vorgelesen zu werden, wie unten folgt. Nachdem aber der Engel die Angabe seines Lobgesangs beendet, sprach er zur Braut, während dieselbe noch schrieb: Siehe, jetzt habe ich den Rock der Königin des Himmels hergerichtet; ihr nun nähet denselben zusammen, wie ihr vermögen werdet. Darum, o ihr seligsten Klosterfrauen des Ordens, des heiligsten Ordens von der Regel des Welterlösers, welche der Erlöser und Schöpfer aller Dinge mit seinem eigenen Munde euch und der Welt durch seine Braut so gütig und demütiglich gegeben hat, bereitet die Hände zum heiligen Werke, um mit großer Ehrfurcht und Andacht diesen heiligen Lobgesang zu empfangen, welchen der Engel des Herrn auf Gottes Geheiß euerer Mutter, der heiligen Brigitta, diktiert hat. Öffnet 41 euere Ohren, um ein so erhabenes und unerhörtes neues Lob der seligsten Jungfrau Maria zu vernehmen. Bedenket wohl deren von Ewigkeit her währende, hier enthaltene Vortrefflichkeit mit demütigem Herzen, so daß ihr dieselbe fleißig zerkauet im Munde euerer Betrachtung, und ihre Süßigkeit lieblich einschlucket mit dem Geschmacke der Betrachtung. Nachher erhebet euere Hände und euere Herzen mit vollem Verlangen zu Gott, um demselben für eine so große, euch ganz besonders erwiesene Wohlthat mit demütigster und andächtiger Danksagung zu danken. Solches möge auch ihr seligster Sohn, der König der Engel, verleihen, welcher mit ihr immerwährend von Ewigkeit zu Ewigkeit lebt und regiert. Amen!
Kapitel I.
In den nachfolgenden drei Lesungen zeigt der Engel, wie Gott die selige, glorwürdige Jungfrau Maria, seine Mutter, von Ewigkeit her über alle Geschöpfe. ehe etwas erschaffen worden war, geliebt hat.
Am Sonntage. Erste Lektion.
Absolution.
Der höchsten Dreifaltigkeit liebwerteste Jungfrau möge uns unter dem würdigsten Gebete beschirmen! Amen.
"Das Wort, dessen der Evangelist Johannes in seinem Evangelium erwähnt, war von Ewigkeit beim Vater und heiligen Geiste ein Gott. Denn es sind drei Personen und nur eine vollkommene Gottheit in demselben. Diese drei Personen waren in allen Stücken gleich. Es war in ihnen allen ein Wille, eine Weisheit, eine Macht, eine Schönheit, eine Kraft, eine Liebe, eine Freude, Fürwahr, es würde nicht möglich sein, daß dieses Wort Gott wäre, wenn es sich vom Vater und Sohne trennen ließe, wie man an diesem Worte: ita (so, ja), welches die Bedeutung einer bejahenden Wahrheit hat, und aus drei Buchstaben besteht, als Beispiel haben kann. Denn wie wenn einer der Buchstaben vom anderen getrennt würde, dieselben nicht dieselbe Bedeutung haben würden, die sie zuvor hatten, weil sie nicht mehr dasselbe Wort bilden würden, in 42 ähnlicher Weise nun ist das Verständnis dreier Personen in einer Gottheit aufzufassen; denn wenn eine derselben sich von der anderen sondern ließe, und z. B. der anderen ungleich wäre, oder in einem Stücke derselben etwas fehlte, das die andere hätte, alsdann würde in ihnen offenbar die Gottheit nicht mehr sein, denn dieselbe ist in sich selber unteilbar. Daß durch Annahme der Menschheit das Wort, nämlich der Sohn Gottes, vom Vater und Geiste abgesondert worden zu glauben, ist unrecht. Denn, wie das Wort, das wir sprechen, obwohl es im Herzen gedacht und mit dem Munde ausgesprochen wird, doch keineswegs berührt oder gesehen werden kann, wofern man es nicht auf einen materiellen Gegenstand schreibt oder druckt, so würde es auch unmöglich gewesen sein, daß dieses Wort, nämlich der Sohn Gottes, zum Heile des menschlichen Geschlechtes berührt oder gesehen worden wäre, wofern es nicht mit dem menschlichen Fleische vereinigt gewesen wäre. Gleichwie ein Wort, wenn man es in ein Buch eingeschrieben sieht, dann auch im Innern gedacht und zugleich mit dem Munde ausgesprochen werden kann, so ist auch durchaus nicht zu zweifeln, daß der im angenommenen Fleische sichtbare Sohn Gottes mit dem Vater und dem heiligen Geiste sei. Es sind also wahrhaft drei Personen, untrennbar, unveränderlich, ewiglich in allen Stücken gleich, ein Gott. In diesem Gotte war von Ewigkeit her alles vorausgewußt. Alles stand in seiner Schönheit ehrerbietig vor seinem Angesichte zu seiner Freude und Ehre und er hat es nachmals, als es ihm beliebte, mittels der Schöpfung gar weislich zum Sein hervorgebracht. Gott ist durch keinerlei Notwendigkeit, durch keinen Mangel seiner Freude oder seines Vorteiles etwas zu erschaffen gezwungen gewesen, denn es war unmöglich, daß er einigen Mangel an sich leiden konnte. Seine überaus inbrünstige Liebe allein hat ihn zum Erschaffen veranlaßt, damit sich seiner unaussprechlichen Freude viele ewiglich freuen möchten. Daher hat er alles, was erschaffen werden sollte, in der Gestalt und auf die Weise nachher gar schön geschaffen, wie es von Ewigkeit her überaus schön, noch ehe es erschaffen war, vor seinem Blicke dastand. Unter allen Dingen aber, welche damals noch unerschaffen waren, war vor Gott eins, das die übrigen sehr weit übertraf, und über das er selbst sich am meisten freute. In diesem noch unerschaffenen erschienen die vier Ele- 43 mente: das Feuer, die Luft, das Wasser und die Erde, obwohl sie damals noch nicht erschaffen waren, vor dem göttlichen Antlitz von Ewigkeit her: die Luft, daß sie so sanft erschaffen werden sollte, daß sie wider den heiligen Geist nimmer wehen würde; die Erde, die an diesem Unerschaffenen ebensogut und fruchtbar erschaffen werden sollte, daß nichts auf ihr sollte wachsen können, das nicht für alle Bedürfnisse nützlich wäre; das Wasser, daß es daran so still werden sollte, daß kein Ungewitter, woher auch die Stürme und Wirbelwinde blasen möchten, auf demselben sich sollte regen können; das Feuer, daß es so hoch in ihm sich erheben, daß seine Flamme und Wärme sich der Wohnung, worin Gott selber weilte, nähern sollte. O Maria, Du reinste Jungfrau und fruchtbarste Mutter, Du bist jenes Wesen! Denn also und als eine solche hast Du von Ewigkeit her noch unerschaffen vor dem Anblicke Gottes gestanden, und dann aus den eben gedachten so reinen und hellen Elementen den Stoff zu Deinem gebenedeiten Leibe erhalten. Als eine solche fürwahr hast Du im Angesicht Gottes vor Deiner Schöpfung unerschaffen dagestanden, wie Du nachmals zu werden verdient hast. Und deshalb hast Du alles, was erschaffen werden sollte, vom Anfange an im Angesichte Gottes zu dessen größter Freude gar weit übertroffen. Denn Gott der Vater freute sich Deiner fruchtbaren Werke, die Du mit seiner Hilfe thun solltest, der Sohn aber Deiner tugendhaften Standhaftigkeit, und der heilige Geist über Deinen demütigen Gehorsam. Doch hatte der Vater auch die Freude des Sohnes und des Geistes, und der Sohn die Freude des Vaters und Geistes, und der heilige Geist die Freude des Vaters und des Sohnes. Wie daher alle an Dir einerlei Freude hatten, so trugen auch alle eine Liebe zu Dir.
Du aber Herr, erbarme Dich unser!" 44
Kapitel II.
Am Sonntage. Zweite Lektion.
Absolution.
Mutter Christi, komm' uns zu Hilfe, die Du in die beweinenswerte Welt Freude gebracht hast! Amen.
"Du bist auch, o Maria, unter allen Geschöpfen das würdigste vom Anfange an, so bei Gott gewesen, ehe derselbe Dich erschaffen, wie die Arche Noah, nachdem er von deren Baue gehört hatte, vor demselben war, bevor er sie, wie ihm befohlen worden, ausgeführt hatte. Noe wußte es in der Zeit, in der es Gott gefiel, wie seine Arche werden sollte, Gott aber wußte vor der Zeit, wie seine Arche, nämlich Dein glorwürdiger Leib, werden sollte. Noe freute sich über seine Arche, bevor dieselbe gebaut wurde. Deiner, o Jungfrau, freute Gott selber sich höchlichst, bevor er Dich schuf. Noe freute sich, weil seine Arche so fest zusammengefügt werden sollte, daß sie vor keinem Sturmandrange auseinandergehen würde; Gott freute sich, daß Dein Leib so tugendhaft und stark werden sollte, daß er von keiner Bosheit Härte, welche ihren Anteil in der Hölle haben wird, zu irgend einiger Sünde bewegt werden sollte. Noe freute sich, daß seine Arche inwendig und auswendig so verpicht werden sollte, daß kein Unflat durchzudringen vermöge; Gott freute sich deshalb, weil er vorauswußte, daß Dein Wille durch seine Güte so gut werden sollte, daß Du mit der Salbung des heiligen Geistes innen und außen so würdest übergossen zu werden verdienen, daß dem ehrsüchtigen Verlangen nach den zeitlichen Dingen, die in der Welt erschaffen werden sollten, in Deinem Herzen durchaus kein Eingang sollte geöffnet werden, denn die weltliche Ehrsucht ist Gott an einem Menschen so verhaßt, wie dem Noe der Unflat in seiner Arche. Noe freute sich an dem weiten Umfange seiner Arche; Gott freute sich Deiner überaus weiten und barmherzigen Liebe, womit Du alle auf das Vollkommenste lieben solltest, kein Geschöpf jedoch unvernünftig hassen würdest, besonders aber, weil jene Deine gütigste Liebe sich so erweitern sollte, daß der unermeßliche Gott, 45 dessen Größe unbegreiflich ist, sich herablassen würde, in Deinem gesegneten Schoße zu liegen und zu weilen. Noe freute sich auch, daß seine Arche ganz hell gemacht werden sollte; Gott freute sich, daß Deine Jungfräulichkeit bis zu Deinem Tode sich so leuchtend erhalten sollte, daß die Ansteckung von keinerlei Sünde dieselbe zu verdunkeln imstande sein sollte. Noe freute sich, daß er allen notwendigen Lebensunterhalt in seiner Arche haben sollte; Gott war erfreut, daß er seinen ganzen Leib von Deinem Leibe allein ohne einigen Mangel annehmen würde. Ja noch mehr freute sich Gott Deiner, o keuscheste unter den Jungfrauen, als Noe über seine Arche. Denn Noe wußte voraus, daß er aus seiner Arche mit demselben Leibe, womit er hineinging, auch wieder herausgehen würde; Gott wußte auch voraus, daß er in die Arche Deines ehrbarsten Leibes ohne Körper eingehen würde, heraus aber mit einem aus Deinem reinsten Fleische und reinsten Blute bereiteten Leibe kommen würde. Noe wußte, daß er seine Arche leer lassen würde, wenn er daraus hinweggehen würde, und alsdann zu derselben durchaus nicht zurückkehren werde; Gott wußte auch vom Anfange der Welt, daß, wann er von Dir mit seiner Menschheit werde geboren werden, Du Jungfrau und glorwürdige Mutter nicht wie die Arche Noah leer werden, sondern mit allen Gaben des heiligen Geistes vollständigst angefüllt bleiben würdest. Und obwohl bei seiner Geburt sein Leib von dem Deinigen abgesondert werden sollte, wußte er gleichwohl zuvor, daß Du ewig unzertrennlich bei ihm bleiben würdest.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel III.
Am Sonntage. Dritte Lektion.
Absolution.
Du, die Du Gottes Herberge geworden, wollest uns Gott gnädig stimmen! Amen.
"Der Erzvater Abraham liebte seinen Sohn Isaak, sobald Gott ihm die Geburt dieses Sohnes verheißen, schon viele Jahre, 46 bevor derselbe empfangen war. Dich aber, o süßeste Jungfrau Maria, liebte, ehe irgend etwas erschaffen ward, der allmächtige Gott selber, weil er von Ewigkeit her vorauswußte, daß Du ihm zur größten Freude geboren werden solltest. Der Patriarch wußte nicht voraus, daß durch den ihm verheißenen Sohn seine eigene große Liebe zu Gott offenbar werden sollte; Gott aber wußte vom Anfange an gar wohl, daß durch Dich seine überaus große Liebe zum menschlichen Geschlechte allen auf eine einleuchtende Weise deutlich werden solle. Abraham wußte vorher, daß sein Sohn mit keuscher Schamhaftigkeit empfangen und von einem ihm fleischlich verbundenen Weibe geboren werden sollte; Gott aber wußte vorher, daß er in Dir, o keuscheste Jungfrau, ohne Mitwirkung eines Mannes mit Ehren empfangen und bei unversehrter Jungfräulichkeit durch Dich auf die ehrbarste Weise geboren werden sollte. Abraham erkannte, daß das Fleisch seines Sohnes, nachdem er denselben erzeugt, von seinem Fleische wesentlich abgesondert werden mußte; Gott der Vater aber wußte voraus, daß das gebenedeite Fleisch, welches sein übersüßer Sohn von Dir, o edelste Mutter, anzunehmen entschlossen war, von seiner Majestät nimmer gesondert werden sollte; denn der Sohn im Vater und der Vater im Sohne sind wesentlich und unzertrennlich in Gott. Abraham erkannte, daß das von seinem Fleische geborene Fleisch verwesen und wie sein eigenes Fleisch in Staub verwandelt werden würde; Gott aber wußte, daß Dein gar reines Fleisch ebensowenig sich auflösen oder verwesen solle, als sein heiligstes Fleisch, das von Deinem jungfräulichen Fleische geboren werden sollte. Abraham erbaute seinem Sohne, bevor derselbe empfangen war, eine Wohnung, auf daß derselbe, wenn er geboren worden, in derselben wohnen möchte; Dir aber, o unvergleichliche Jungfrau, war das Haus, in welchem Du wohnen solltest, nämlich der allmächtige Gott selber von Ewigkeit her vorher verordnet. Ach, des unaussprechlichen Hauses, das Dich nicht nur von außen umgab, indem es Dich vor allen Gefahren beschirmte, sondern auch in Dir wohnte, und Dich zur Vollendung aller Tugenden stärkte! Mit drei Gaben versah Abraham sodann seinen noch nicht empfangenen Sohn, nämlich: mit Getreide, Wein und Öl, auf daß er, wenn er geboren worden, damit gespeist werden möchte und diese drei Dinge waren nach Ansehen, Wesen 47 und Geschmack voneinander verschieden; für Dich aber, o wünschenswerte Jungfrau, hatte zu Deiner unaufhörlichen Speisung Gott selber in den drei Personen, welche in dem göttlichen Wesen mit nichten voneinander verschieden sind, von Ewigkeit her gesorgt und dieser nämliche Gott ist Deinetwegen, o Maria, Du Näherin der Armen, dem armen menschlichen Geschlechte zu einer ewigen Speise verordnet worden. Unter den drei Dingen, womit der Erzvater seinen Sohn versorgte, können die drei Personen: Vater, Sohn und heiliger Geist verstanden werden. Denn wie das mit Fettigkeit gesättigte Öl nicht eher brennen kann, bevor man einen Docht daranlegt, also leuchtete auch des Vaters feuerigste Liebe nicht eher offenbar in der Welt, bevor sein Sohn von Dir, o vorher erwählte Braut Gottes, den menschlichen Leib, welcher unter dem Dochte verstanden wird, annahm. Wie auch aus Getreide kein Brot werden kann, bevor dasselbe mit mehreren Werkzeugen zubereitet worden, so erschien auch der Sohn Gottes, welcher eine Speise der Engel ist, unter der Gestalt des Brotes zur Speise des Menschen nicht eher, bevor sein Leib in Deinem gesegneten Leibe aus mehreren Gliedern und Adern zusammengesetzt worden war. Wie auch der Wein nicht anders getragen werden kann, als wenn zuvor die Gefäße dazu in den Stand gesetzt worden, in ähnlicher Weise sollte des heiligen Geistes Gnade, die unter dem Weine verstanden wird, dem Menschen im ewigen Leben nicht geschenkt werden, bevor der Leib Deines liebreichsten Sohnes, welcher unter dem Gefäße verstanden wird, durch den Tod und das Leiden vorbereitet worden wäre. Denn aus diesem heilsamen Gesäße wird die Süßigkeit aller Gnaden den Engeln und Menschen reichlichst geschenkt.
Du aber, Herr, u. s. w." 48
Kapitel IV.
In den drei folgenden Lektionen zeigt der Engel, wie die Engel nach Luzifers Fall von der Erschaffung der seligsten Jungfrau wußten und wie sehr sie sich derselben freuten, auch wie nach der Erschaffung der Welt die Jungfrau vor Gott und den Engeln dazustehen schien.
Am Montage. Erste Lektion.
Absolution.
In die Gesellschaft der himmlischen Bürger möge uns die Königin der Engel einführen! Amen.
"Weil nun Gott wußte, daß er alles in sich selber zu seiner Freude ewig genug hätte, ward er aus der Inbrunst seiner Liebe allein bewegt, etwas zu erschaffen, damit auch andere seiner unaussprechlichen Freude teilhaftig werden könnten. Darum erschuf er der Engel unaussprechliche Menge und gab ihnen den freien Willen, nach ihrem Vermögen zu thun, was sie wollten, daß, gleichwie er selber durch keine Notwendigkeit gezwungen, sondern durch die Glut eigener Liebe bewogen, sie zu einer nie endenden Freude erschaffen hatte, so auch sie selber nicht mit Widerwillen, sondern mit freier Neigung ihrem Schöpfer unablässig Liebe für Liebe und Ehrfurcht für den unaufhörlichen Trost darbringen möchten. In demselben Augenblicke aber, wo sie geschaffen worden, mißbrauchten einige unter ihnen die lieblichste Gabe des freien Willens und begannen in boshafter Weise ihrem Schöpfer, den sie für seine überaus große Liebe aufs höchste hätten lieben müssen, mißgünstig zu sein. Deshalb stürzten sie sogleich aus der ewigen Glückseligkeit vermöge ihrer Bosheit verdientermaßen in endloses Elend hinab. Die anderen Engel aber blieben in der ihnen bereiteten Herrlichkeit bei ihrer Liebe und liebten Gott für seine Liebe feurig, da sie in ihm alle Schönheit, alle Macht und alle Kraft erblickten. Die Engel erkannten ferner aus dem Anschauen Gottes, wie er allein ohne Anfang und ohne Ende sei und sie selber ebenfalls von ihm erschaffen worden, auch alles, was sie Gutes hatten, seiner Güte und Macht verdankten. Sie erhielten auch durch sein herrliches Anschauen, 49 durch seine Weisheit eine so weise Einsicht, daß sie nach Lenkung der göttlichen Zulassung klar voraus erkannten, was sich künftig begeben werde. Hierunter war ihnen am liebsten, daß sie vorauswußten, Gott wolle in seiner Demut und Liebe zu seiner Herrlichkeit und zum Troste seines Heeres jene himmlischen Wohnungen wieder anfüllen, aus denen die ungehorsamen Engel wegen ihres Stolzes und Neides jammervoll herausgeworfen waren. Sie erblickten auch in jenem gebenedeiten Spiegel, nämlich in Gott, ihrem Schöpfer, einen Ehrenstuhl so nahe bei Gott, daß es unmöglich schien, es könne ihm ein anderer Stuhl noch näher kommen, sie wußten aber auch, daß das Wesen, für welches dieser Stuhl von Ewigkeit her zubereitet gehalten ward, noch unerschaffen war. Infolge des Anschauens der Klarheit Gottes entflammte alle ohne Zweifel in einem Augenblicke die göttliche Liebe so sehr, daß ein jeglicher den anderen liebte wie sich selber, doch liebten sie Gott hauptsächlich und über alles, jenes unerschaffene aber, das auf dem Gott nächsten Stuhle seinen Platz finden sollte, mehr als sich selber; denn sie sahen, wie Gott jenes Unerschaffene am meisten liebte und sich seiner höchlichst freute. O Jungfrau Maria, Du Trost aller, Du gerade bist das Wesen, zu welchem die Engel vom Anbeginne ihrer Erschaffung an in solcher Liebe entbrannt waren, daß, obwohl sie von der Süßigkeit und Klarheit, welche sie beim Anschauen Gottes und in ihrer Annäherung zu ihm hatten, unaussprechliche Freude empfanden, sie sich doch am meisten darüber freuten, daß Du Gott näher kommen solltest, als sie selber, und weil sie wußten, daß Dir eine größere Liebe und Süßigkeit, als sie selber genossen, aufbewahrt werden sollte. Sie sahen auch auf jenem Stuhle eine Krone von solcher Schönheit und Würde, daß außer der Majestät Gottes allein, keine andere Majestät sie übertreffen sollte. Obwohl sie daher wußten, daß Gott wahrhaft eine große Ehre und Freude daran hatte, sie selber erschaffen zu haben, erkannten sie doch, daß Gott eine größere Ehre und Freude daraus erwachsen werde, daß Du für eine so erhabene Krone erschaffen werden würdest. Und deshalb freuten sich die Engel mehr, daß Gott Dich erschaffen wollte, als darüber, daß er sie selbst erschaffen hatte. Und so bist Du, heiligste Jungfrau, für die Engel, sobald sie erschaffen waren, eine Freude gewesen; Du, die Du für Gott selber ohne Anfang 50 die höchste Freude gewesen bist. Und so haben sich fürwahr Gott mit den Engeln, und die Engel mit Gott, Deiner, o Jungfrau, die Du unter allen Geschöpfen das würdigste bist, auf das innigste, noch ehe Du geschaffen warst, gefreut.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel V.
Am Montage. Zweite Lektion.
Absolution.
Die zur Mutter Gottes erwählte Jungfrau wolle uns zeigen, welches der rechte Weg zum Vaterlande sei! Amen.
"Da nun Gott entschlossen war, die Welt samt den übrigen Kreaturen, welche sich darin befinden, zu erschaffen, sprach er: Es werde! Und sofort war vollkommlich gemacht, was er zu erschaffen beabsichtigte. Nachdem die Welt und alle Kreaturen, außer dem noch unerschaffenen Menschen allein, vollkommen gemacht worden, und vor dem Auge Gottes in Schönheit und voll Ehrerbietung dastanden, stand noch eine, aber kleinere Welt vor Gott, aber bei aller Schönheit noch unerschaffen, aus welcher Gott mehr Ehre, den Engeln größere Freude, und jeglichem Menschen, der ihrer Güte genießen möchte, größerer Nutzen, als aus dieser größeren Welt erwachsen sollte. O überaus süße Gebieterin Jungfrau Maria, die Du allen liebenswürdig, allen nützlich bist, unter dieser kleineren Welt wirst nicht unfüglich Du verstanden. Aus der Schrift entnimmt man ferner, wie es Gott gefallen, in dieser größeren Welt das Licht von der Finsternis zu scheiden. Aber fürwahr, die Scheidung des Lichtes und der Finsternis, welche an Dir nach Deiner Schöpfung vollzogen werden sollte, hat ihm weit besser gefallen, da die Unwissenheit des zarten Kindesalters, welche mit der Finsternis zu vergleichen, ganz von Dir fern bleiben sollte, dagegen die Kenntnis Gottes samt dem Willen und der Einsicht, nach seinem Willen zu leben, welche sich mit dem Lichte vergleichen läßt, mit einer gar inbrünstigen Liebe in größter Fälle in Dir bleiben sollte. 51 Ganz füglich wird also dieses zarte Kindesalter mit der Finsternis verglichen, in welcher Gott nicht erkannt, und noch in keinerlei Weise durch die Vernunft unterschieden wird, was man zu thun hat. Dieses zarte Kindesalter hast Du, aller Sünde ledige Jungfrau, in unschuldigster Weise verlebt. Wie Gott sodann zwei Lichter, welche für diese Welt nötig waren, samt den Sternen, erschaffen, eines, damit es dem Tage, das andere, damit es der Nacht gebieten möge, so hat Gott auch an Dir für die Erschaffung zweier anderer, noch hellerer Lichter gesorgt. Das erste war Dein göttlicher Gehorsam, welcher gleich der Sonne vor den Engeln im Himmel und den guten Menschen in der Welt, denen in Wahrheit Gott der ewige Tag ist, im hellsten Lichte strahlen sollte. Das zweite Licht aber war Dein überaus standhafter Glaube, durch welchen bei nächtlicher Zeit, d. h [sic!]von der Stunde an, wo der Schöpfer im Fleische für das Geschöpf leiden mußte, bis zu seiner Auferstehung, viele, welche in der Finsternis der Verzweiflung und des Unglaubens jammervoll umherirrten, wie durch den Glanz des Mondes zur Erkenntnis der Wahrheit geführt werden sollten. Deines Herzens Gedanken erschienen auch darin den Sternen ähnlich, daß Du von der Zeit an, worin Du zuerst die Erkenntnis Gottes gehabt, in der göttlichen Liebe bis zum Tode so inbrünstig geblieben bist, daß im Angesichte Gottes und der Engel alle Deine Gedanken heller leuchteten, als die Sterne den Augen der Menschen sich darstellen. Alle Worte Deiner Lippen, welche aus Deinem irdischen Leibe zu den Ohren der Majestät, welche auf dem Throne sitzt, zum Jubel der Engel mit aller Lieblichkeit emporsteigen sollten, waren durch den hohen Flug der Vögel verschiedener Art und deren süßtönenden Gesang vorgebildet. Außerdem bist Du der ganzen Erde darin gleich gewesen, daß, wie alle Wesen, welche in dieser größeren Welt einen irdischen Leib haben, mit den Früchten der Erde sich zu nähren haben, so auch alle diese Dinge nicht nur ihre Nahrung, sondern sogar ihr Leben selbst von Deiner Frucht erhalten sollten. Den Blüten und Frucht tragenden Pflanzen könnten aber mit Recht Deine Werke verglichen werden; denn Du solltest dieselben mit so großer Liebe thun, daß sie Gott und die Engel mehr erfreuen mußten, als die Schönheit aller Blumen und die Lieblichkeit aller Früchte, da insonderheit ohne Zweifel zu glauben ist, daß Gott in 52 Dir vor Deiner Erschaffung mehr Tugenden vorhergesehen, als Vorzüge an allen Kräutern, Blumen, Bäumen, Früchten, Steinen, Edelgestein oder Metallen, welche in der ganzen weiten Welt gefunden werden könnten. Deshalb ist es kein Wunder, wenn Gott sich an Dir, Du kleinere Welt, die Du erst noch erschaffen werden solltest, mehr erfreute, als an dieser größeren Welt. Denn obwohl die Welt vor Dir erschaffen worden, sollte dieselbe doch untergehen samt allem, was darin war, Du aber solltest in Deiner unverwelklichen Schönheit nach der ewigen Vorherbestimmung Gottes in seiner liebendsten Liebe unzertrennlich verbleiben. Jene größere Welt hat in keiner Weise verdient und konnte mit nichts verdienen, ewig zu werden, aber Du, o glückliche Maria, Du aller Tugenden vollste Fülle, hast nach Deiner Erschaffung mit Hilfe der göttlichen Gnade alles, was Gott an Dir hat thun wollen, mit der Vollkommenheit aller Tugenden in würdigster Weise verdient.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel VI.
Am Montage. Dritte Lektion.
Absolution.
Die mit der Tugenden Krone gezierte Königin sei immerdar bereit, uns zu schirmen! Amen.
"Gott ist es, der alle Tugend wirkt und selbst die Tugend ist, ja, es ist sogar allen Kreaturen, welche erschaffen worden, unmöglich, ohne seine Hilfe in irgend einer Tugend zu leuchten. Er hat im Anfange, nachdem er die Erschaffung der Welt und aller Kreatur vollendet, zuletzt durch seine Kraft den Menschen erschaffen, indem er demselben den freien Willen gab, damit er durch denselben beharrlich im Guten zu guter Belohnung bleiben, in das Böse aber zu böser Vergeltung nicht verfallen möge. Denn wie bei den Menschen die Arbeiten derjenigen wenig geachtet werden, welche zu arbeiten widerstreben, solange sie nicht im Blocke, oder in einer Fessel zu arbeiten angehalten werden, die Werke derjenigen aber der Liebe und des besten Lohnes wert geachtet werden, welche nicht 53 wider Willen, sondern mit freiem Willen das, was sie thun müssen, in aufrichtiger Liebe vollenden, so würden ähnlicherweise, wenn Gott den Engeln und den Menschen den freien Willen nicht gegeben hätte, dieselben gewissermaßen zu dem, was sie thun, genötigt und ihre Werke einer geringen Belohnung wert erscheinen. Es gefiel daher der Vollkommenheit, welche in Gott ist, ihnen die Freiheit zu geben, zu thun, was ihnen gefallen würde, und hat ihnen die volle Erkenntnis gegeben, welche Vergeltung der göttliche Gehorsam verdienen würde, und welcher Strafen der hartnäckige Ungehorsam die Schuldigen würdig mache. Fürwahr! eine große Tugendkraft hat Gott gezeigt, als er den Menschen zu dem Ende aus Erde formte, daß er durch Liebe und Demut verdienen möge, ein Bewohner der himmlischen Wohnungen zu werden, aus denen die Engel, welche dem göttlichen Willen widerstrebten, für ihre Hoffart und ihren Neid zu ihrem Unglücke verstoßen sind. Die Tugenden, für welche sie in erhabener Weise hätten gekrönt werden können, waren ihnen verhaßt; denn niemand möge zweifeln, daß, wie ein König durch die Königskrone geehrt und verherrlicht wird, so auch jegliche Tugend ihren Vollbringer nicht allein vor den Menschen ehrt, sondern selbst vor Gott und den Engeln wie eine leuchtende Krone in herrlicher Weise ziert, weshalb denn jegliche Tugend nicht unfüglich eine glänzende Krone genannt werden mag. Deshalb ist zu glauben, wie wahrhaft unschätzbar die Anzahl der Kronen ist, in denen Gott selber in erhabenster Weise glänzt, dessen Kraft alles, was war, was ist, was sein wird, an Menge, Größe und Würde unvergleichlich übertrifft; denn obwohl er in allem stets seine Kraft geoffenbart hat, so ist es besonders eine dreifache Kraft, welche ihn auf herrlichere Weise wie eine dreifache, überaus leuchtende Krone schmückt. Die Kraft, in der er die Engel schuf, war seine erste Krone, deren sich aber ihrer viele, welche Gott um seine Herrlichkeit beneideten, auf unglückliche Weise selber beraubt haben. Die Kraft, in welcher er den Menschen erschuf, war seine zweite Krone. Ihrer ward der Mensch gleichfalls, als er in seiner Thorheit feindseliger Eingebung zustimmte, mit einem Male beraubt. Doch hat durch den Fall jener Engel oder des Menschen die Kraft Gottes oder die Herrlichkeit seiner Kraft nicht vermindert werden können, obwohl sie für ihre Ungerechtigkeit unrühmlich aus ihrer Herrlichkeit gefallen 54 sind, weil sie Gott dafür, daß er sie zu seiner und ihrer Ehre geschaffen hatte, keine Ehre vergelten wollten. Ja, die überaus weise Weisheit Gottes hat ihre Nichtswürdigkeit in die Verherrlichung seiner Vollkommenheit umgewandelt. Jene Kraft aber, in welcher er Dich, o wünschenswürdige Jungfrau, zu seiner ewigen Herrlichkeit erschaffen, hat ihn wie eine dritte Krone geziert; durch welche, wie die Engel erkannten, die Risse der früheren Kronen wieder ergänzt werden sollten, Deshalb, o Gebieterin, kannst Du, o Hoffnung unseres Heiles, mit Recht die Krone der Ehre Gottes genannt werden; denn wie er durch Dich die höchste Kraft vollbracht hat, also kommt ihm durch Dich die höchste Ehre vor allen seinen Geschöpfen. Die Engel haben ohne Zweifel, als Du vor Gottes Anblicke noch unerschaffen standest, deutlich erkannt, daß Du den Teufel, welcher sich selber in seiner Hoffart verdammt und den Menschen durch seine Bosheit verraten hatte, durch Deine heiligste Demut überwinden würdest. Wenn daher auch die Engel den Menschen in ein großes Elend hatten stürzen sehen, so konnten sie doch in der Freude über das Anschauen Gottes keine Trauer empfinden, besonders da ihnen genugsam bekannt war, welche und wie große Dinge Gott nach Deiner Erschaffung zu thun sich herablassen wollte.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel VII.
In den folgenden drei Lektionen handelt der Engel von der Buße Adams und von dem Troste, den er aus dem Vorherwissen der künftigen Erschaffung der seligen Jungfrau und deren großen Demut und Würde schöpfte. Wie Abraham, der Patriarch, und Isaak und Jakob, ingleichen alle Propheten durch die bevorstehende Geburt der verehrungswürdigen Mutter Gottes getröstet worden.
Am Dienstage. Erste Lektion.
Absolution.
Vor dem bösen Feinde beschütze uns die liebevolle Jungfrau! Amen.
"Die heilige Schrift bezeugt, daß Adam, da er in der Seligkeit des Paradieses lebte, das Gebot Gottes übertreten, sie erwähnt 55 aber nicht, daß er auch dann, nachdem er ins Elend gekommen, wider den Willen Gottes ungehorsam gewesen. Daß Adam Gott von ganzem Herzen geliebt, geht in der That besonders daraus hervor, daß er, nachdem sein Sohn an seinem Bruder den Totschlag begangen, die fleischliche Genossenschaft seines Weibes mied und erst als er den Befehl Gottes vernommen, trat er mit seinem Weibe wieder in eheliche Verbindung. Es that ihm mehr leid, seinen Schöpfer beleidigt, als sich selber in die Marter der schwersten Pein gestürzt zu haben. Es ist daraus zu erkennen, wie es nicht ungerecht gewesen sein möchte, daß, gleichwie der Zorn Gottes wegen seines Stolzes über ihn kam, da er in seinem Glücke Gott beleidigt hatte, - ihm nun auch in seinem Elende deshalb großer Trost gewährt wurde, weil er in gar schwerer Buße und wahrer Demut tief seufzte, daß er einen so gütigen Schöpfer zum Zorne gereizt hatte. Adam hätte aber durchaus keinen größeren Trost empfangen können, als da er die Versicherung erhielt, Gott wolle sich herablassen, von seinem Geschlechte geboren zu werden, um mit Demut und Liebe diejenigen Seelen zu erlösen, welche Adam, durch des Teufels Neid verderbt, aus dem ewigen Leben verstoßen hatte. Wie es aber allen Weisen unmöglich erscheinen würde, wie es denn auch ist, daß Gott, dem nur die allerehrbarste Geburt geziemen würde, einen menschlichen Leib aus fleischlicher Begierlichkeit annehmen sollte, wie andere Kinder, so hat auch Adam dieses für noch unmöglicher gehalten, weil er selber ohne Lust des Fleisches geschaffen worden. Adam erkannte auch, daß es dem Schöpfer aller Dinge nicht gefallen würde, für sich auf die nämliche Weise einen menschlichen Leib zu erschaffen, wie er seinen und Evas Leib erschaffen; darum glaubte er, daß Gott aus einer Person, welche dem Leibe nach Eva ähnlich wäre, die aber über alle, die von einem Manne und Weibe geboren worden und geboren werden sollten, in Vollkommenheit aller Tugenden hervorblühen sollte, das menschliche Fleisch annehmen, und von ihr, ohne Versehrung ihrer Jungfräulichkeit, mit der Gottheit und Menschheit auf die ehrbarste Weise geboren werden wollte. Deshalb ist dann zu erkennen, wie es auch ohne allen Zweifel geglaubt werden muß, daß, wie Adam, als er die wiederkehrende Zuneigung Gottes erkannte, über die Worte, welche Eva aus der Unterredung mit dem Teufel gelernt, großen 56 Schmerz empfand, er auch in ähnlicher Weise, nachdem er in Schmerz und Elend geraten, über die Worte, welche Du, Maria, Du Hoffnung aller, dem Engel antworten solltest, große Freude und Trost empfand. Adam schmerzte es auch, daß Evas aus seinem eigenen Leibe erschaffener Leib ihn betrüglicherweise in den ewigen Tod der Hölle gezogen, er freute sich aber, weil er vorher wußte, daß aus Deinem Leibe, o ehrbarste der Jungfrauen, jener ehrwürdige Leib geboren werden sollte, welcher ihn und seine Nachkommenschaft mächtig zum himmlischen Leben zurückführen sollte. Adam war auch betrübt, daß Eva, seine geliebte Genossin, aus übergroßer Hoffart ihrem Schöpfer ungehorsam zu werden angefangen; er war aber voll Jubel, weil er voraussah, daß Du, o Maria, seine liebste Tochter, Gott in allen Stücken gehorchen wolltest. Adam war betrübt, weil Eva aus Hoffart in ihrem Herzen gesprochen, daß sie Gott gewissermaßen gleich sein wolle, weshalb sie zu großem Ärgernisse vor dem Angesichte Gottes und der Engel gefallen ist; er freute sich aber, weil in jenem Vorherwissen Dein Wort, in welchem Du Dich demütiglich als eine Dienerin Gottes bekennen solltest, zu Deiner großen Ehre leuchtend erglänzte. Adam war auch betrübt, weil Evas Wort Gott, ihm und seinen Nachkommen zur Verdammnis, erzürnt hatte; er jubelte aber, weil Dein Wort auf Dich und alle, die durch Evas Wort verdammt waren, Gottes Liebe zu großem Troste herabziehen sollte, denn Evas Wort hat sie und ihren Mann zu großem Schmerze aus der Herrlichkeit verstoßen, und des Himmels Pforten ihnen und ihren Kindern verschlossen, Dein gebenedeites Wort aber, o Mutter der Weisheit, hat Dich zu großer Freude geführt und allen, welche dort eintreten wollen, die Thore des Himmels geöffnet. Wie daher die Engel des Himmels sich darüber freuten, daß sie vor der Welt Anfang voraussahen, wie Du solltest geboren werden, so hatte auch Adam aus dem Vorherwissen Deiner Geburt große Freude und Frohlocken.
Du aber, Herr, u. s. w." 57
Kapitel VIII.
Am Dienstage. Zweite Lektion.
Absolution.
Hilf uns, o liebenswerte Jungfrau, in den grausamen Gefahren dieser Welt! Amen.
Nachdem nun Adam aus dem Paradiese verstoßen war, erfuhr er die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes an sich selber, so daß er Gott fürchtete wegen der Gerechtigkeit und ihn liebte alle Zeit seines Lebens wegen seiner Barmherzigkeit auf das innigste. Die Welt war ohne Zweifel in gutem Zustande, solange seine Nachkommenschaft das Gleiche that. Als aber die Menschen aufhörten, die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes in Betracht zu ziehen, vergaßen viele unter ihnen ihres Schöpfers; denn die Menschen glaubten, was ihnen gefiel, und brachten ihre Zeit abscheulich hin in der Schandbarkeit der Fleischeslust. Gott, welcher davor einen großen Abscheu hatte, tötete alle Bewohner der Welt durch eine Sündflut; diejenigen ausgenommen, welche er mittels der Arche Noahs durch seine Vorherbestimmung zur Erneuerung der Welt rettete. Nachdem sich nun das Menschenvolk aufs neue vermehrt hatte, fiel es, auf Anstiften des bösen Geistes, vom Dienste des wahren Gottes durch den Götzendienst ab, indem es sich ein Gesetz machte, das dem göttlichen Willen zuwider war. Aber Gott, durch seine barmherzigste väterliche Liebe bewogen, suchte Abraham, den wahren Eiferer für seinen Glauben, heim, und machte mit ihm und seiner Nachkommenschaft einen Bund. Auch erfüllte Gott das Verlangen Abrahams und schenkte ihm seinen Sohn Isaak, aus dessen Geschlechte er seinen Sohn Jesum Christum geboren werden zu lassen verhieß. Hiernach dürfte wohl als glaublich zu erachten sein, wie dem Abraham zugleich auf göttliche Weise gezeigt worden, daß eine von den Töchtern seines Stammes, eine fleckenlose Jungfrau, den Sohn Gottes gebären würde. Man glaubt auch, Abraham habe sich über diese künstige Tochter mehr gefreut, als über seinen Sohn Isaak, dieselbe auch mit größerer Liebe, als seinen Sohn 58 Isaak umfaßt. Man soll auch erkennen, wie Abraham, der Freund Gottes, nicht aus Hoffart oder Begierlichkeit zeitliche Güter erworben, noch auch den Sohn zu leiblichem Troste begehrt habe; denn er war wie ein guter Gärtner, welcher seinem Herrn getreulich diente, einen Rebzweig in sein Land pflanzte und wohl wußte, wie zahllose Weinstöcke davon gepflanzt und ein auserlesener Weinberg daraus würde, und deshalb sammelte er Dünger, damit die Weinstöcke, dadurch fett geworden, nicht welk, sondern tragbar zu guter Frucht werden möchten. Dieser Gärtner freute sich, als er zum voraus erkannte, daß aus seinen Zweigen ein so hoher und lustiger Baum sich erheben würde, daß es dem Herrn die höchste Freude machen sollte, um der Schönheit jenes Baumes willen in dem Weinberge zu kustwandeln, und daß eben dieser Herr von seinen süßen Früchten kosten und unter seinem Schatten mit Lust sitzen und ruhen würde. Unter diesem Gärtner wird Abraham verstanden, unter dem Weinrebzweige sein Sohn Isaak. Die vielen Weinstöcke, welche davon gepflanzt werden sollten, bedeuten seine ganze Nachkommenschaft. Unter dem Dünger wird der weltliche Reichtum verstanden, welchen der von Gott geliebte Abraham nur zur Unterhaltung des Volkes Gottes begehrte. Unter dem gar schönen Baume wird die Jungfrau Maria verstanden, unter dem Herrn Gott der Allmächtige, welcher nicht eher in den Weinberg, d. h. in das Geschlecht Abrahams, zu kommen beschloß, bevor der hohe Baum hervorgewachsen, d. h. die glorwürdige Jungfrau Maria, seine teuerste Mutter, zum gebärenden Alter gelangt sein würde. Ihr gar unschuldiges Leben wird verglichen mit der Schönheit, deren Anschauen Gott Vergnügen machte; ihre Gott höchlich gefallenden Werke werden unter den süßen Früchten verstanden, unter dem Schatten aber ihr jungfräulicher Leib, welchen die Kraft des Höchsten überschattete. Weil nun Abraham vorherwußte, daß diese Jungfrau, welche Gott gebären sollte, aus seinem Geschlechte hervorgehen würde, ward er durch sie mehr getröstet, als durch alle Söhne und Töchter seines Stammes. Diesen Glauben und die heilige Hoffnung der künftigen Geburt Gottes, aus der Nachkommenschaft desselben Abraham, hinterließ der nämliche Abraham mit großem Glauben seinem Sohne Isaak als Erbteil, wie daraus erweislich hervorgeht, daß er seinen Knecht, den er nach einem Weibe für seinen Sohn aussendete, auf seine 59 Lenden schwören ließ, d. h. auf denjenigen, welcher künftig aus seinen Lenden hervorgehen sollte, indem er dadurch zu verstehen gab, daß der Sohn Gottes aus seiner Nachkommenschaft hervorgehen würde. Auch Isaak hinterließ seinem Sohne Jakob, wie man aus dem Segen ersieht, welchen er ihm erteilte, dasselbe Erbteil, das ist, den obengedachten Glauben und die Hoffnung. Als aber Jakob seine zwölf Söhne, einen nach dem anderen segnete, unterließ er nicht, seinen Sohn Juda mit der nämlichen Erbschaft zu trösten. Hierdurch wird in der That erwiesen, daß Gott seine Mutter vom Anfange an so geliebt habe, daß, wie er selber, bevor etwas erschaffen ward, sich ihrer höchlichst erfreute, er ebenso auch seinen Freunden damit, daß sie geboren werden sollte, großen Trost mitteilte. So ist also, wie zuerst den Engeln und dann dem ersten Menschen, auch nachmals den Erzvätern durch die künftige Geburt der Mutter Gottes eine große Freude gewährt worden.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel IX.
Am Dienstage. Dritte Lektion.
Absolution.
Die Mutter der wahren Liebe möge die Bande unserer Bosheit lösen! Amen.
"Der wahren Liebe Liebhaber und die Liebe selber ist Gott. Er hat auch den Seinigen eine große Liebe bezeigt, als er das Volk Israel durch seine Macht aus der ägyptischen Herrschaft befreite und ihnen das reichste Land bescherte, in welchem sie mit aller Freiheit glücklich wohnen sollten. Aber der arglistige Feind beneidete sie gar sehr um ihr Glück und reizte sie durch seine höhnische Tücke unzählige Male zum Sündigen. Sie bemühten sich auch nicht im mindesten, den Umtrieben des Teufels Widerstand entgegenzusetzen und wurden jämmerlich zum Götzendienste verführt, indem sie das mosaische Gesetz für nichts achteten und den Bund vergaßen und auf das thörichtste vernachlässigten, den Abraham mit Gott geschlossen hatte. Danach aber warf der barmherzige Gott seine Blicke auf seine Freunde, welche ihm in aufrichtigem Glauben 60 und wahrer Liebe, in Beobachtung des Gesetzes fromm dienten, suchte sie gnädig heim, und erweckte, auf daß sie im göttlichen Dienste feuriger werden möchten, Propheten in ihrer Mitte, damit durch dieselben, wenn sie wollten, auch die Feinde Gottes zu seiner Liebe und zum rechten Glauben zurückkehren möchten. Es ist daher fürwahr zu bemerken, daß, wie ein Gießbach, welcher vom Gipfel eines Berges in ein tiefes Thal hinabfällt, alle Dinge, die in ihm schwimmen, mit sich in das Thal hinabführt, wo man sie dann bei der Bewegung des Wassers auftauchen sieht, also auch der heilige Geist in die Herzen der Propheten zu kommen sich gewürdiget und auf ihren Lippen jene Worte hervorgebracht hat, welche er zur Besserung dieser irrenden Welt verbreiten wollte. Unter allen Dingen aber, welche durch diesen honigtriefenden Gießbach des heiligen Geistes in sie hineinfielen, floß am süßesten in ihre Herzen hinein und am lieblichsten von ihren Lippen herab, daß Gott, der Schöpfer aller Dinge, von einer unversehrten Jungfrau geboren zu werden sich herablassen wollte, und daß er durch seine heilende Genugthuung diejenigen Seelen zur ewigen Herrlichkeit erlösen wollte, welche Satanas durch Adams Sünde ins Elend gestürzt hatte. Sie erkannten auch mit dem Einströmen dieses Gießbaches, daß Gott der Vater zur Erlösung des Menschen so gütig sein wolle, daß er seines eingeborenen Sohnes nicht schonen würde, und daß der Sohn dem Vater so gehorsam sein wolle, daß er nicht versagen würde, das sterbliche Fleisch anzunehmen, auch daß der heilige Geist sich gar gern mit dem Sohne, welcher jedoch vom Vater durchaus nicht getrennt war, senden lassen wolle. Aber auch das war den Propheten genugsam bekannt, daß jene Sonne der Gerechtigkeit, der Sohn Gottes, in die Welt nicht kommen würde, bevor der Stern aus Israel aufgegangen sein würde, der vermöge seiner Wärme sich der Sonne nahen könnte. Unter diesem Sterne nun ist die Jungfrau zu verstehen, welche Gott gebären sollte; unter der Wärme aber ihre überaus brünstige Liebe, mittels deren sie Gott und Gott ihr sich so nähern sollte, daß Gott allen seinen Willen an ihr vollbringen konnte. Und fürwahr, wie die Propheten von dieser unerschaffenen und alles schaffenden Sonne in Worten und Werken Stärke erlangt haben, so hat auch Gott mittels dieses Vorherwissens, wodurch er wußte, daß dieser Stern, nämlich Maria, ge- 61 schaffen werden würde, ihnen in ihren Trübsalen großen Trost gespendet. Denn die Propheten waren sehr betrübt, als sie die Kinder Israel aus Hoffart und fleischlichem Mutwillen das Gesetz Mosis verlassen, und nachdem sie die göttliche Liebe verlassen, den Zorn Gottes über dieselben hereinbrechen sahen. Sie waren aber hoch erfreut, da sie vorherwußten, daß der Gesetzgeber und Herr selber durch Deine Demut und Deines Lebens Reinheit, o Maria, Du hellglänzender Stern, besänftigt werden und diejenigen wieder zu Gnaden annehmen würde, die ihn zum Zorne gereizt hatten und jämmerlich in seine Ungnade gefallen waren. Die Propheten waren überdies betrübt, weil der Tempel, worin Gottes Opfer dargebracht werden sollten, verwüstet war; sie jubelten aber, weil sie voraussahen, daß der Tempel Deines gebenedeiten Leibes, der Gott mit allem Troste in sich aufnehmen würde, erschaffen werden sollte. Sie waren ferner betrübt, daß der Satan Jerusalems Mauern geistlicherweise eingenommen hatte, nachdem ihre Pforten niedergerissen und die Feinde Gottes siegend leiblicherweise hineingekommen waren; sie waren aber voll Freude über Dich, o Maria, Du würdigste Pforte, da sie vorauswußten, daß in Dir Gott selber, der stärkste Riesenheld, die Waffen ergreifen würde, womit er den Teufel und alle Feinde besiegen sollte. Und also sind fürwahr die Propheten wie die Patriarchen von Dir, o würdigste Mutter, höchlichst getröstet worden.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel X.
In den folgenden drei Lektionen handelt der Engel von der Empfängnis und der Geburt der Jungfrau, und wie sie, auch da sie noch in ihrer Mutter Leibe war, Gott geliebt hat.
Am Mittwoch. Erste Lektion.
Absolution.
Die Jungfrau, der Weisheit Mutter, wolle die Finsternis unserer Unwissenheit erleuchten! Amen.
"Bevor das Gesetz Mosis gegeben worden, waren die Menschen lange Zeit in Unkunde, wie sie sich in ihren Handlungen in 62 diesem Leben zu verhalten hätten. Diejenigen, welche im Feuer der göttlichen Liebe brannten, ordneten, wie sie Gott zu gefallen meinten, ihre Werke und ihren Wandel mit aller Sorgfalt. Andere aber, welche die Liebe Gottes nicht hatten, verachteten die Furcht Gottes und thaten alles, was ihnen gefiel. Zu dieser Unwissenheit sich barmherzig herablassend, richtete die göttliche Güte durch Moses, ihren Diener, das Gesetz auf, durch welches sie nach allem Willen Gottes regiert werden sollten. Dieses Gesetz nun lehrte, wie Gott und der Nächste geliebt werden sollen, und wie die Ehe zwischen Mann und Frau nach ehrbarem und göttlichem Rechte zu halten sei, damit aus solcher Ehe diejenigen geboren würden, welche Gott sein Volk nennen wollte. Und fürwahr! eine solche Ehe liebte Gott so sehr, daß er beschloß, aus derselben die ehrbarste Gebärerin seiner Menschheit hervorgehen zu lassen. Wie daher ein Adler, welcher in der Luft schwebend, nachdem er viele Wälder geschaut, in der Ferne einen Baum erblickt, der so fest gewurzelt ist, daß er von dem Anfalle der Sturmwinde nicht umgeworfen werden kann, und dessen Stamm so hoch sich erhebt, daß an demselben niemand hinaufzusteigen vermöchte, und der ferner an einem solchen Orte steht, daß es unmöglich scheint, es könne von einer höheren Stelle etwas auf ihn herabfallen; wie also der Adler sich diesen Baum näher ansieht, um darauf ein Nest zu bauen, in welchem er ruhen möge, so hat Gott, diesem Adler vergleichbar, vor dessen Auge alles Zukünftige, wie auch das Gegenwärtige klar und offen daliegt, als er alle gerechten und ehrbaren Ehen überblickte, welche von der Erschaffung des ersten Menschen an bis auf den jüngsten Tag geschlossen werden sollten, keine in solcher göttlichen Liebe und Ehrbarkeit der Ehe Joachims und Annas ähnliche Ehe vorausgesehen. Und deshalb gefiel es ihm, daß aus dieser heiligen Ehe der Leib seiner ehrbarsten Mutter, welcher unter dem Neste zu verstehen ist, geboren werden sollte, damit er selbst darin ganz tröstlich zu ruhen sich herbeilassen möchte. Ganz füglich werden fromme Ehen mit schönen Bäumen verglichen, denn ihre Wurzel ist eine solche Einigung zweier Herzen, daß dieselben aus dem alleinigen Grunde sich zusammenfügen, damit Gott selber daraus Ehre und Herrlichkeit erwachse. Passend wird auch der Wille der Eheleute fruchtbringenden Ästen verglichen, wenn dieselben in allen ihren Werken so die Furcht 63 Gottes in acht nehmen, daß sie auch nur, um zu Gottes Lobe Nachkommen zu erzeugen, nach Gottes Vorschrift sich ehrbar lieben. Die Hoheit solcher Ehen vermag der Feind mit seinen Kräften und Künsten nicht zu erreichen, wofern ihre Freude eine andere ist, als daß Gott Ehre und Preis gespendet werde, und wenn dieselben keine andere Trübsal belästigt, als die Beleidigung und Verunehrung Gottes. Auf einer sicheren Stelle scheinen sie alsdann zu stehen, wenn der Überfluß der weltlichen Güter oder des Reichtumes ihre Gemüter nicht zu deren Liebe oder Hoffart anzulocken vermag. Weil nun Gott im voraus erkannte, daß Joachims und Annas Ehe eine solche werden würde, deshalb verordnete er zum voraus, daß seine Wohnung, d. h. der Leib seiner Mutter, in derselben hergestellt würde. O Anna, Du ehrwürdige Mutter! welchen kostbaren Schatz hast Du in Deinem Leibe getragen, als Maria, welche die Mutter Gottes werden sollte, in demselben ruhte. Fürwahr, ohne allen Zweifel ist zu glauben, Gott habe sofort, als dieser Schatz in Annas Leibe empfangen und gesammelt worden, den Stoff, aus welchem Maria gebildet werden sollte, mehr geliebt, als alle menschlichen, von Mann und Weib geborenen und alle Leiber, welche in der ganzen weiten Welt noch geboren werden sollten. Deshalb kann die ehrwürdige Anna in der That eine Schatzkammer des allmächtigen Gottes genannt werden, weil sie seinen über alles liebenswerten Schatz in ihrem Leibe verborgen hielt. O, wie nahe war Gottes Herz diesem Schatze! O, wie liebreich und froh richtete er die Augen seiner Majestät auf diesen Schatz, er, der nachmals in seinem Evangelium also sprach: Wo dein Schatz ist, da ist dein Herz! und deshalb ist fürwahr zu glauben, daß die Engel über diesen Schatz sich nicht wenig gefreut haben, als sie erkannten, wie ihr Schöpfer, den sie mehr liebten als sich selber, jenen Schatz also liebte. Daher möchte es wohl angemessen und würdig sein, wenn der Tag von allen in großen Ehren gehalten würde, an welchem jener Stoff in Annas Leibe empfangen und zusammengefügt worden, aus welchem der Leib der Mutter Gottes gestaltet werden sollte, die Gott selber und alle seine Engel so sehr geliebt haben.
Du aber, Herr, u. s. w." 64
Kapitel XI.
Am Mittwoch. Zweite Lektion.
Absolution.
Maria, der Stern des Meeres, wolle uns liebreichst zu Hilfe kommen! Amen.
"Als endlich jener gesegnete Stoff zur rechten Zeit im Schoße der Mutter zu einem solchen Leibe, wie er sollte, ausgestaltet worden, vermehrte der König aller Herrlichkeit seinen Schatz, indem er ihm eine lebende Seele eingoß. Und wie eine Biene in den blühenden Feldern umherfliegt und sorgfältig alle Honig bringenden Gräser durchsucht, weil sie aus natürlicher Wissenschaft zu unterscheiden weiß, wo die schönere Blume hervorsproßt, und wie sie ferner, wenn sie vielleicht sieht, daß dieselbe aus ihrer Hülse noch nicht hervorbricht, deren Aufbruch mit Verlangen und Freude erwartet, um nach ihrem Belieben ihre Süßigkeit zu genießen: so hat in ähnlicher Weise Gott im Himmel, welcher alles mit den Augen seiner Majestät klärlichst schaut, als er sah, wie Maria in der Heimlichkeit des mütterlichen Schoßes verborgen lag, da er in seinem ewigen Vorherwissen erkannte, wie ihr kein Mensch in der ganzen Welt an jeglicher Tugend ähnlich leben sollte, in vollem Troste und mit Freuden auf ihren Hervorgang gewartet, auf daß durch die Süße der Liebe der Jungfrau seine überfließende göttliche Güte offenbar würde. O, wie hell leuchtete in Annas Schoße die aufgehende Morgenröte hervor, als darin durch die Hineinkunft der Seele der kleine Leib Marias belebt ward, dessen Geburt Engel und Menschen mit großem Verlangen zu sehen begehrten. Wenn die Menschen, welche die Länder bewohnen, wo die Sonne zur Zeit des Tages wie der Nacht mit ihren Strahlen ihnen leuchtet, den Aufgang der Morgenröte nicht um des Lichtes willen begehren, da der Glanz der Sonne weit heller ist, als das Licht der Morgenröte, sondern weil sie, wenn die Morgenröte sich zeigt, erkennen, daß die Sonne höher steigen müsse und die Früchte, welche sie in ihre Scheuer zu sammeln hoffen, durch die Wohlthat der Wärme vollkommener und schneller reif werden, so freuen sich die Ein- 65 wohner derjenigen Gegenden, welche mit dem Dunkel der Nacht bedeckt sind, nicht allein darüber, daß sie wissen, nach dem Aufgange der Morgenröte müsse auch die Sonne erscheinen, sondern sind auch gar sehr darüber voll Freuden, weil sie erkennen, daß sie beim Erscheinen der Morgenröte imstande sind, ihren Beschäftigungen nachzugehen. Ähnlicherweise wünschten die heiligen Engel, die Bewohner des himmlischen Reiches, den Aufgang der Morgenröte, d. h. die Geburt Marias, nicht um des Lichtes willen zu schauen, weil die wahre Sonne, welche Gott selber ist, niemals aus ihren Augen verschwindet, sondern sie wünschten deshalb, daß sie in dieser Welt geboren werden und erscheinen möge, weil sie vorauswußten, daß Gott, welcher mit der Sonne zu vergleichen, durch diese Morgenröte seine höchste Liebe, welche unter der Wärme verstanden wird, deutlicher offenbaren wollte, und daß die Menschen, welche Gott liebten, durch die guten Werke fruchtbar und durch die beharrliche Beständigkeit im Guten reif werden würden, damit die Engel sie in jene ewigen Scheuern, welche mit der himmlischen Freude verglichen werden, zu sammeln imstande sein möchten. Die Menschen dieser finsteren Welt aber, welche die Geburt der Mutter Gottes vorauswußten, freuten sich nicht bloß darüber, weil sie erkannten, daß ihr Erlöser von ihr geboren werden sollte, sondern sie freuten sich auch deshalb, weil sie dieser ehrenreichen Jungfrau züchtigsten Wandel sahen, und von ihr vollständiger lernen sollten, was zu thun und zu meiden sei. Diese Jungfrau wurde zugleich auch jenes Reis, von welchem Isaias (XI.) vorherverkündigte, es werde aus der Wurzel Jesse hervorgehen, und die Blume, die aus derselben erwachsen sollte, auf welche, wie er weissagte, des Herrn Geist ruhen würde. O unaussprechliches Reis, dessen Mark, während es in Annas Leibe emporwuchs, auf noch herrlichere Weise im Himmel verblieb! Dieses Reis war so zart, daß es sich im Mutterleibe mit Leichtigkeit befand, sein Mark war aber der Länge und Breite nach so unermeßlich und groß, daß kein Verstand seine Größe auszudenken hinreichend war. Das Reis war nicht vermögend, die Blume hervorzubringen, bevor nicht das Mark ihm durch sein Eingehen die Kraft zum Keimen mitteilte; aber auch des Markes Kraft offenbarte sich nicht, bevor das Reis nicht seine Säfte dem Marke hinzugesellt hatte. Dieses Mark nun war die Person des Sohnes 66 Gottes, welcher, obwohl ihn der Vater vor dem Morgensterne gezeugt (Psalm CIX.), in der Blume, d. h. im menschlichen Leibe, nicht eher erschien, als bis er mit Zustimmung der Jungfrau, welche unter dem Reise verstanden wird, den Stoff zu dieser Blume aus dem reinsten Blute im mütterlichen Schoße empfangen. und obwohl dieses gesegnete Reis, nämlich die glorwürdige Maria, in ihrer Geburt vom mütterlichen Leibe getrennt ward, so ist doch der Sohn Gottes vom Vater ebensowenig getrennt worden, da ihn die Jungfrau in der Zeit leiblich geboren, als da ihn der Vater ohne Leib vor der Zeit gezeugt hatte. Auch der heilige Geist war von Ewigkeit her unzertrennlich im Vater und Sohne, weil drei Personen und eine Gottheit sind.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel XII.
Am Mittwoch. Dritte Lektion.
Absolution.
Die ehrenreiche Geburt der Mutter Christi sei uns eine ewige Lust! Amen.
"Wie nun von Ewigkeit her dem Vater, Sohne und heiligen Geiste eine Gottheit eignete, so daß niemals ihr Wille ein verschiedener war, so gingen aus der Güte des göttlichen Willens, wie wenn aus einem angezündeten Scheiterhaufen drei Flammen sich erheben, drei Liebesflammen zur Vollendung eines und desselben Werkes gleichmäßig hervor. Denn die Liebesflamme, welche vom Vater ausging, brannte gar hellleuchtend vor den Engeln, als die. selben erkannten, es sei sein Wille, seinen geliebten Sohn zur Befreiung des gefangenen Knechtes in seiner Güte daranzugeben, die vom Sohne ausgehende Liebesflamme war nicht verborgen, als er nach des Vaters Willen sich selber erniedrigen und die Gestalt eines Knechtes annehmen wollte, auch die vom heiligen Geiste ausgehende Liebesflamme erschien nicht minder brünstig, als er sich bereit erwies, des Vaters, des Sohnes und seinen eigenen Willen durch öffentliche Werke darzulegen. Und obwohl die inbrünstige Liebe dieses göttlichen Willens durch alle Himmel leuchtete, und den 67 Engeln vermöge ihres hellen Leuchtens unaussprechlichen Trost gewährte, so konnte doch nach Gottes ewiger Vorausbestimmung dem menschlichen Geschlechte hierdurch die Erlösung nicht zu teil werden, bevor Maria geboren war, in welcher ein so starkes Feuer der Liebe sich entzünden sollte, daß beim Hinaufsteigen seiner duftenden Rauchwolke das Feuer, welches in Gott war, sich selber in denselben ergießen, und durch dasselbe dieser erstarrenden Welt wieder zugeführt werden sollte. Diese Jungfrau war nach ihrer Geburt einer neuen, aber noch nicht angezündeten Leuchte ähnlich, welche jedoch also angezündet werden sollte, daß, wie die Liebe Gottes, welche dreien Flammen verglichen wird, in den Himmeln leuchtete, ähnlicherweise diese auserlesene Leuchte Maria mit drei anderen Liebesflammen in dieser finsteren Welt strahlen sollte. Die erste Flamme Marias glänzte gar hell vor Gott, als sie zur Ehre Gottes ihre Jungfräulichkeit bis zum Tode unversehrt zu erhalten fest versprach. Nach dieser ehrsamsten Jungfräulichkeit hatte Gott der Vater ein so großes Verlangen, daß er derselben seinen geliebten Sohn samt seiner, des Sohnes und heiligen Geistes Gottheit zu senden sich herabgelassen hat. Die zweite Liebesflamme Marias zeigte sich darin, daß sie sich in allen Dingen durch eine treue, dankbare Demut fortwährend erniedrigt hat, was sicherlichst Gottes gebenedeitem Sohne also gefiel, daß er sich gewürdiget hat, aus diesem demütigsten Leibe jenen ehrwürdigen Leib anzunehmen, welchem es zukam, über alles im Himmel und auf Erden ewiglich erhöht zu werden. Die dritte Flamme war ihr über alles löblicher Gehorsam, welcher den heiligen Geist so an sich zog, daß sie durch diesen mit allen Gnadengaben erfüllt ward. Und obwohl an dieser gesegneten neuen Leuchte diese Liebesflammen nicht sogleich nach ihrer Geburt angezündet worden, weil, wie bei anderen Kindern, ihr Leib klein und ihr Verstand zart war, hat sich Gott ihrer, obwohl sie noch kein Verdienst hatte, mehr erfreut, als der Verdienste aller Menschen, die vor ihr geboren waren, durch die ganze Welt; denn wie ein guter Harfenspieler eine nichtgestimmte Harfe lieben würde, wenn er nur wüßte, daß sie einen süßen Klang geben werde, so hat der Bildner aller Dinge Marias Leib und Seele in deren Kindheit auf das höchste geliebt, weil er vorauswußte, daß ihre Worte und Werte ihm mehr, als jede andere Melodie gefallen würden. Es erscheint auch ganz 68 glaublich, daß, wie Marias Sohn sogleich, nachdem er in ihrem Schoße Mensch geworden war, vollkommenen Verstand gehabt, so auch Maria nach ihrer Geburt in einem jüngeren Alter, als andere Kinder Sinn und Verstand erhalten habe. Da also Gott und die Engel über ihre glorreiche Geburt im Himmel Freude empfanden, so sollen auch die Menschen in der Welt mit Freuden ihre Geburt feiern, und dem Schöpfer aller Dinge aus innerstem Herzen dafür Lob und Ehre erzeigen, welcher sie aus allem, das er erschaffen, im voraus erwählt und vorherbestimmt hat, daß diejenige unter den Sündern geboren werden sollte, welche den Heiland der Sünder auf die heiligste Weise gebar.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel XIII.
In den folgenden drei Lektionen zeigt der Engel, wie sich die Jungfrau Maria verhalten, nachdem sie den Verstand und die Erkenntnis Gottes erhalten. Von der Schönheit ihrer Seele und ihres Leibes, und wie ihr Wille alle ihre Sinne bezwungen. Von der Empfängnis des Sohnes Gottes im Schoße der Jungfrau und seiner herrlichen Geburt in diese Welt hinein
Am Donnerstage. Erste Lektion.
Absolution.
Die erhabene Jungfrau der Jungfrauen wolle beim Herrn Fürbitte für uns thun! Amen.
"Der gesegnete Leib Marias kann füglich mit einem überaus reinen Gefäße verglichen werden, ihre Seele einer helles Licht gebenden Leuchte, und ihr Gehirn einem Brunnen, dessen Wasser aufwärts springen, und dann in ein tiefes Thal hinablaufen. Denn nachdem die Jungfrau zu dem Alter gekommen war, in welchem sie zu erkennen vermochte, daß Gott in den Himmeln ist, und derselbe alles, namentlich den Menschen, zu seiner ewigen Ehre erschaffen, auch der gerechteste Richter über alle Dinge ist, da sprang Sinn und Verstand vom Gehirne der Jungfrau, wie aufspringendes Wasser einer hochsprudelnden Quelle gegen die Höhe 69 des Himmels empor, und floß alsdann hinab in das Thal, d. h. in ihren demütigsten Leib. Denn wie die Kirche singt, daß der Ausgang des Sohnes Gottes vom Vater und sein Rückgang zu demselben ist, obwohl keiner von beiden jemals vom anderen abgesondert war, so ging der Jungfrau Sinn und Verstand häufig empor in die Höhe des Himmels, ergriff Gott beharrlich im Glauben und kehrte, von seiner süßesten Liebe lieblich umfangen, in sich selber zurück. Und diese Liebe, samt einer vernünftigen Hoffnung und göttlichen Furcht, behielt sie auf das festeste bei und entflammte durch die Liebe ihre eigene Seele so, daß sie wie das heißeste Feuer in der Liebe Gottes zu brennen begann. Dieser Sinn und Verstand der Jungfrau haben auch ihren Leib so unterthänig im Gehorsame Gottes gemacht, daß von da an der Leib ihr in aller Demut gehorchte. O, wie schnell haben der Jungfrau Sinn und Verstand die Liebe Gottes begriffen! O, wie weise hat sie dieselbe sich zu einem Schatze gesammelt! Wie wenn eine Lilie verpflanzt worden wäre, welche sich mit drei Wurzeln in die Erde heftete, mittels deren sie sich auch stärker befestigte und drei anmutige Blumen zum Troste der Anschauenden in die Höhe streckte, so hat sich fürwahr die göttliche Liebe dieser glorwürdigen Erde, nämlich unserer Jungfrau, von Gott eingepflanzt in ihrem Leibe mit drei überaus starken Tugenden wie mit drei Wurzeln eingefestet, mit welchen sie zugleich den Leib der Jungfrau selber befestigte; ingleichen mit drei Zierraten, wie mit drei gar hellstrahlenden Blumen die Jungfrau der Seele nach zur Freude Gottes, der Engel, die sie anschauten, auf ehrenvolle Weise geschmückt. Die erste Tugendstärke ihres Leibes bestand in dem klugen Abbruche, den sie sich that, indem sie sich in Speise und Trank also mäßigte, daß keinerlei Trägheit sie irgend vom Dienste Gottes abhielt, sie auch durch maßlosen Abbruch nie zu schwach ward, zu thun, was ihr oblag. Die zweite Stärke war das Maß, das sie im Wachen hielt. Diese beherrschte ihren Leib dergestalt, daß sie infolge der Kürze ihres Schlafes niemals, wo sie zu wachen hatte, von beschwerender Trägheit heimgesucht war, noch wegen Übermaß im Schlafe die zum Wachen verordneten Zeiten auch nur im mindesten abkürzte. Die dritte Stärke war die kräftige Beschaffenheit des Leibes der Jungfrau, die der Jungfrau eine solche Beständigkeit gab, daß sie Be- 70 schwerde, körperliche Widerwärtigkeit und vergängliche Wohlfahrt des Leibes mit gleicher Stimmung ertrug, indem sie über leibliche Widerwärtigkeit nicht klagte, noch über leibliches Wohlergehen in Freud sich übernahm. Daneben war die erste Zierde, womit die göttliche Liebe der Jungfrau Seele schmückte, die, daß sie die Belohnungen, welche Gott seinen Freunden spenden sollte, der Schönheit aller Dinge in ihrem Geiste vorzog. Darum war ihr auch weltlicher Reichtum verächtlich, wie stinkender Kot. Als zweiter Zierat schmückte ihre Seele das Vermögen, daß sie in ihrem Verstande vollkommen unterschied, wie die weltliche Ehre so gar nicht zu vergleichen ist mit der geistlichen Herrlichkeit. Deshalb hatte sie einen solchen Abscheu vor weltlicher Herrlichkeit, wie vor verdorbener Luft, welche mit ihrem Gestanke in kurzer Zeit viele ums Leben bringt. Als dritte Zierat verherrlichte ihre Seele das, daß sie alles, was Gott gefiel, in ihrem Herzen für das Süßeste, das aber, was Gott verhaßt und zuwider war, für das Bitterste erachtete. Und darum zog der Wille der Jungfrau ihre Seele so wirksam zum Verlangen der wahren Süßigkeit, daß sie nach diesem Leben keine geistliche Bitterkeit zu kosten hatte. Durch diese Zierden ist die Jungfrau über alles, was erschaffen worden, so schön an der Seele geschmückt erschienen, daß es dem Schöpfer gefiel, alle seine Verheißungen durch ihre Vermittelung zu erfüllen. Denn sie war von der Tugend der Liebe so gestärkt, daß sie in keinem guten Werke ermüdete, und der Feind auch im geringsten Punkte niemals Herr aber sie ward. Es ist fürwahr ohne Zweifel zu glauben, daß, wie ihre Seele vor Gott und den Engeln überaus schön war, so auch ihr Leib in den Augen aller derer, welche sie anschauten, höchst lieblich gewesen. Und wie Gott und die Engel sich im Himmel über die Schönheit ihrer Seele freuten, so ist auch die überaus liebliche Schönheit ihres Körpers allen denen, welche sie zu sehen begehrten, auf Erden nützlich und trostvoll gewesen. Denn wenn die Andächtigen sahen, mit welcher Inbrunst sie Gott diente, wurden sie zu Gottes Ehre noch brünstiger, in denen aber, welche zu sündigen sehr geneigt waren, wurde durch die Ehrbarkeit ihrer Worte und Gebärden bei ihrem Anblicke die Glut der Sünde sofort ausgelöscht.
Du aber, Herr, u. s. w." 71
Kapitel XIV.
Am Donnerstage. Zweite Lektion.
Absolution.
Die vom Engel gegrüßte Jungfrau wolle sich würdigen, unsere Sünden zu tilgen! Amen.
"Keine Zunge reicht aus, zu erzählen, wie weislich der glorwürdigen Jungfrau Sinn und Verstand sich an Gott selber im nämlichen Augenblicke anschloß, wo sie ihn zuerst erkannte, zumal aller menschliche Verstand zu schwach ist, auszudenken, auf wie vielfache Weise der gebenedeite Wille dieser Jungfrau dem Dienste Gottes sich unterworfen; denn alles, wovon sie wußte, es gefalle Gott, das machte ihr Freude, zu vollbringen. Die Jungfrau erkannte ja wohl, wie Gott nicht wegen ihrer Verdienste ihr Leib und Seele erschaffen und ihrem Willen die Freiheit gegeben, den Geboten des Herrn demütig Folge zu leisten, oder denselben, wofern es ihr gefiele, Widerstand entgegenzusetzen; und deshalb nahm sich der gar demütige Wille der Jungfrau vor, für die bereits empfangenen Wohlthaten, solange sie leben würde, mit aller Liebe Gott zu dienen, wenn ihr auch weiter nichts anderes von ihm geschenkt werden sollte. Nachdem ihr Verstand aber hatte begreifen können, daß der Schöpfer aller Dinge selber auch ein Erlöser für die Seelen, welche er erschaffen, zu werden sich herablassen würde, und daß er nichts anderes für eine so schwere Arbeit zum Lohn begehren würde, als daß ihm die Seelen selbst als Vergeltung gegeben werden möchten; auch daß ein jeglicher Mensch in seinem Willen die Freiheit habe, Gott durch gute Werke zu besänftigen, oder ihn durch böse zum Zorne zu reizen, da begann in der That der Jungfrau Wille ihren Leib, wie ein vorsichtiger Schiffsherr sein Schiff, in den Stürmen der Welt sorgfältig zu regieren. Denn wie ein Schiffsherr fürchtet, sein Schiff könne durch Umherschleudern auf den Wellen in Gefahr geraten, und wie er die Strudel, von denen die Schiffe gar häufig verschlungen worden, nie aus dem Auge läßt, wie er Taue und Takelwerk befestigt, auch 72 immer nach dem Hafen ausschaut, in welchem er nach der Arbeit zu ruhen begehrt, und wie er sich auch die höchste Mühe giebt, daß die auf sein Schiff verladenen Güter ihrem rechten Besitzer, den er gar sehr liebt, zum Vorteile gereichen mögen, so auch diese überaus vorsichtige Jungfrau, und nachdem sie von den Geboten Gottes Kenntnis erlangt, begann nach deren Ordnung ihr Wille sofort den Leib mit aller Sorgfalt zu beherrschen. Häufig hatte sie selbst vor dem Verkehre mit den Verwandten Furcht, damit nicht etwa deren Glück oder Mißgeschick, welche den Stürmen der Welt vergleichbar sind, ihr durch Worte oder Werke den Gehorsam gegen Gott erschweren möchten. Sie faßte auch häufig alles in das Gedächtnis, was durch das göttliche Gesetz verboten worden, und mied solches mit aller Aufmerksamkeit, damit es nicht wie ein wilder Strudel ihre Seele in geistliches Verderben reißen möchte. Dieser löbliche Wille hat die Jungfrau und ihre Sinne so im Zaume gehalten und gebändigt, daß ihre Zunge niemals zu unnützen Reden sich bewegen ließ, und ihre überaus züchtigen Blicke erhoben sich nimmer, etwas anzusehen, das nicht nötig war; auch ihr Gehör war nur auf dasjenige gerichtet, was die Ehre Gottes anging; ihre Hände und ihre Finger streckte sie nur aus, wenn es ihr selbst oder ihrem Nächsten nützte; und ihre Füße ließ sie keinen Schritt machen, bevor sie nicht erwogen, welcher Nutzen daraus hervorgehen würde. Daneben begehrte der Wille der Jungfrau, alle Trübsale der Welt fröhlich zu leiden, damit sie in den Hafen der Sicherheit, nämlich in den Schoß Gottes des Vaters kommen möchte, und hatte unablässig den Wunsch, daß sie Gott, welcher ihr am teuersten war, durch ihre Seele für deren Erschaffung Ehre und Freude als Vergeltung zu gewähren vermöchte. Und weil der Wille der Jungfrau in keinerlei Gutem jemals nachließ, so hat Gott, von dem das Gute ausgeht, sie auf den Gipfel aller Tugenden in erhabenster Weise erhöht, und in dem Glanze aller Tugenden auf das hellste leuchten lassen. Wer darf sich also wundern, daß Gott diese Jungfrau vor allen am höchsten geliebt hat, da er vorherwußte, daß mit Ausnahme ihrer allein kein Mensch aus Mann und Weib geboren werden würde, dessen Sinn sich nicht zuweilen zu einer Tod-oder läßlichen Sünde würde neigen lassen? O, wie sehr hat sich dieses Schiff, nämlich der Leib der Jungfrau, dem so sehr 73 erwünschten Hafen, nämlich der Wohnung Gottes des Vaters, genähert, als Gabriel kam und sprach: Sei gegrüßt voll der Gnaden! O, wie züchtig, ohne Mitwirkung eines Mannes, hat der Vater seinen Sohn der Jungfrau empfohlen, da sie sprach: Mir geschehe nach Deinem Worte! Denn alsbald ward im Schoße der Jungfrau die Gottheit mit der Menschheit vereinigt, und ist der wahre Sohn Gottes des Vaters auch Sohn der Jungfrau geworden.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel XV.
Am Donnerstage. Dritte Lektion.
Absolution.
Maria mit dem frommen Kinde wolle uns segnen! Amen.
"O überaus schöne, jeglicher Annahme würdigste Vereinigung! Der Sohn Gottes erhielt in der Welt den Leib der Jungfrau zur Wohnung, im Himmel aber hatte er die Wohnung der Dreifaltigkeit, obwohl er mit seiner Kraft allenthalben weilt. Die Jungfrau war an Leib und Seele des heiligen Geistes voll, und der heilige Geist im Vater war auch im Mensch gewordenen Sohne. Dieser Sohn Gottes hatte nicht allein unter dem Herzen der Jungfrau in der Welt, sondern auch im Vater und heiligen Geiste im Himmel seine Wohnung. Auch der Vater samt dem heiligen Geiste hatte bei seiner Wohnung im Himmel zugleich Wohnung im Mensch gewordenen Sohne in der Welt, obwohl nur der Sohn, wahrer Gott, menschliches Fleisch angenommen, der, obgleich er dem Wesen nach als Gottheit den menschlichen Augen verborgen war, doch vor den Engeln in seiner himmlischen Behausung immer als derselbe erschien und sich offenbarte. Darum sollen sich alle, welche den wahren Glauben haben, über die unaussprechliche Vereinigung, welche in der Jungfrau sich vollzogen, freuen, mittels deren der Sohn Gottes von ihrem Fleische und Blute den menschlichen Leib annahm, und die Gottheit sich mit der Menschheit und die wahre 74 Menschheit mit der Gottheit verband. Bei dieser erfreulichsten Vereinigung ist weder im Sohne die Gottheit vermindert, noch an der Mutter die Jungfräulichkeit versehrt. Sich schämen und fürchten sollen auch diejenigen, welche glauben, des Schöpfers Allmacht könne dergleichen nicht bewirken; oder meinen, seine Güte wolle dergleichen zur Erlösung seines Geschöpfes nicht thun, wenn sie es auch vermöchte. Wenn man nun glaubt, er habe solches bei seiner Allmacht und Güte gewirkt, warum wird er dann von denen, welche nicht daran zweifeln, daß er solches für sie gethan, nicht vollkommen geliebt? Darum sollen euere Herzen achtgeben und erkennen, wie jener irdische Herr der höchsten Liebe wert sein würde, welcher, in höchster Ehre und Reichtum lebend, wenn er hörte, sein Freund werde geschmäht und gescholten, aus Güte alle diese Schmach auf sich nähme, damit sein Freund ferner in Ehren gehalten werde; oder jener Herr, der, wenn er hörte, sein Freund werde von Armut gedrückt, sich selber dem Mangel preisgäbe, um den Freund in Überfluß zu setzen; oder wenn er sähe, daß der Freund jämmerlich zur Hinrichtung hinausgeführt würde, der er nicht anders zu entgehen vermöchte, als wenn jemand freiwillig für ihn zu sterben sich erböte, sich nun selber dem Tode darböte, damit der zum Tode verurteilte ein glückliches Leben führen könne und wie in diesen drei Handlungen sich die höchste Liebe offenbart, - ebenso hat, damit niemand sagen könne, es habe irgend ein Mensch seinem Freunde in der Welt eine größere Liebe erwiesen, als der Schöpfer selber, welcher im Himmel in Gott selber deshalb seine Majestät geneigt, indem er aus dem Himmel in den Schoß der Jungfrau hinabstieg, und nicht bloß in einem Orte ihres Leibes einging, sondern sich durch ihren ganzen Leib in ihr Inneres ergoß, und sich in züchtigster Weise aus dem Blute und Fleische der Jungfrau allein einen menschlichen Leib bildete. Deshalb wird diese auserwählteste Mutter mit dem feurigen Busche, der nicht verbrannte, den Moses sah, passend verglichen. Denn derselbe, welcher in dem Busche so lange verweilte, bis er den Moses zum Glauben an seine Worte und zum Gehorsam gebracht hatte und, von diesem um seinen Namen gefragt, ihm antwortete: Ich bin, der ich bin; d. h. das ist mein Name ewiglich, - ebenderselbe ist es, welcher so lange im Schoße der Jungfrau verweilte, wie andere Kinder vor ihrer Geburt unter 75 ihrer Mutter Herzen verbleiben müssen. Wie ferner dieser Sohn Gottes, als derselbe empfangen ward, in den ganzen Leib der Jungfrau mit seiner Gottheit eingegangen ist, so ist er auch, als er geboren ward, mit der Menschheit und Gottheit wie der süße Duft einer unversehrten Rose durch den ganzen Leib der Jungfrau ergossen worden, wobei die jungfräuliche Herrlichkeit in der Mutter unversehrt blieb. Weil nun also Gott und die Engel und dann der erste Mensch, nach ihm aber die Erzväter und Propheten zugleich mit anderen unzähligen Freunden Gottes sich darüber gefreut haben, daß jener Busch, d. h. der Leib Marias, dergestalt von Liebe entflammt werden sollte, daß der Sohn Gottes so demütiglich in denselben einzugehen und so lange darin zu weilen und demnächst so züchtiglich aus demselben hervorzugehen sich herabließ, deshalb ist es billig, daß auch die jetzt lebenden Menschen sich von ganzem Herzen mitfreuen. Und wie der Sohn Gottes, samt dem Vater und dem heiligen Geiste, wahrer und unsterblicher Gott, in diesen Busch eingegangen ist und darin für die Menschen das sterbliche Fleisch angenommen hat, so sollten auch diese eilends zur Jungfrau fliehen, damit ihnen, die da sterblich sind, und welche für ihre Thaten den ewigen Tod verdient hätten, das ewige Leben durch ihre Fürbitte gewährt werden möchte. Und wie Gott in der Jungfrau geweilt hat, damit sein Leib an Alter und Gliedern vor anderen Kindern keinen Mangel hätte, und den Teufel, welcher mit Trug alle der Herrschaft seiner Grausamkeit unterworfen hatte, mit Macht zu überwinden, so sollen auch die Menschen diese Jungfrau demütig bitten, sie unter ihren beständigen Schutz zu nehmen, damit es ihnen nicht begegne, in des Teufels Schlingen zu fallen. Und wie auch Gott von der Jungfrau in die Welt hinausgegangen ist, um den Menschen die Pforte des himmlischen Vaterlandes zu eröffnen, so sollen sie dieselbe auch flehentlich bitten, es möge ihr gefallen, ihnen bei ihrem Ausgange aus dieser nichtswürdigen Welt mit ihrer Hilfe gegenwärtig zu sein, und ihnen den Eingang in das ewige Reich ihres gebenedeiten Sohnes zu verschaffen.
Du aber, Herr, u. s. w." 76
Kapitel XVI.
In den drei folgenden Lektionen handelt der Engel von der glorreichsten Jungfrau höchst bitterem Leide beim schmerzlichen Tode ihres gebenedeiten Sohnes, und von der Standhaftigkeit des Gemütes, welche die Jungfrau in allen ihren Schmerzen gehabt.
Am Freitage. Erste Lektion.
Absolution.
Es möge uns mit Christo, der uns erlöset, die Jungfrau, welche ihn geboren, versöhnen! Amen.
Man liest, die glorwürdige Jungfrau Maria sei bei des Engels Anrede erschrocken gewesen. Freilich hatte sie damals keine Furcht wegen einer Gefahr ihres Leibes; aber sie fürchtete, es sei etwa zum Nachteile ihrer Seele ein Trug des Feindes des menschlichen Geschlechtes vorhanden. Hieraus läßt sich fürwahr erkennen, daß sie, zu solchem Alter gelangt, wo ihr Sinn und Verstand die Erkenntnis Gottes und seines Willens zu fassen vermochte, alsbald sowie Gott vernünftig zu lieben, so auch denselben vernünftig zu fürchten begann. Füglich kann daher diese Jungfrau eine blühende Rose genannt werden; denn wie die Rose unter Dornen hervorzuwachsen pflegt, so wuchs diese verehrungswürdige Jungfrau unter den Trübsalen dieser Welt. Und gleichwie, je mehr die Rose im Wachsen sich ausbreitet, um so schärfer und stärker die Dornen werden, also ward auch diese auserwählteste Rose Maria, je mehr sie an Alter zunahm, um so schärfer von den Dornen starker Trübsale gestochen. Nachdem sie endlich das jugendliche Alter zurückgelegt hatte, war ihr die Furcht des Herrn die erste Trübsal; denn sie ward nicht allein durch die, sehr große Furcht betrübt, wie sie es anzufangen habe, um die Sünde zu fliehen, sondern auch von einem nicht geringen Zagen gedrückt, wie sie auf vernünftige Weise gute Werke vollbringen möchte, und wiewohl sie mit aller Wachsamkeit Gedanken, Worte und Werke zur Ehre Gottes regelte, fürchtete sie doch, es möchte darin ein Mangel sich hervorthun. Darum sollen die elenden Sünder, welche kühn und freiwillig ohne Ablassen aller- 77 lei Sünden begehen, in Betracht nehmen, welche Qualen und wie großes Elend sie auf ihre Seelen zusammenhäufen, wenn sie sehen, daß diese glorwürdige Jungfrau, welche von jeder Sünde frei war, ihre Gott so wohlgefälligen Werke mit Furcht vollbrachte. Als sie sodann aus den Schriften der Propheten erkannte, wie Gott Fleisch werden wollte und daß er in dem angenommenen Fleische mit so mancherlei Peinen gequält werden solle, litt sie alsbald bei der brünstigen Liebe, welche sie zu Gott hatte, in ihrem Herzen nicht geringe Trübsal, obwohl ihr noch nicht bekannt war, daß sie selber seine Mutter werden solle. Als sie nun aber zu dem Alter kam, daß der Sohn Gottes auch ihr Sohn ward, und sie empfand, daß dieser in ihrem Schoße von ihr jenen Leib empfange, durch welchen die Weissagungen der Propheten erfüllt werden sollten, da schien jene sanfteste Rose in ihrer Schönheit sich noch mehr zu entfalten und zu wachsen, und die Dornen der Trübsale, welche sie scharf stachen, wurden täglich stärker und schärfer. Denn wie ihr eine große und unaussprechliche Freude in der Empfängnis des Sohnes Gottes aufging, so kam auch bei der Erinnerung an sein künftiges, höchst grausames Leiden mannigfache Trübsal in ihr Herz. Die Jungfrau freute sich freilich, daß ihr Sohn mit wahrer Demut seine Freunde zur Herrlichkeit des himmlischen Reiches zurückführen sollte, da der erste Mensch ihnen durch seine Hoffart die höllische Strafe verdient hate; sie betrübte sich aber, weil sie vorherwußte, daß, wie der Mensch mit allen seinen Gliedern mittels seiner bösen Begierde im Paradiese gesündigt, so auch ihr Sohn für die Übertretung des Menschen durch den überaus bitteren Tod seines Leibes in der Welt genugthun sollte. Die Jungfrau war hoch erfreut, daß sie ihren Sohn ohne Sünde und Fleischeslust empfangen und ohne Schmerzen geboren halte, sie betrübte sich aber, weil ihr vorher bekannt war, daß ihr gar lieber Sohn zum schmachvollsten Tod geboren werden sollte und sie selber in größter Angst ihres Herzens seine Leiden mitansehen werde. Die Jungfrau freute sich, weil sie wußte, er werde vom Tode wieder auferstehen und für sein Leiden ewiglich zu höchster Ehre erhöht werden; sie empfand aber Schmerz, weil ihr voraus bekannt war, daß er mit Schmach und Schande und grausamen Martern, welche jener Ehre vorausgehen mußten, unmenschlich gepeinigt werden würde. Fürwahr, es ist 78 ohne Zweifel zu glauben, daß, wie man eine Rose standhaft an ihrem Orte stehen sieht, obwohl die umherstehenden Dornen stärker und schärfer geworden, also auch die gebenedeite Rose Maria ein so standhaftes Gemüt behalten, daß die Dornen der Trübsal, wie sehr dieselben auch ihr Herz stachen, doch keineswegs ihren Willen änderten, sondern sie im höchsten Grade willig machten, zu thun, was Gott gefallen würde. Darum wird sie einer höchst würdigen, blühenden Rose verglichen, und fürwahr einer Rose von Jericho; denn wie man liest, daß die Rose dieses Ortes durch ihre Schönheit vor den übrigen Blumen sich auszeichnet, also hat Maria alle in dieser Welt Lebenden, ihren gebenedeiten Sohn allein ausgenommen, an schöner Züchtigung und tugendlichem Wandel übertroffen. Wie daher Gott und die Engel ihrer tugendlichen Beständigkeit im Himmel sich erfreut, so haben auch die Menschen in der Welt, wenn sie betrachteten, wie geduldig in Trübsalen und wie verständig im Trost sie sich verhalten, über sie höchlichst sich gefreut.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel XVII.
Am Freitage. Zweite Lektion.
Absolution.
Durch seiner Mutter, der Jungfrau, Fürbitten möge der uns schirmen, welcher uns um den Preis seines Blutes errettet hat! Amen.
Unter anderen Dingen, welche die Stimmen der Propheten vom Sohne Gottes geweissagt, haben sie auch prophezeit, einen wie harten Tod er an seinem unschuldigsten Leibe in dieser Welt erleiden wollte, auf daß die Menschen zugleich mit ihm das ewige Leben im Himmel genießen möchten. Endlich haben die Propheten auch geweissagt und geschrieben, wie dieser Sohn Gottes für die Befreiung des menschlichen Geschlechtes gebunden und gegeißelt, zum Kreuze geführt und wie schmählich er behandelt und gekreuzigt werden sollte. Weil wir nun glauben, daß sie recht wohl gewußt haben, aus welchem Grunde der unsterbliche Gott das sterbliche Fleisch hat annehmen und auf so mannigfache Weise in diesem 79 Fleische Trübsale hat leiden wollen, deshalb soll der christliche Glaube nicht zweifeln, daß unsere Jungfrau und Frau, welche Gott schon vor aller Zeit sich zur Mutter erwählt, solches noch deutlicher gewußt. Außerdem darf man billig annehmen, wie auch der Jungfrau selber der Grund nicht verborgen gewesen, weshalb Gott selber in ihrem Schoße mit menschlichem Fleische bekleidet zu werden sich herabgelassen. Daher ist wahrlich zu glauben, daß sie aus Eingebung des heiligen Geistes, was der Propheten Worte bedeuteten, vollkommener erkannt, als die Propheten selber, welchen aus gleichem Geiste ihre Rede wörtlich eingegeben war, und ebenso ist zu glauben, daß alsbald, nachdem sie den Sohn Gottes geboren und zuerst in ihre Arme zu nehmen angefangen hat, es ihrem Sinne gegenwärtig geworden, wie er der Propheten Schriften erfüllen solle. - Als sie ihn in die Windeln einwickelte, betrachtete sie in ihrem Herzen, wie sein ganzer Leib mit scharfen Geißeln zerrissen werden sollte, so daß er wie ein Aussätziger anzuschauen sein würde, und wenn sie ihres kleinen Sohnes Hände und Füße leise in die Windeln band, vergegenwärtigte sie sich, wie hart dieselben mit eisernen Nägeln am Kreuze durchbohrt werden sollten. Blickte sie aber in das Antlitz dieses ihres Sohnes, welcher schön war vor den Menschenkindern, so gedachte sie, wie unehrerbietig dasselbe die Mäuler der Gottlosen mit ihrem Speichel besudeln sollten. Die Mutter betrachtete auch oftmals im Geiste, wie viele Backenstreiche auf ihres Sohnes Wangen fallen und mit wie vielen Schandreden und Schmähungen seine gebenedeiten Ohren erfüllt werden sollten. Bald betrachtete sie auch, wie seine Augen vom herabfließenden Blute verdunkelt, bald, wie in seinen Mund Essig mit Galle vermischt hineingegossen werden sollte. Dann wieder führte sie sich zu Gemüte, wie seine Arme mit Stricken gebunden, seine Nerven und Adern und alle Gewebe am Kreuze unbarmherzig auseinander gezerrt, seine Eingeweide im Tode zusammengezogen und sein ganzer ehrenreicher Leib innen und außen mit aller Bitterkeit und Angst zu Tode gemartert werden solle. Die Jungfrau wußte auch, wie, sobald ihr Sohn am Kreuze den Geist aufgegeben haben würde, die scharfe Lanze seine Seite durchbohren und sein Herz mitten durchstechen würde. Wie sie daher unter allen Müttern die fröhlichste war, als sie den eben von ihr geborenen Sohn Gottes schaute, 80 von welchem sie wußte, daß er wahrer Gott und Mensch sei, sterblich zwar der Menschheit nach, in der Gottheit aber ewig unsterblich sei, so war sie auch unter allen Müttern die betrübteste bei dem Vorauswissen seines bittersten Leidens. Denn auf solche Weise begleitete ihre große Freude auch immer ihr schwerstes Leid, als ob einem im Gebären begriffenen Weibe gesagt würde: Du hast einen lebendigen und an allen Gliedern gesunden Knaben geboren, aber der Schmerz, welchen du in seiner Geburt gehabt, wird bis zu seinem Tode währen; denn wie sie, dieses hörend, sich über ihres Kindes Gesundheit und Leben freuen, so würde sie auch über dessen Leiden und Tod trauern. Die Betrübnis einer solchen Mutter, welche aus dem Gedanken an die Pein und den Tod ihres eigenen Leibes hervorginge, würde fürwahr nicht schwerer sein, als der Schmerz der Jungfrau, so oft sie an den künftigen Tod ihres liebsten Sohnes dachte. Die Jungfrau wußte, wie der Propheten Weissagungen vor Zeiten vorausverkündigt, daß ihr süßer Sohn viele und schwere Pein erdulden werde, und dazu hat der gerechte Simeon nicht von ferne, wie die Propheten, sondern der Jungfrau ins Gesicht vorgesagt, daß ihre Seele ein Schwert durchdringen werde. Hieraus ist denn fürwahr abzunehmen, daß, wie die Kräfte der Seele stärker und empfindlicher sind, als diejenigen des Leibes, Gutes und Böses zu fühlen, so ward auch die Seele der gebenedeiten Jungfrau, welche jenes Schwert durchdringen sollte, bevor ihr Sohn litt, mit größeren Schmerzen gemartert, als irgend einer Mutter Leib würde ertragen können, ehe sie ihres Kindes genäse. Denn jenes Schwert des Schmerzes nahte sich dem Herzen der Jungfrau stündlich um so mehr, als ihr geliebter Sohn der Zeit seines Leidens sich näherte. Deshalb ist ohne Zweifel zu glauben, daß dieser liebreichste und unschuldigste Sohn Gottes mit seiner Mutter kindliches Mitleid gehabt und ihre Schmerzen mit häufigem Troste gemildert hat, weil sonst ihr Leben dieselben keineswegs bis zum Tode würde haben ertragen können.
Du aber, Herr, u. s. w." 81
Kapitel XVIII.
Am Freitage. Dritte Lektion.
Absolution.
Das Leiden des Sohnes der Jungfrau möge uns in die Hände des höchsten Vaters befehlen! Amen.
"Endlich zu eben der Zeit, für welche der Jungfrau Sohn vorhergesagt: Ihr werdet mich suchen, aber nicht finden! da hat die Spitze des Schwertes das Herz der Jungfrau schmerzhaft getroffen, und als er dann vom eigenen Jünger verraten und von den Feinden der Wahrheit und Gerechtigkeit, wie es ihm selbst gefiel, gefangen genommen worden, da hat das Schwert des Schmerzes das Herz und das ganze Innere der Jungfrau durchbohrt, ist schmerzhaft durch ihre Seele gegangen und hat alle Glieder ihres Leibes mit den schwersten Schmerzen überzogen. Das Schwert wendete sich in der Jungfrau Seele so oft mit aller Bitterkeit um, als ihrem liebreichsten Sohne Leidenschaften und Schmach entgegentraten. Denn sie sah ihren Sohn von den Fäusten Gottloser auf die Wangen geschlagen, grausam und ruchlos gegeißelt, von den Obersten der Juden aufs schändlichste zum Tode verurteilt, und unter dem Rufen des Volkes: Kreuzige den Verräter! mit gebundenen Händen an den Ort des Leidens hinausgeführt, wobei einige ihm, der das Kreuz in höchster Ermattung auf seinen Schultern trug, vorangingen und ihn gebunden hinter sich dreinzogen, andere aber ihn begleiteten, mit Faustschlägen trieben und das sanftmütigste Lamm wie ein wildes, grausames Tier vorwärts drängten. Nach der Weissagung des Jsaias war er in allen seinen Ängsten so geduldig, daß er lautlos, wie ein zur Schlachtbank geführtes Schaf und ein Lamm vor seinem Scherer, schwieg und den Mund nicht öffnete; und wie er an sich selber alle Geduld zeigte, so ertrug auch seine gebenedeite Mutter alle seine Trübsale auf das geduldigste. Wie ein Lamm seiner Mutter nachfolgt, wohin dieselbe auch geführt werden mag, so folgte die jungfräuliche Mutter ihrem Sohne an den Ort seiner Marter. Als ferner die Mutter ihren Sohn mit 82 der Dornenkrone verspottet, sein Angesicht vom Blute gerötet, seine Wangen durch schwere Backenstreiche rot geschlagen erblickte, erseufzte sie im schwersten Schmerze, und ihre Wangen begannen vor der Größe der Schmerzen zu erbleichen. Während das Blut ihres Sohnes bei dessen Geißelung an seinem ganzen Leibe herabfloß, rann aus den Augen der Jungfrau das Naß zahlloser Thränen herab und alle Kräfte ihres Leibes begannen zu ermatten, als sie ihren Sohn grausam auf dem Kreuze ausgestreckt erblickte. Da sie aber den Klang der Hammerschläge vernahm, als ihres Sohnes Hände und Füße mit eisernen Nägeln durchbohrt wurden, da warf des Schmerzes Größe, während ihr alle Sinne schwanden, die Jungfrau wie tot zur Erde nieder. Als ihn jedoch die Juden mit Galle und Essig tränkten, dörrte der Jungfrau Herzensangst ihre Zunge und ihren Gaumen dergestalt, daß sie ihre gebenedeite Zunge zum Reden nicht zu bewegen vermochte und als sie dann die klägliche Stimme ihres Sohnes vernahm, welcher während des Todeskampfes sprach: Mein Gott, mein Gott! warum hast Du mich verlassen? und sodann sah, wie alle seine Glieder erstarrten und er unter Neigung seines Hauptes den Geist aushauchte, da erstickte des Schmerzes Herbigkeit der Jungfrau Herz dergestalt, daß sie kein Glied ihres Leibes regen zu können schien. Hieraus mag erkannt werden, wie Gott kein geringes Wunder gethan, wenn die jungfräuliche Mutter, welche von so vielen und großen Schmerzen innerlich verwundet war, den Geist nicht aufgegeben, da sie ihren so heißgeliebten Sohn nackt und blutend, erst lebend, dann tot und mit der Lanze durchbohrt, unter dem Hohne aller zwischen zwei Räubern hängen sah, während alle, denen er bekannt war, die Flucht ergriffen hatten, und viele unter ihnen vom rechten Glauben schmählich abfielen. Wie daher ihr Sohn vor allen, die in dieser Welt leben, den bittersten Tod erduldet, also hat auch seine Mutter an ihrer gebenedeiten Seele die bittersten Schmerzen ertragen und ausgestanden. Die heilige Schrift erzählt auch, daß die Frau des Phinees, nachdem sie vernommen, daß die Lade Gottes von den Feinden desselben genommen worden sei, vor heftigem Schmerze darüber alsbald den Geist aufgegeben habe. Die Schmerzen dieser Frau können aber mit den Schmerzen der Jungfrau nicht ver- 83 glichen werden, welche den Leib ihres gebenedeiten Sohnes, den die erwähnte Lade bedeutete, gefangen zwischen den Nägeln und dem Holze hängen sah. Die Jungfrau liebte ihren Sohn, den wahren Gott und Menschen, weit mehr, als irgend ein von einem Manne und einem Weibe Geborener sich selber oder einen anderen zu lieben vermag. Wenn man es daher für ein Wunder ansieht, daß des Phinees Frau vor Schmerzen gestorben ist, welche von geringerem Schmerze heimgesucht ward, Maria aber am Leben blieb, welche von schwererem Leide verfolgt war, wie sollte man da etwas anderes denken können, als daß sie vermöge einer besonderen Gnade des allmächtigen Gottes, im Widerstreite aller ihrer Leibeskräfte das Leben erhalten? Als nun zuletzt der Sohn Gottes gestorben war, eröffnete er den Himmel und führte seine Freunde, welche in der Vorhölle gefangen lagen, mit Gewalt heraus, die Jungfrau aber, von ihrem Schmerze zu sich gekommen, behielt allein bis zu ihres Sohnes Auferstehung den rechten Glauben vollständig, brachte viele, welche vom Glauben jämmerlich abfielen, zum Glauben zurück und bekehrte auch jene, welche, nachdem ihr Sohn gestorben, vom Kreuze abgenommen und gleich anderen Leichen ins Grab gelegt war, von ihm abfielen und an seine Auferstehung nicht glaubten. Nun wichen auch aus dem Herzen der Mutter die Stacheln der Schmerzen, und die Freude des Trostes begann in ihr sich lieblich zu erneuern, weil sie wußte, daß ihres Sohnes Trübsale nun gänzlich zu Ende seien, daß er am dritten Tage zur ewigen Herrlichkeit wieder auferstehen und fortan keine Beschwerden mehr erleiden solle, noch könne.
Du aber Herr, u. s. w." 84
Kapitel XIX.
In den folgenden drei Lektionen zeigt der Engel, wie unbeweglich die selige Jungfrau im rechten Glauben war, als die übrigen an Christi Auferstehung zweifelten, und wie nützlich sie vielen durch ihr Leben und ihre Lehre geworden. Und wie sie mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen worden.
Am Samstage. Erste Lektion.
Absolution.
Die glorwürdige, liebreichste Mutter Gottes wolle uns stärken im heiligsten Glauben! Amen.
"Man liest, daß die Königin von Mittag aus fernen Gegenden zum Könige Salomo gekommen und nachdem sie seine Weisheit kennen gelernt, vor großer Verwunderung der Atem ihr vergangen, und sie, nachdem sie ihre Kräfte wieder gewonnen, den König in ihren Reden pries und mit großen Gaben ehrte. Mit dieser Königin ist füglich die allervortrefflichste Königin, die Jungfrau Maria, zu vergleichen, deren Geist die Ordnung der ganzen Welt und deren Fortgang vom Anfange an bis zu ihrem Ende verständig überschaute, auch alles, was darin war, sorgfältig durchblickte, wobei sie in derselben nichts fand, das sie zu besitzen oder zu vernehmen begehrte, als die Weisheit allein, welche sie bei Gott gehört hatte. Diese suchte sie mit aller Begierde, ihr forschte sie sorgfältig nach, bis sie die Weisheit selber fand, nämlich Christum, den Sohn Gottes, welcher unvergleichlich weiser denn Salomo ist. Als aber die Jungfrau sah, wie weise er mittels des Leidens seines Leibes am Kreuze die Seelen wiedergewann und ihnen die Pforten zum Himmel eröffnet, nachdem der arglistige Feind sie zum höllischen Tode überwunden, da befand sich die Jungfrau dem Tode näher, als die Königin von Mittag, da ihr anscheinend der Atem verging. Nachdem sodann Christi, ihres und Gottes Sohnes Leiden vorüber war, und die Jungfrau ihre Kräfte wieder erhalten, verherrlichte sie ihn mit Gott höchst angenehmen Gaben, denn sie führte mit ihrem heilsamen Unterrichte Gott mehr Seelen zu, als irgend eine andere Person nach Christi Tode mit ihren gesamten Werken. Auch 85 mit Worten redete sie viel zur Vermehrung seiner Ehre, wodurch sie erwies, daß, als nach dem Tode seiner Menschheit viele daran zweifelten, sie allein standhaft bei seiner Versicherung geblieben, daß er, der wahre Sohn Gottes, in seiner Gottheit ewig unsterblich sei. Als daher am dritten Tage seine Jünger an seiner Auferstehung zweifelten, und die Weiber seinen Leib sorgfältig im Grabe suchten, die Apostel selbst aber in höchster Herzensangst in Schrecken sich einschlossen, da hat, wie ohne Zweifel anzunehmen, obwohl die Schrift nicht meldet, daß sie zu dieser Zeit etwas geredet, die jungfräuliche Mutter bezeugt, daß der Sohn Gottes im Fleische zur ewigen Herrlichkeit auferstanden ist, und der Tod fortan nimmermehr über ihn herrschen könne. Wenn ferner auch die Schrift sagt, daß Magdalena und die Apostel Christi Auferstehung zuerst gesehen, so hat man doch ohne Zweifel zu glauben, daß seine würdigste Mutter dieses wahrhaft früher als jene gewußt und auch früher als die anderen den Auferstandenen gesehen habe, weshalb sie ihn voll Jubels im Herzen demütiglich pries. Als nun aber ihr gebenedeiter Sohn zum Reiche seiner Herrlichkeit aufgefahren war, erhielt die Jungfrau die Erlaubnis, in dieser Welt zur Kräftigung der Guten und Zurechtweisung der Irrenden zurückzubleiben, als die Lehrmeisterin der Apostel, die Spenderin der Stärke für die Märtyrer, die Lehrerin der Bekenner, der Jungfrauen hellster Spiegel, eine Trösterin der Witwen, eine gar heilsame Ermahnerin der im Ehestande Lebenden und die vollkommenste Stärkerin aller im katholischen Glauben. Den Aposteln, welche zu ihr kamen, offenbarte sie alles, was dieselben von ihrem Sohne noch nicht vollständig wußten, und erklärte es ihnen in vernünftiger Weise. Die Märtyrer ferner ermunterte sie, freudig ihre Trübsale für den Namen Christi zu erdulden, welcher sich um ihrer und des Heiles aller willen freiwillig sehr vielen Trübsalen ausgesetzt hatte, wobei sie versicherte, wie sie vor ihres Sohnes Tode dreiunddreißig Jahre hindurch unablässig in aller Geduld Trübsal des Herzens ausgestanden. Die Bekenner, die sie in den Glaubenssätzen des Heiles unterwies, lernten durch ihre Lehre und ihr Vorbild auf das vollkommenste alle Zeit bei Tag und Nacht weislich zu Gottes Preise zu ordnen, und Schlaf und Speise und Leibesanstrengungen geistlicher- und vernünftigerweise zu mäßigen. Aus ihrem überaus ehr- 86 baren Wandel lernten die Jungfrauen, sich ehrbar zu halten und die jungfräuliche Keuschheit bis in ihren Tod fest zu bewahren, Vielgeschwätzigkeit und alle Eitelkeiten zu fliehen, und alle ihre Werke mit fleißiger Erörterung zum voraus in Erwägung zu nehmen, auch auf der geistlichen Wage mit richtigem Gewichte und in Gerechtigkeit abzuwägen. Den Witwen erzählte die glorwürdige Jungfrau zu ihrem Troste, daß, obwohl es ihr aus mütterlicher Liebe zwar annehmlich gewesen, daß ihr liebevoller Sohn nicht bloß den göttlichen, sondern auch den menschlichen Willen zum Sterben gehabt, doch ihr mütterlicher Wille sich ganz nach dem göttlichen Willen gerichtet und lieber erwählt habe, alle Trübsale demütig zu ertragen, als nach eigenem Belieben in irgend einem Stücke vom göttlichen Willen abzuweichen. Mit solcher Rede machte sie der Witwen Gemüter geduldig in den Trübsalen und standhaft bei den Anfechtungen des Leibes. Den Verehelichten ferner riet sie, daß sie in Bezug auf Seele und Leib sich in gegenseitiger, wahrer, nicht erheuchelter Zuneigung lieben, auch zu jeglicher Ehre Gottes einen unzerteilten Willen haben möchten. Von sich selber erzählte sie ihnen, wie sie Gott ihre Treue aufrichtig gewidmet, und wie sie um seiner Liebe willen dem göttlichen Willen niemals in irgend einem Stücke widerstanden.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel XX.
Am Samstage. Zweite Lektion.
Absolution.
Der Sohn der Jungfrau Maria mache uns rein von dem Schmutze der Sünde! Amen.
"Weil wir aus dem Verlaufe des heiligen Evangelium gelernt haben, daß einem jeglichen mit dem Maße, womit er den anderen gemessen, wieder gemessen werden soll, so scheint es unmöglich, daß jemand mit menschlicher Vernunft begreifen könne, mit wie großen Ehren die glorwürdige Jungfrau, die Mutter Gottes, im himmlischen Palaste von allen verehrt werden mußte, nachdem sie, wäh- 87 rend sie in dieser Welt lebte, so gütig das gewünschte Gute vollbrachte. Deshalb glaubt man, es sei billig gewesen, daß, als es ihrem Sohne gefiel, sie aus der Welt abzurufen, zur Mehrung ihrer Ehre Alle bereit gewesen, welche durch sie die Vollkommenheit ihres Willens erhalten hatten. Weil nun also der Schöpfer aller Dinge durch ihre Vermittelung das, was ihm wohlgefiel, in der Welt vollbracht, deshalb gefiel es ihm samt den Engeln, ihr die höchste Ehre im Himmel zu erweisen. Und deshalb hat Gott selber die Seele der Jungfrau, als dieselbe vom Leibe getrennt war, sogleich über alle Himmel auf eine wunderbare Weise erhöht und ihr die Herrschaft über die ganze Welt gegeben und sie auf ewig zur Herrscherin der Engel eingesetzt. Diese Engel wurden nachmals der Jungfrau so gehorsam, daß sie lieber alle Strafen der Hölle ausgehalten haben würden, als in irgend einem Stücke ihren Geboten zu widersprechen. Auch über alle bösen Geister hat Gott ihr solche Macht gegeben, daß, so oft diese irgend einen Menschen angreifen, welcher aus Liebe die Hilfe der Jungfrau anfleht, sie auf den Wink der Jungfrau sofort zitternd weit hinwegfliehen, indem sie lieber wollen, daß ihr Elend und ihre Strafen an ihnen vermehrt werden, als daß der Jungfrau Macht also über sie herrschen solle. Und weil sie unter allen Engeln und Menschen selbst als die Demütigste erfunden worden, deshalb ist sie auch über alles Erschaffene am meisten erhöht, unter allem die schönste und Gott selber vor allen die ähnlichste. Hieraus ist denn fürwahr anzunehmen, daß, wie das Gold für wertvoller gilt, als die übrigen Metalle, also auch die Engel und Seelen würdiger sind, als die übrigen Geschöpfe. Wie man nun dem Golde bei irgend einer Arbeit ohne die Mitwirkung des Feuers keine Gestalt geben kann, dasselbe aber durch das Werk des Feuers und nach Maßgabe der Kunst des Goldarbeiters, in verschiedene Formen verarbeitet wird, so hätte auch in ähnlicher Weise die Seele der Jungfrau vor den übrigen Seelen und Engeln nicht schöner werden können, wofern nicht ihr überaus guter Wille, welcher einem, kunstreichen Goldarbeiter zu vergleichen, sie im heißest glühenden Feuer des heiligen Geistes so wirksam zubereitet hätte, daß unter allen Werken die ihrigen dem Schöpfer die Iieblichsten erschienen sind. Mag nun aber auch das Gold zu einem schönen Werke ausgestaltet sein, so wird doch die Kunst des 88 Goldschmiedes so lange nicht deutlich erkannt, als diese Arbeit in einem dunkeln Hause eingeschlossen ist; wenn sie aber in den Glanz der Sonne hinauskommt, dann tritt die Schönheit der Arbeit an dem Werke desto deutlicher hervor. In ähnlicher Weise haben auch die höchst würdigen Werke dieser glorwürdigen Jungfrau, welche die überaus kostbare Seele derselben schmückten, so lange nicht vollkommen gesehen werden können, als die Seele selber in der Verborgenheit ihres sterblichen Leibes eingeschlossen gehalten ward, bis die Seele an den Glanz der wahren Sonne, welcher die Gottheit selber ist, gekommen war. Nun erst pries der ganze himmlische Hof die Jungfrau dafür mit den höchsten Lobeserhebungen, weil ihr Wille ihre Seele also geschmückt hatte, daß sie durch ihre Schönheit alle Schönheiten der Geschöpfe übertraf, weshalb sie auch dem Schöpfer selber am ähnlichsten erschien. Dieser glorwürdigen Seele nun war von Ewigkeit her ein ehrenreicher Platz in der größten Nähe bei der Dreifaltigkeit selber bestimmt. Denn wie Gott der Vater im Sohne und der Sohn im Vater, der heilige Geist aber in beiden war, als der Sohn nach Annahme des menschlichen Fleisches mit der Gottheit und Menschheit in seiner Mutter Schoße ruhte, während die Vereinigung der Dreifaltigkeit völlig unzertrennt blieb, und die Jungfräulichkeit der Mutter unverletzt erhalten ward, also hat auch Gott selber für die Seele der gebenedeiten Jungfrau eine Wohnungsstätte in der höchsten Nähe beim Vater, Sohne und heiligen Geiste angeordnet, damit sie aller Güter, welche von Gott geschenkt werden könnten, teilhaftig werden möchte. Auch vermag keines Herzens Tiefe zu erfassen, eine wie große Freude Gott seiner Genossenschaft im Himmel erwiesen, als seine mit höchster Liebe erfüllte Mutter aus dieser armseligen Welt schied, wie solches fürwahr allen, welche mit Liebe nach dem himmlischen Vaterlande verlangen, offenbar werden wird, wenn sie Gott von Angesicht zu Angesicht schauen werden. Auch die Engel priesen Gott, indem sie der Seele der Jungfrau Glück wünschten; denn durch den Tod des Leibes Christi selber wird ihre Gesellschaft vollzählig, und durch die Ankunft seiner Mutter im Himmel ihre Freude vermehrt. Außerdem freuten sich Adam und Eva, samt den Patriarchen und Propheten und der gesamten, aus dem Kerker der Vorhölle heraufgeführten Schar, auch die übrigen, welche nach dem Tode Christi 89 in die Herrlichkeit eingegangen waren, über die Ankunft der Jungfrau im Himmel, und brachten Gott Preis und Ehre dar, welcher sie mit so großer Ehre geschmückt hatte, daß sie ihren Erlöser und Herrn auf so heilige und glorwürdige Weise geboren hatte. Auch die Apostel und gesamten Freunde Gottes, welche bei der würdigsten Leichenfeier zugegen waren, als ihr liebevollster Sohn ihre glorwürdige Seele mit sich in den Himmel führte, verehrten sie mit demütigem Dienste, und erwiesen ihrem ehrwürdigen Leibe alle mögliche Huldigung mittels Lobes und Preises. Auch ist es fürwahr ohne allen Zweifel zu glauben, daß, wie von den Freunden Gottes dieser Leib der seligsten Jungfrau nach seinem Tode dem Grabe übergeben worden, er eben so lebendig mit seiner Seele von Gott selber, ihrem liebwertesten Sohne, ins ewige Leben aufgenommen worden.
Du aber, Herr, u. s. w."
Kapitel XXI.
Am Samstage. Dritte Lektion.
Absolution.
Die Königin der Engel wolle uns zur Herrlichkeit des Reiches der Himmel einführen! Amen.
Wenn die Wahrheit selber, welche Gottes und der Jungfrau Sohn ist, allen empfohlen hat, Böses mit Gutem zu vergelten, mit wie vielem Guten soll man da nicht glauben, daß Gott selber die Vollbringer guter Werke belohnen wird? Und weil er in seinem Evangelium verheißen, jegliches gute Werk hundertfältig zu vergelten, wer wird da ausdenken können, mit wie vielen Gaben hoher Belohnungen seine ehrwürdigste Mutter reichlich begabt haben wird, welche auch nicht die kleinste Sünde jemals begangen, und deren Gott vor allem höchst angenehme Werke zahllos sind? Denn wie der Wille der Seele der Jungfrau bei allen ihren guten Werken mitgewirkt hat, so ist auch ihr gar ehrbarer Leib das geeignetste Werkzeug zur Vollbringung jener Werke und allezeit dazu tüchtig 90 gewesen. Wie wir daher in Wahrheit glauben, daß vermöge der Gerechtigkeit Gottes alle menschlichen Leiber am jüngsten Tage auferstehen, und je nachdem es ihre Werke erfordern, mit ihren Seelen den Lohn darum empfangen werden, weil, wie eines jeden Seele mittels Anwendung seines Willens die Anfängerin aller seiner Werke gewesen, so auch der mit ihr verbundene Leib durch sich alle auf leibliche Weise ausgeführt hat, also ist denn nun ohne einigen Zweifel zu glauben, daß, wie der Leib des Sohnes Gottes, welcher niemals gesündigt, von den Toten wieder auferstanden und mit der Gottheit zugleich verklärt worden ist, auch der Leib seiner würdigsten Mutter, welcher gleichfalls niemals eine Sünde begangen, einige Tage nach seiner Beerdigung durch die Kraft und Macht Gottes mit der heiligsten Seele derselben Jungfrau in den Himmel aufgenommen und mit allen Ehren samt jener verklärt worden ist. Und wie es dem menschlichen Verstande in dieser Welt unmöglich ist, die Schönheit und Herrlichkeit jener Krone zu begreifen, mit welcher Christus, der Sohn Gottes, für sein Leiden in geziemender Weise gepriesen und geehrt werden mußte, so vermag auch niemand die Schönheit dieser Krone auszudenken, womit die Jungfrau Maria für ihren göttlichen Gehorsam an Seele und Leib geehrt wird. Und wie alle Tugenden der Seele der Jungfrau Gott, ihren Schöpfer, lobten, nachdem ihr heiligster Leib mit den Gaben aller Tugenden belohnt wurde, so lobten auch die nämliche Jungfrau, die würdigste Mutter Gottes, die Werke ihres Leibes, weil sie keine Tugend in der Welt zu wirken unterließ, von welcher sie wußte, daß Leib und Seele dafür im Himmel ihre Belohnung empfangen sollten. Daraus ist fürwahr abzunehmen, daß gleichwie, mit Ausnahme der allerheiligsten Seele Christi allein, die Seele seiner Mutter für ihre Tugenden und Verdienste der höchsten Belohnungen würdig gewesen, weil sie an guten Werken keinen Mangel hatte, also auch, mit Ausnahme des Leibes Christi allein, seiner Mutter Leib wohl im höchsten Grade würdig gewesen, eine längere Zeit hindurch als andere Leiber, welche nach dem Tode bis zur Auferstehung im Grabe liegen, mit ihrer Seele die Belohnungen ihrer Verdinste zu empfangen, weil er mit ihr alle seine guten Werke verrichtete und niemals zu einer Sünde seine Einwilligung gab. O, wie mächtig hat Gott seine Gerechtigkeit gezeigt, als er Adam 91 ans dem Paradiese vertrieb, weil er im Paradiese die verbotene Frucht vom Baume der Erkenntnis wider den Gehorsam aß! O, wie demütig hat Gott seine Barmherzigkeit in dieser Welt durch die Jungfrau Maria, welche füglich der Baum des Lebens genannt werden mag, zu erkennen gegeben! Bedenket deshalb, wie bald die Gerechtigkeit jene ins Elend getrieben, weil sie ungehorsam von der Frucht des Baumes der Erkenntnis gegessen. Betrachtet auch, wie süß die Barmherzigkeit diejenigen zur Herrlichkeit einladet und anlockt, welche durch göttlichen Gehorsam an der Frucht vom Baume des Lebens sich zu erquicken begehren. Merket außerdem, Geliebteste, darauf, daß, als der Leib dieser ehrsamsten Jungfrau, welcher mit dem Baume des Lebens verglichen wird, in dieser Welt aufwuchs, die gesamten Chöre der Engel nach seiner gebenedeiten Frucht nicht minder verlangten, und des Hervorganges dieser Frucht aus ihrem Leibe sich nicht minder freuten, als über die ihnen selber gewährte Gnade, wodurch sie erkannt hatten, daß sie unsterblich und in himmlischer Freude sein sollten; vornehmlich aber, daß die große Liebe Gottes unter dem menschlichen Geschlechte bekannt und hierdurch ihre Genossenschaft vermehrt werden würde. Darum eilte der Engel Gabriel raschen Laufes schnell zur Jungfrau, und grüßte sie liebreich mit Worten, welche jeglicher Annahme gar würdig waren. Weil nun die Jungfrau, eine Meisterin der wahren Demut und aller Tugenden, dem Engel, welcher die Botschaft brachte, gar demütig antwortete, freute er sich selber darob, weil er erkannte, wie das Verlangen seines eigenen Willens und der anderen Engel dadurch erfüllt werden sollte. Weil wir aber nun in Wahrheit wissen, wie jener gebenedeite Leib der Jungfrau samt der Seele in den Himmel aufgenommen worden, so ist darum den sterblichen Menschen, welche Gott beleidigen, nachdem sie durch verschiedene Trübsale in diesem Jammerthale täglich zerrieben werden und nicht zweifeln können, daß ihr kummervolles Leben durch den Tod des Leibes ein Ende nehmen müsse, der heilsame Rat gegeben, daß sie, mittels wahrer Bereuung ihrer Sünden, sich beeilend zu ihr hinaufsteigen. Und wenn die Menschen durch dieses Baumes Frucht, welche Christus ist, erquickt zu werden begehren, sollen sie sich zuvor bemühen, mit allen Kräften des Baumes Ästlein zu biegen, d. i. seine Mutter wie der verkündende Engel liebreich zu grüßen, indem 92 sie ihren Willen zur Vermeidung jeglicher Sünde bestätigen und alle ihre Worte und Werke zu Ehren Gottes vernünftig einrichten; denn alsdann wird sich die Jungfrau leicht zu ihnen neigen, und ihnen die Hilfe ihres Beistandes gewähren, um die Frucht vom Baume des Lebens, welche Christi hochwürdigster Leib ist, zu empfangen, welcher von Menschenhänden konsekriert wird und Leben und Speise ist für die Sünder auf Erden und die Engel im Himmel. Und weil Christus zur Ergänzung seiner überaus lieblichen Gesellschaft nach den Seelen, welche er mit seinem eigenen Blute erlöst, mit brünstigem Verlangen begehrt, deshalb, ihr Geliebteste, sollet ihr bemüht sein, auch euererseits sein Verlangen zu erfüllen, indem ihr ihn mit aller Andacht und Liebe selber empfanget. Solches wolle Jesus Christus, ihr Sohn, auf die hochwürdigsten Bitten Unserer Lieben Jungfrau Maria euch zu verleihen geruhen; er, der da mit dem Vater und dem heiligen Geiste in unendliche Ewigkeit hinein lebt und herrscht! Amen.
Du aber, Herr, u. s. w." 93