Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Jacobus de Voragine: Von der heiligen Maria Magdalena

Die Legende der Heiligen Maria Magdalena

Maria heißt "das bittere Meer", oder "die Erleuchterin" beziehungsweise "die Erleuchtete". An diesen drei Begriffen erkennen wir die drei besten Teile, die sie für sich erwählt hat: den Teil der Buße, den Teil der inneren Betrachtung und den Teil des himmlischen Ruhms. Von diesen dreien hat der Herr gesagt: "Maria hat den besten Teil erwählt, das soll man ihr nicht mehr nehmen." Den ersten Teil wird man ihr wegen des Endes, nämlich der Erlangung der Seligkeit, nicht mehr nehmen, den zweiten wegen der Beständigkeit, denn die Betrachtung des Wegs geschieht durch die Betrachtung des Vaterlands, und den dritten, weil der Ruhm ewig ist. Weil sie den besten Teil der Buße erwählte, heißt sie das bittere Meer, denn sie hatte davon viel Bitternis; das erkennen wir daran, daß sie genug Tränen vergoß, um damit dem Herrn die Füße zu waschen. Weil sie den besten Teil der inneren Betrachtung erwählte, heißt sie die "Erleuchterin", denn daraus schöpfte sie mit Begier, was sie später im Ãœberfluß wieder zurückgab; daraus empfing sie das Licht, mit dem sie später die anderen erleuchtete. Weil sie den besten Teil des himmlischen Ruhmes erwählte, heißt sie "die Erleuchtete", denn sie ist jetzt erleuchtet im Geiste mit dem Licht der vollkommenen Erkenntnis und wird später in ihrem Leib mit dem Licht der Klarheit erleuchtet sein.

Magdalena bedeutet soviel wie manens rea, "die schuldig bleibt", oder es heißt "die Gefestigte" oder "die Unbezwingbare", oder "die Prächtige". Dadurch soll gezeigt werden, was sie vor, während und nach ihrer Bekehrung für ein Mensch war. Vor ihrer Bekehrung blieb sie nämlich schuldig, weil sie die ewige Strafe verdient hatte; in ihrer Bekehrung war sie gefestigt oder unbezwingbar durch die Rüstung der Buße, denn sie gürtete sich bestens mit den Waffen der Buße, weil sie jetzt so viele Opfer brachte, wie sie vorher Zeitvertreib gesucht hatte. Nach ihrer Bekehrung war sie prächtig durch das Ãœbermaß ihrer Gnade, denn wo vorher Sünde im Ãœberfluß war, war jetzt auch Gnade im Ãœberfluß.

1. Maria Magdalena hat ihren Beinamen von der Burg Magdalum. Sie war von edelster Abstammung, denn sie ging aus königlichem Geschlecht hervor; ihr Vater hieß Syrus und ihre Mutter Eucharia. Zusammen mit ihrem Bruder Lazarus und ihrer Schwester Marta besaßen sie die Burg Magdalum, die zwei Meilen vom See Genezareth entfernt liegt, das Dorf Bethania in der Nähe von Jerusalem und einen großen Teil der Stadt von Jerusalem selbst. Die Geschwister teilten alles unter sich auf, so daß Maria Magdalum besaß, weshalb sie Magdalena genannt wurde, Lazarus jenen Teil von Jerusalem und Marta das Dorf Bethania. Weil nun aber Magdalena sich ganz der fleischlichen Lust hingab und Lazarus sich nur um den Kriegsdienst kümmerte, verwaltete Marta klug und gewissenhaft den Anteil der beiden und sorgte für ihre Krieger und Knechte und für die Armen. Nach der Himmelfahrt des Herrn verkauften die Geschwister allerdings ihr ganzes Hab und Gut und legten den Erlös den Aposteln zu Füßen. Weil Maria Magdalena Reichtum im Ãœbermaß besaß und die Wollust sich gerne großem Besitz zugesellt, gab sie sich in gleichem Maße der Lust hin, wie sie reich und schön war, und man nannte sie deshalb schon nicht mehr bei ihrem richtigen Namen, sondern nur noch "die Sünderin". Als Christus predigend durch das ganze Land zog, kam sie durch göttliche Fügung ins Haus des Pharisäers Simon, denn sie hörte, daß Christus dort essen wollte. Weil sie eine Sünderin war, wagte sie jedoch nicht, unter den Gerechten Platz zu nehmen; so blieb sie hinter dem Herrn zu seinen Füßen und wusch sie mit ihren Tränen, trocknete sie mit ihrem Haar und salbte sie mit einer köstlichen Salbe. Die Leute dieser Gegend hatten nämlich wegen der sengenden Hitze die Gewohnheit, sich oft zu baden und zu salben. Da dachte der Pharisäer Simon bei sich: "Wäre dieser Mann ein Prophet, dann ließe er sich nicht von einer Sünderin berühren." Der Herr zürnte ihm jedoch sehr wegen seines überheblichen Gerechtigkeitssinns und vergab der Frau all ihre Sünden. Das ist also jene Maria Magdalena, der der Herr so große Wohltaten erwies und so viele Zeichen seiner Liebe gab. Er trieb sieben böse Geister aus ihr, entzündete sie gänzlich in der Liebe zu ihm, machte sie zu seiner vertrautesten Freundin, zu seiner Gastgeberin und zu seiner Verwalterin auf seinem Weg und entschuldigte sie stets mit milden Worten. Er verteidigte sie nämlich gegen den Pharisäer, der sie unrein nannte, gegen ihre Schwester, die ihr ihren Müßiggang vorwarf, und gegen Judas, der sie verschwenderisch schalt. Wenn er sah, daß sie weinte, konnte auch er seine Tränen nicht zurückhalten. Aus Liebe zu ihr erweckte er ihren Bruder wieder zum Leben, der vier Tage im Grab gelegen war, und heilte ihre Schwester Marta vom Blutfluß, an dem sie sieben Jahre lang gelitten hatte; um ihretwillen geschah es auch, daß Martilla, eine Dienerin ihrer Schwester, diese süßen und seligen Worte aussprechen durfte: "Selig sei der Leib, der dich getragen hat" (Lukas, 11,27). Denn laut Ambrosius sprach der Herr an dieser Stelle von Marta als der Frau, die er vom Blutfluß heilte, und von ihrer Dienerin Martilla, die die genannten Worte sprach. Und ich sage auch, daß Maria Magdalena es war, die mit ihren Tränen die Füße des Herrn wusch, sie mit ihren Haaren trocknete, sie einsalbte und die zur Zeit der Gnade als erste feierlich Buße tat. Sie war es, die den besten Teil dabei für sich erwählte, die zu seinen Füßen saß, um das Wort Gottes zu hören und sein Haupt zu salben, die neben dem Kreuze stand, als der Herr litt, die die Salbe zubereitete, um damit seinen Leib zu salben, die nicht von seinem Grab wich, als schon alle Jünger weggegangen waren, und der Christus nach seiner Auferstehung als erster erschien und sie zur Apostolin der Apostel machte.

Nachdem der Herr bereits in den Himmel aufgefahren war, nämlich vierzehn Jahre nach seinem Leiden, als die Juden schon lange den Stephanus getötet hatten und die übrigen Jünger aus ihrem Land vertrieben hatten, zogen die Jünger in viele heidnische Länder, um das Wort Gottes auszusäen. Zu dieser Zeit war der selige Maximinus, einer von den zweiundsiebzig Jüngern des Herrn, bei den Aposteln. Seiner Obhut hatte der selige Petrus Maria Magdalena empfohlen. Als nun die Jünger sich zerstreuten, geschah es, daß der selige Maximinus, Maria Magdalena, ihr Bruder Lazarus, ihre Schwester Marta mit ihrer treuen Magd Maritilla und auch der heilige Cedonius, der von Geburt blind war, aber vom Herrn geheilt wurde, zusammen mit mehreren anderen Christen von den Heiden in einem steuerlosen Schiff auf dem Meer ausgesetzt wurden, wo sie alle ertrinken sollten; durch göttliche Fügung gelangten sie aber nach Massilia. Dort fanden sie niemanden, der ihnen Unterschlupf gewähren wollte und blieben deshalb in der Vorhalle eines heidnischen Tempels. Als Maria Magdalena sah, wie das Volk zu dem Heiligtum strömte, um den Götzen zu opfern, stand sie auf und begann mit sanfter Miene, heiterem Gesicht und milden Worten die Leute vom Götzenkult abzukehren und predigte ihnen ohne Unterlaß vom christlichen Glauben. Da wunderten sich alle Leute über ihre Schönheit, ihre Beredsamkeit und ihre süßen Worte. Und tatsächlich ist es kein Wunder, daß die Lippen, die die Füße unseres Erlösers mit so frommen und so süßen Küssen bedeckten, besser als alle anderen den Duft von Gottes Wort verströmten.

2. Später aber kam der Fürst jener Provinz mit seiner Gattin, um ein Opfer zu bringen, damit ihnen ein Kind geschenkt werde. Magdalena predigte ihnen von Gott unserem Herrn und riet ihnen von dem Opfer ab. Einige Tage verstrichen, und Magdalena erschien der Frau des Fürsten im Traum und sprach zu ihr: "Weshalb laßt ihr es zu, daß die Heiligen Gottes von Hunger und Kälte bedrängt werden, während ihr im Reichtum lebt?" Sie drohte ihr auch, daß der Zorn des allmächtigen Gottes über sie käme, wenn sie ihren Gatten nicht dazu überrede, den Heiligen zu helfen. Die Frau aber wagte es nicht, ihrem Mann von der Erscheinung zu erzählen; deshalb erschien Maria Magdalena ihr in der folgenden Nacht erneut und sprach ähnliche Worte. Weil die Frau sich noch immer nichts zu sagen traute, erschien sie ihnen ein drittes Mal beiden zusammen in der Stille der Nacht voll Zorn und mit glühendem Angesicht, daß es schien, als brannte das ganze Haus. Dabei sprach sie: "Schläfst du etwa, Tyrann, du Glied deines Vaters, des Teufels, zusammen mit deiner Frau, dieser Schlange, die dir meine Worte nicht verkünden wollte? Ruhst du, du Feind des Kreuzes Christi, nachdem du deinen Bauch mit allen möglichen Speisen vollgestopft hast, und läßt es zu, daß die Heiligen Gottes an Hunger und Durst zugrunde gehen? Da liegst du in deinem Palast unter seidenen Decken und siehst, wie jene verzweifeln, weil sie kein Dach über dem Kopf haben, aber es kümmert dich nicht. Aber so kommst du nicht davon, du böser Mensch, so nicht; du wirst nicht ungestraft bleiben, weil du ihnen so lange nichts Gutes getan hast." So sprach sie und verschwand. Die Frau erwachte unter Zittern und Seufzen und sprach zu ihrem Mann, dem es ebenso erging wie ihr: "Mein lieber Herr, hast auch du solch einen Traum gehabt?" "Ja", antwortete er, "und ich kann nicht aufhören, mich zu wundern und zu fürchten. Was sollen wir tun?" Da sagte sie: "Es ist besser, zu tun, was sie verlangt, als den Zorn ihres Gottes auf uns zu ziehen." Deshalb nahmen sie die Heiligen in ihr Haus auf und sorgten für sie.

Eines Tages, als Maria Magdalena predigte, sprach derselbe Fürst zu ihr: "Kannst du den Glauben, von dem du predigst, auch verfechten?" Sie antwortete: "Natürlich bin ich dazu in der Lage, ebenso wie er durch die Wunder, die täglich geschehen und die Predigt meines Meisters Petrus in Rom bekräftigt wird." Da sprach der Fürst mit seiner Gattin zu ihr: "Paß auf", wir wollen deinen Worten in allen Dingen gehorsam sein, wenn du erreichst, daß der Gott, von dem du predigst, uns einen Sohn schenkt." "Daran soll es nicht liegen", entgegnete Magdalena und betete für sie zum Herrn, er möge so gnädig sein, ihnen einen Sohn zu schenken. Der erhörte ihre Bitte, und die Frau des Fürsten empfing. Da wollte ihr Mann zu Petrus nach Rom reisen, um sich zu versichern, daß Magdalena die Wahrheit von Christus verkündet habe. Seine Frau sprach zu ihm: "Willst du etwa ohne mich reisen, lieber Herr? Das fehlte noch, denn wenn du fährst, so komme ich auch, wenn du ruhst, so ruhe ich auch." Er aber antwortete ihr: "Das soll nicht geschehen, liebe Herrin, du bist schwanger, und auf dem Meer lauern tausend Gefahren, in die du geraten könntest. Bleib deshalb lieber zu Hause und gib acht auf unser Gut." Sie ließ jedoch nicht davon ab, ihn zu bitten, und wie es die Art der Frauen ist, warf sie sich ihm weinend zu Füßen und erreichte auf diesem Weg schließlich doch, was sie wollte. Maria heftete also das Kreuzzeichen auf ihre Schultern, damit der alte Feind ihnen auf ihrem Weg keinen Schaden zufügen konnte, und sie brachen auf, nachdem sie das Schiff reichlich mit allem Notwendigen ausgestattet und ihre Habe der seligen Maria Magdalena zum Schutz anvertraut hatten. Als sie einen Tag und eine Nacht gesegelt waren, wurde das Meer plötzlich unruhig, und der Wind erhob sich zum Sturm. Alle wurden von der tobenden See hin- und hergeworfen und bekamen große Angst, besonders die Frau, die durch ihre Schwangerschaft geschwächt war. Plötzlich setzte der Wehenschmerz ein, und sie gebar unter den Schmerzen ihres Leibs und den Ängsten des Sturms einen Sohn und starb alsbald. Das neugeborene Kind zitterte und suchte die Brust der Mutter; weil es keinen Trost fand, begann es jämmerlich zu schreien. Welch ein Schmerz! Der Säugling war am Leben, die Mutter aber war bei seiner Geburt gestorben; was erwartete ihn anderes als der Tod, wo doch niemand da war, der ihm zu essen geben konnte. Was sollte der arme Pilger tun, der mitansehen mußte, wie seine Frau tot dalag und sein wimmernder Sohn mit klagender Stimme nach der Mutterbrust suchte? Er weinte und klagte und rief: "Oh weh, ich Armer, was soll ich tun? Ich habe mich so nach einem Sohn gesehnt, und nun habe ich die Mutter zugleich mit dem Sohn verloren!" Die Seeleute aber schrien: "Werft den Leichnam ins Meer, bevor wir alle miteinander zugrunde gehen! Solange wir ihn nicht los sind, wird der Aufruhr nicht nachlassen!" Und sie packten den leblosen Körper und wollten ihn ins Meer werfen. "Haltet ein", schrie der Pilger, "haltet ein". Wenn ihr schon mich und die Mutter nicht schonen wollt, so erbarmt euch wenigstens dieses wimmernden Kindes! Wartet nur ein wenig, vielleicht ist sie in ihrem Schmerz nur ohnmächtig geworden und atmet noch!" Und siehe, unweit von ihrem Schiff sahen sie einen Felsen aus dem Meer ragen. Bei seinem Anblick glaubte der Fürst, es sei besser, den Leichnam und das Kind dort abzusetzen, als sie den Ungeheuern des Meeres zum Fraß vorzuwerfen. Mit großer Mühe erreichte er von den Seeleuten durch Bitten und Versprechungen, daß sie dort anlegten. Weil der Fels aber so hart war, daß er kein Grab schaufeln konnte, brachte er den Leichnam an einen verborgenen Ort des Felsens, bettete ihn auf seinen Mantel und legte den Knaben der Mutter an die Brust. Dabei schluchzte er: "Oh Maria Magdalena, zu meinem Verderben bist du in Massilia gelandet! Warum hab ich Unseliger auf deinen Rat hin diese Reise unternommen? Hast du Gott darum gebeten, daß meine Frau empfangen hat, um zu sterben? Siehe, nun wurde sie schwanger und hat bei der Geburt den Tod gefunden, und ihre Leibesfrucht wurde geboren, um zu sterben, weil niemand das Kind ernähren kann. Siehe, das habe ich durch deine Fürbitte gewonnen. Ich hab all mein Gut dir anvertraut und gebe mich selbst ganz in die Hand deines Gottes, wenn du es vermagst, so denk an die Seele dieser Mutter und bete zu Gott, daß er sich erbarmt und das Kind am Leben läßt. " Dann hüllte er den Leichnam und das Kind fest in seinen Mantel und ging wieder auf das Schiff.

Als er zu Petrus kam, begegnete er ihm schon auf der Straße; als Petrus das Kreuzzeichen auf seiner Schulter sah, fragte er ihn, wer er sei und woher er käme. Als er ihm alles der Reihe nach erzählt hatte, sprach Petrus zu ihm: "Friede sei mit dir, du hast wohl daran getan zu kommen und bist einem guten Rat gefolgt. Betrübe dich nicht, daß deine Frau schläft und dein Kind mit ihr ruht, denn der Herr hat die Macht, wen er will zu beschenken, sein Geschenk wieder zu nehmen und es wiederzugeben, und er kann deine Trauer in Freude verwandeln." Dann führte er ihn nach Jerusalem und zeigte ihm alle Orte, an denen Christus gepredigt und seine Wunder vollbracht hatte, und auch den Ort, wo er gekreuzigt wurde und in den Himmel auffuhr. Nachdem Petrus ihn sorgfältig im Glauben unterwiesen hatte, bestieg er nach Ablauf von zwei Jahren wieder sein Schiff, um in seine Heimat zurückzukehren. Auf der Heimfahrt gelangten sie durch Gottes Führung wieder in die Nähe des Felsens, wo der Fürst seine Gemahlin und seinen Sohn zurückgelassen hatte, und wieder erreichte er durch Bitten und Versprechungen, daß sie dort anlegten. Der Knabe war in der Zwischenzeit von Maria Magdalena behütet worden und heil und gesund geblieben; er lief oft zum Strand und spielte dort mit Sand und Steinen wie die Kinder es gerne tun. Als der Vater nun den Knaben nach gewohnter Weise am Meeresstrand spielen sah, wunderte er sich sehr und sprang aus dem Kahn, um zu sehen, was da geschah. Der Knabe aber hatte so etwas noch nie gesehen und erschrak beim Anblick des Fremden sehr; er floh an die Brust seiner Mutter und versteckte sich unter dem Mantel. Der Pilger aber trat näher, um besser sehen zu können, und fand ein wunderschönes Kind, das an der Brust seiner Mutter saugte. Er nahm es in seine Arme und rief: "Oh selige Maria Magdalena, wie glücklich wäre ich, und wie gut hätte alles sich gefügt, würde meine Frau doch atmen und mit mir heimkehren können! Ich weiß nämlich und hege nicht den geringsten Zweifel, daß du, die du mir den Knaben geschenkt hast und ihn zwei Jahre lang auf diesem Felsen beschützt hast, auch seine Mutter durch dein Gebet wieder gesund machen kannst." Während er so sprach, schlug die Frau die Augen auf und sagte, als sei sie eben vom Schlaf erwacht: "Lob sei dir und Herrlichkeit, selige Maria Magdalena; du hast mir Hebammendienste geleistet in meiner schweren Stunde und das Amt einer Magd in all meinen Nöten versehen." Als der Pilger sie so reden hörte, wunderte er sich und sprach: "Lebst du, meine geliebte Frau?" Sie antwortete: "Ja, ich lebe und komme wie du gerade von der Pilgerfahrt; wie der heilige Petrus dich durch Jerusalem führte und dir all die Stätten zeigte, an denen Christus gelitten hat, gestorben und begraben ist und auch verschiedene andere Orte, so habe auch ich unter der Führung der heiligen Maria Magdalena euch begleitet und mir alles, was ich sah, wohl gemerkt." Und sie zählte ihm alle Stätten, an denen Christus gelitten hatte, und alle Wunder, die sie gesehen hatte, auf und beschrieb sie genau, ohne sich einmal zu täuschen. So gewann der Pilger seine Gattin und seinen Sohn wieder; sie bestiegen voll Freude das Schiff und erreichten wenig später den Hafen von Massilia. Als sie die Stadt betraten, fanden sie die selige Maria Magdalena, wie sie mit ihren Jüngern predigte ; sie warfen sich ihr unter Tränen zu Füßen und erzählten ihr alles, was geschehen war. Dann empfingen sie vom heiligen Maximinus die Taufe und zerstörten alle Heidentempel in der ganzen Stadt. Dafür erbauten sie christliche Kirchen und wählten einstimmig den heiligen Lazarus zum Bischof der Stadt. Danach kamen sie durch Gottes Führung in die Stadt Aix und bekehrten dort das Volk durch viele Wunder zum Christenglauben. Zum Bischof der Stadt wurde der heilige Maximianus ausersehen.

In der Zwischenzeit begehrte Maria Magdalena nach höherer Betrachtung; sie ging in die rauheste Wildnis und lebte dort dreißig Jahre lang unerkannt an einem Ort, den die Hände von Engeln für sie geschaffen hatten. An diesem Ort gab es weder ein Bächlein noch Bäume oder Gras als Trost. Daran wird deutlich, daß unser Herr sie nicht mit irdischer Nahrung, sondern mit himmlischer Speise sättigen wollte. Jeden Tag aber wurde sie zu den sieben Gebetsstunden von Engeln in die Lüfte gehoben und hörte mit ihren leiblichen Ohren den Gesang der himmlischen Heerscharen. So wurde sie alle Tage mit dieser süßen Kost gespeist und dann von denselben Engeln wieder an ihren Platz auf die Erde zurückgebracht, so daß sie keiner irdischen Nahrung bedurfte. Nun aber sehnte ein Priester sich nach dem Einsiedlerleben und baute sich zwölf Meilen von ihr entfernt seine Klause. Eines Tages öffnete der Herr diesem Priester die Augen, und er sah mit seinen leiblichen Augen ganz deutlich, wie die Engel zu dem Ort kamen, an dem Maria Magdalena lebte, und sie in den Himmel erhoben und nach einer Stunde unter göttlichem Lobgesang wieder herausbrachten. Der Priester wollte die Wahrheit über diese wunderbare Erscheinung herausfinden, empfahl sich Gott im Gebet und eilte mit frommer Kühnheit zu dem Ort. Als er nur noch einen Steinwurf entfernt war, begannen seine Gebeine ihm zu schlottern, und heftige Furcht nahm ihm den Atem. Er ging zurück, und seine Gebeine gehorchten ihm wieder, sooft er aber wieder in die andere Richtung einschlagen und zu dem besagten Ort zurückkehren wollte, wurden seine Glieder schwer und sein Geist träge. Da erkannte der Gottesmann, daß dies ohne jeden Zweifel ein himmlisches Geheimnis sei, zu dem menschliche Erkenntnis keinen Zugang habe. Deshalb rief er den Namen des Erlösers an und sprach: "Ich beschwöre dich bei Gott dem Herrn: Bist du ein Mensch oder irgendeine vernünftige Kreatur, der du in dieser Höhle wohnst, so antworte mir und sage die Wahrheit über dich." Diese Worte wiederholte er dreimal, da antwortete ihm die selige Maria Magdalena: "Komm näher, und du wirst die Antwort erfahren über alles, was dein Herz begehrt." Als er zitternd in die Mitte des Raumes trat, sprach sie zu ihm: "Erinnerst du dich aus dem Evangelium an jene berühmte Sünderin Maria, die die Füße des Erlösers mit ihren Tränen wusch, mit ihrem Haar trocknete und Vergebung für ihre Sünden erwarb?" Der Priester erwiderte: "Sicherlich, seither sind mehr als dreißig Jahre verstrichen, daß die heilige Kirche dies glaubt und bekennt." "Ich bin diese Frau", vertraute sie ihm an. "Ich habe hier dreißig Jahre lang von allen Menschen unerkannt gelebt, und wie es mir heute erlaubt war, dich zu sehen, so werde ich jeden Tag von den Händen der Engel zum Himmel emporgehoben und darf jeden Tag siebenmal mit meinen leiblichen Ohren den süßen Chor der himmlischen Heerscharen vernehmen. Weil nun der Herr mir offenbart hat, daß ich bald von dieser Welt scheiden werde, bitte ich dich, geh zum heiligen Maximinus und sag ihm, er möge am Tage des nächsten Osterfestes, an welchem er für gewöhnlich früh morgens aufsteht, alleine in die Kirche kommen. Dort wird er mich von den Engeln geleitet finden." Der Priester jedoch vernahm zwar ihre Stimme wie die eines Engels, konnte aber keinen Menschen sehen. Also ging er eilends zu Maximianus und erzählte ihm alles der Reihe nach. Der wurde von übergroßer Freude erfüllt und dankte Gott von ganzem Herzen; an dem Tag und zu der Stunde, die ihm angegeben waren, ging er allein in die Kirche und sah die heilige Maria Magdalena im Chor der Engel, die sie hergeführt hatten. Sie war zwei Ellen von der Erde emporgehoben und stand inmitten der Engel und betete mit ausgebreiteten Armen zum Herrn. Weil der selige Maximinus nicht wagte näherzutreten, wandte sie sich zu ihm und sprach: "Tritt heran mein Vater, und fürchte dich nicht vor deiner Tochter." Er trat näher und sah, wie wir in seinen eigenen Büchern lesen, daß ihr Antlitz vom immerwährenden Anblick der Engel so strahlte, daß man eher in die Strahlen der Sonne als in ihr Angesicht schauen konnte. Maximinus versammelte den gesamten Klerus und rief den vorher genannten Priester herbei; dann empfing die selige Maria Magdalena den Leib und das Blut des Herrn unter vielen Tränen aus der Hand des Bischofs, streckte ihren Körper vor den Stufen des Altars weit aus und verschied. Nach ihrem Tod verblieb in der Kirche ein solch süßer Duft, daß er noch sieben Tage lang von allen, die in die Kirche kamen, wahrgenommen wurde. Ihren heiligen Leib salbte der selige Maximinus mit vielen Wohlgerüchen und bestattete ihn mit allen Ehren.

Hegesippus oder auch Josephus, stimmen in dieser Geschichte überein. Er sagt nämlich in einem seiner Traktate, daß Maria Magdalena nach der Himmelfahrt des Herrn aufgrund ihrer brennenden Liebe zu Christus und wegen des Ãœberdrusses, den sie der Welt gegenüber empfand, keinen Menschen mehr sehen mochte. Deshalb ging sie, nachdem sie in die Gegend von Aix gekommen war, in eine Wüste und lebte dort unerkannt dreißig Jahre lang und wurde jeden Tag zu den sieben Gebetsstunden von einem Engel zum Himmel emporgehoben. Er sagt auch, daß der Priester sie in ihrer Zelle eingeschlossen fand, als er zu ihr kam; auf ihre Bitte reichte er ihr seinen Mantel, den sie anzog und daß sie dann mit ihm zur Kirche ging. Dort empfing sie das Abendmahl, breitete die Arme aus zum Gebet und entschlief in Frieden neben dem Altar.

3. Zur Zeit von Karl dem Großen, also um das Jahr 769, lebte in Burgund ein Herzog mit Namen Gyrardus. Weil seine Gattin ihm keinen Sohn schenken konnte, verteilte er mit mildtätiger Hand sein Gut unter den Armen und baute viele Kirchen und Klöster. Als er das Kloster von Vezelay gegründet hatte, schickte der Abt dieses Klosters und er selbst einen Mönch unter geziemender Begleitung nach Aix, um von dort möglichst die Reliquien der heiligen Maria Magdalena herbeizuholen. Als dieser nun zur Stadt kam, fand er sie von den Heiden bis auf die Grundmauern zerstört. Durch Zufall stieß er auf ein Grab, auf dem eine marmorne Inschrift anzeigte, daß hier der Leib der heiligen Maria Magdalena bestattet läge, denn ihre Geschichte war in wundervoller Arbeit in den Stein gehauen. In der Nacht brach er das Grab auf und nahm die Reliquien an sich, um sie in seine Herberge zu bringen. In derselben Nacht noch erschien ihm die selige Maria Magdalena und sprach: "Fürchte dich nicht, sondern bring das Werk zu Ende, das du begonnen hast." Er kehrte also nach Hause zurück; als er aber noch eine halbe Meile vom Kloster entfernt war, konnte er die Reliquien keinen Schritt mehr vorwärtsbewegen, bis der Abt mit allen Mönchen ihm entgegenzog und die Reliquien in feierlicher Prozession nach Hause führte.

4. Ein Ritter, der jedes Jahr zum Grab der heiligen Maria Magdalena gepilgert war, wurde im Gefecht erschlagen. Als er auf der Bahre lag, beweinten ihn seine Freunde und beklagten, daß Magdalena ihren treuen Diener ohne Buße und Beichte hatte sterben lassen. Da erhob sich der Tote plötzlich unter den erschrockenen Blicken der Umstehenden und verlangte nach einem Priester. Dann legte er voll Andacht die Beichte ab, empfing die letzte Wegzehrung und lag sogleich wieder tot da.

5. Ein Schiff, auf dem Männer und Frauen fuhren, erlitt Schiffbruch. Eine schwangere Frau aber betete angesichts der Gefahr von ganzem Herzen zu Maria Magdalena und gelobte, wenn sie ihr das Leben rette und sie einen Sohn gebäre, würde sie diesen ihrem Kloster weihen. Sogleich erschien ihr eine Frau von ehrwürdigem Antlitz und Gewand, die faßte sie am Kinn und brachte sie unversehrt ans Ufer; alle anderen kamen in den Fluten um. Bald darauf gebar die Frau einen Sohn und erfüllte treu ihr Gelübde.

6. Manche behaupten, Maria Magdalena sei die Braut von Johannes dem Evangelisten gewesen; als sie aber gerade Hochzeit halten wollten, rief Christus den Johannes zu sich. Sie sei so erbittert darüber gewesen, daß er ihr den Bräutigam genommen hatte, daß sie sich künftig aller Fleischeslust hingab. Weil der Herr aber nicht wollte, daß die Berufung des Johannes für sie ein Grund für ewige Verdammnis sei, bekehrte er sie mit großem Erbarmen zur Buße, und weil er sie von der höchsten leiblichen Lust abgekehrt hatte, erfüllte er sie mit der höchsten geistlichen Lust, nämlich der Liebe zu Gott. Dasselbe sagen manche auch von Johannes, daß der Herr ihn darum vor allen anderen mit seiner innigsten Gemeinschaft begnadet hat, weil er ihn von jener irdischen Liebe zu sich berufen hat. Das aber wird für falsch und unwahr angesehen, denn Bruder Albertus schreibt in seinem. Vorwort über das Evangelium des Johannes, daß diese Braut, von der Johannes im Augenblick seiner Hochzeit getrennt wurde, jungfräulich blieb und danach in der Gemeinschaft der seligen Jungfrau Maria, der Mutter Gottes, gesehen wurde, bevor sie in treuem Glauben entschlief.

7. Ein Blinder war einmal auf dem Weg zum Kloster Vezelay, um den Leib der heiligen Maria Magdalena zu besuchen. Als sein Führer zu ihm sagte, er sehe die Kirche schon, rief der Blinde mit lauter Stimme: "Oh, heilige Maria Magdalena, könnte doch auch ich deine Kirche sehen!" Und sogleich wurden ihm die Augen geöffnet.

8. Ein Mann schrieb seine Sünden auf einen Zettel und legte diesen unter das Tuch von Maria Magdalenas Altar. Er bat sie, ihm seine Schuld zu vergeben, und als er den Zettel wieder hervorzog, waren all seine Sünden ausgelöscht.

9. Ein Mann wurde wegen seiner Schulden in Haft gehalten. Er betete ohne Unterlaß zu Maria Magdalena, ihm zu Hilfe zu kommen, und siehe, eines Nachts erschien ihm eine wunderbare Frau, die zerbrach seine Ketten, öffnete ihm die Türen und wies ihn an, zu fliehen. Er sah sich gerettet und ergriff augenblicklich die Flucht.

10. Ein Kleriker aus Flandern mit Namen Stephanus war in solche Ruchlosigkeit verfallen, daß er jede denkbare Schandtat beging und jede gute Tat nicht nur nicht tun, sondern auch nichts davon hören wollte. Trotzdem verehrte er Maria Magdalena sehr; er verbrachte die Nacht, die ihrem Festtag vorausging, fastend im Gebet und feierte ihr Fest. Als er einmal ihr Grab besucht hatte, erschien Maria Magdalena ihm zwischen Wachen und Schlafen in der Gestalt einer schönen Frau mit traurigen Augen. Zu ihrer Rechten und ihrer Linken stützte sie sich auf zwei Engel und sprach zu ihm: "Weshalb, Stephanus, vergiltst du mir meine Wohltaten durch solche Bosheit? Weshalb wirst du durch mein eindringliches Gebet zu keiner Besserung bewegt? Seitdem du mich nämlich so andächtig verehrst, habe ich stets inständig beim Herrn für dich Fürbitte eingelegt; steh also auf und tue Buße, denn ich werde dich nicht im Stich lassen, bis du mit Gott wieder versöhnt bist." Bald darauf fühlte er sich so von Gott erfüllt, daß er sich von der Welt abkehrte, in ein Kloster ging und ein vollkommenes Leben führte. Bei seinem Tod konnte man Maria Magdalena mit den Engeln neben seiner Bahre stehen sehen; sie nahm seine Seele als weiße Taube an sich und trug sie unter Lobgesang in den Himmel." ⋅1⋅

Zurück-Button Literaturhinweise

Die Literatur über Heilige ist sehr vielfältig. Hier sei besonders verwiesen auf :
Peter Manns (Hrsg.), Die Heiligen (Mainz 1982).
Erich Weidinger (Hrsg.), Legenda aurea - Das Leben der Heiligen (Aschaffenburg 1986).
Sehr informativ ist nicht minder

Das Ökumenische Heiligenlexikon = http://www.heiligenlexikon.de.

Anmerkungen

1 Zitiert nach: Erich Weidinger (Hrsg.), Legenda aurea - Das Leben der Heiligen (Aschaffenburg 1986) 257-265. Zur Anmerkung Button