Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Was für eine Kirche...

Detail des Isenheimer Altares

Das Kirchengebäude im Hintergrund des "Weihnachtsbildes".

Hinter der Mutter Maria mit ihrem Kind erkennt man einen Kirchen­komplex, mehrere  Gebäude, die recht exponiert, auf einer Anhöhe stehen - eines der vielen rätsel­haften Details auf dem Altar­werk.

Wenn dieser Bildausschnitt von den Erklärern nicht ganz einfach übergangen wird, dann wird ihm von den jeweiligen Autoren meist symbolische Bedeutung beige­messen. Die Deutungen aber sind recht unterschiedlich. Und schon die Frage, ob dieses Bauwerk die bildliche Wiedergabe eines realen Ortes oder ein Fantasiegebäude darstellt, ist umstritten.

Michael Schubert versucht sogar zu zeigen, dass es sich nicht einmal um ein Kirchengebäude im "üblichen" Sinn handeln könne. Er glaubt dies aus dem Grundriss des dargestellten Gebäudes entnehmen zu können, den er zu erschließen versucht. Dass sich hinter der dem Betrachter zugewandten Apsis ein langgestrecktes Gebäude anschließt, schließt er aufgrund des ihm zu kurz erscheinenden Dachfirstes aus. So kommt für ihn nur ein quer zum Betrachter angeordnetes Gebäude in Frage. Dessen auf dem Gemälde nicht sichtbaren Teile erschließt er dabei, indem der die sichtbaren gleichsam spiegelt. In dem dadurch gewonnenen Gebäude könne aber "keine befriedigende Lösung für einen kultischen Raum" gefunden werden. Daraus folgert Schubert, dass Grünewald, indem er "durch die "fragwürdige" Sakralarchitektur hier vom bereits Klischee gewordenen Kanon abweicht", darauf hinweisen wolle, "dass das institutionalisierte "Kirchentum" künftig zunehmend auf individuellere Formen zusteuern wird." ⋅1⋅

Diese Argumentation ist überzogen und wenig schlüssig. Schon die Vorgehensweise beim Erschließen des Grundrisses ist fragwürdig. Auf diese Art und Weise könnte man ganz analog aus der weiter unten auf dieser Seite abgebildeten Choransicht des Breisacher Münsters schließen, es müsse sich in Breisach um einen achteckigen Zentralbau handeln. Dass der Betrachter des Bildes auf den hoch aufragenden Chor einer Kirche blickt, lässt sich absolut nicht ausschließen.

Noch weniger lässt sich folgern, dass Meister Mathis ganz bewusst einen Kirchenbau darstellen wollte, der letztlich gar keine Kirche ist. Mathis malt hier ganz deutlich eine Kirche.

Die Frage ist lediglich, ob es sich bei dieser Darstellung einfach um eine Abbildung ohne Rückhalt in der Realität handelt oder ob sich der Künstler an einem realen Vorbild orientiert hat, sich also ein Gebäude finden lässt, das der Darstellung auf dieser Tafel des Isenheimer Altares entspricht.

So müsste die Überschrift dieser Seite zunächst eigentlich auch mit einem Fragezeichen versehen sein: Um was für eine Kirche handelt es sich hier?

Warum denn  in die Ferne schweifen?

Marie Anne Hartmann,

"sieht sich in der Lage, nachweisen zu können, daß die in der Weihnachtstafel abgebildete Kirche das Breisacher Stephansmünster ist." ⋅3⋅

Diese Ansicht begegnet öfter - selten jedoch so massiv vertreten. Sehr vorsichtig formuliert etwa Wilhelm Nyssen, dass der Bau der kleinen Kirche, der auf den Altartafeln abgebildet ist, fast

"eine Wiederkehr des Breisacher Münsters" ⋅4⋅

Wenn man hierbei nur die Silhouette betrachtet, ergeben sich sogar gewisse Ähnlichkeiten. Vor allem die markante Lage auf dem "mons brisiacus" und der den Rhein überragende Standort des Breisacher Münsters lassen Vergleiche mit der Darstellung auf dem Isenheimer Altar zu.

Aber schon auf den zweiten Blick wird deutlich, dass das Breisacher Münster kaum Vorbild für den Isenheimer Altar gewesen sein kann. Weder die Türme noch die Chorpartie an sich haben wirkliche Ähnlichkeit. Außerdem müssten die Nebengebäude allesamt phantasievolle Zutaten des Künstlers sein.

Das Argument, dass Chor und Türme zur Zeit der Entstehung der Isenheimer Altartafeln möglicherweise noch nicht vollendet waren und hier der Zustand des Münsters vor der hochgotischen Erweiterung zu sehen sei, ist nicht stichhaltig. Alle gefundenen Jahreszahlen am Münsterbau deuten darauf hin, dass die Westhalle bald nach 1485, der Chor um 1494 vollendet gewesen sein müssen. ⋅5⋅ Die Fertigstellung des Südturmes in seinen heutigen Formen dürfte ebenfalls in der Zeit des ausgehenden 15. Jahrhunderts anzusetzen sein. Der Nordturm stammt sogar noch aus romanischer Zeit - ausgerechnet seine Turmbekrönung fehlt allerdings bei der Kirchendarstellung des Meister Mathis.

Detail des Isenheimer Altares

Das Kirchengebäude auf der
Altartafel des Meister Mathis.

 

Ostansicht

Der Ostchor des
Münsters zu Breisach.

Foto: Jörg Siegr, Oktober 1986

Die Klosteranlage in Seligenstadt

Josef Hermann Maier vermutete in einigen seiner leider nie veröffentlichten Vorträgen eine Parallele zur Klosteranlage von Seligenstadt mit dem Main im Vordergrund. Er verweist darauf, dass Meister Mathis um die Jahrhundertwende vom 15. zum 16. Jahrhundert in Seligenstadt sesshaft war und dort auch als

"Hofmaler und Ingenieur zweier Kurmainzer Erzbischöfe zeitlebens seine Werkstatt unterhielt." ⋅6⋅

Für Maier ist der Name "Seligenstadt" denn auch der Schlüssel zur Deutung des Bilddetails. Es ginge gleichsam um den Ausblick in die Vollendung, die Stadt der Seligen, die himmlische Kirche, die hier im Hintergrund des Weihnachtsbildes bereits aufleuchten würde.

Kupferstich

Klosteranlage Seligenstadt im 17. Jahrhundert von Nordosten, nach einem Kupferstich von M. Merian.

Lizenz: Matthäus Merian, Seligenstadt De Merian Hassiae, zugeschnitten von Jörg Sieger,
als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Auffallend sind aber auch hier die nicht zu übersehenden Unterschiede: Seligenstadt liegt in der Ebene, direkt am Ufer des Mains. Zwar weist die Chorpartie der Klosterkirche gewisse Übereinstimmungen mit dem auf dem Isenheimer Altar dargestellten Kirchenbau auf, aber der große Vierungsturm, der auch im 16. Jahrhundert so schon vorhanden war, stellt solch einen gewaltigen Akzent dar, dass von einer wirklichen Ähnlichkeit der beiden Abbildungen eigentlich nicht gesprochen werden kann.

Der Rupertsberg bei Bingen

In eine ganz andere Richtung weist Berta Reichenauer, die im Anschluss an Hanny Franke die Ansicht vertritt, Meister Mathis hätte hier das Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen zur Vorlage genommen. ⋅7⋅. Und in der Tat, die Darstellungen, die uns von der alten Anlage der Hildegard von Bingen überliefert sind, weisen mit der Kirchendarstellung des Meister Mathis eine Reihe interessanter Übereinstimmungen auf.

Historische Ansicht

Kloster Rupertsberg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges.

Lizenz: Unknown, Kloster Rupertsberg, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Detail des Isenheimer Altares

Das Kirchengebäude auf der Altartafel des Meister Mathis.

Nicht nur die Form des Chores, die Turmdächer, die seitlich angelagerten - wenn auch deutlich vereinfacht gezeichneten - Gebäulichkeiten, die Bebauung unterhalb des Hanges und das charakteristisch im Vordergrund liegende Flussbett der Nahe, all dies sind Vergleichspunkte, die bei der Darstellung des Isenheimer Altares durchaus daran denken lassen, dass hier das Kloster Rupertsberg bei Bingen Pate gestanden haben könnte.

Meister Mathis dürfte dieses Kloster gekannt haben.

"Als 1510 der Brunnen auf Burg Klopp bei Bingen, die Eigentum des Mainzer Domkapitels war, Schäden zeigte, sollte von einem Meister Mathis begutachtet werden, ob eine Reparatur nicht zu unnutzigen costen furen würde. Ob dieser Meister mit dem Maler Matthias Grünewald identifiziert werden kann, ist bisher ungeklärt." ⋅8⋅

Grafik

“Kloster Rupertsberg um 1600”.
Buchillustration 20. Jh., nach einer zeitgenössischen Darstellung.

© akg-images

Wenn man der Überlieferung trauen darf, dass der Meister des Isenheimer Altars später vor allem als "Wasserbaumeister" bekannt wurde und als solcher in Halle starb ⋅9⋅, dann kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass jener Meister Mathis, der 1510 - wenige Jahre bevor die Tafeln des Altarwerkes der Antoniter in Isenheim geschaffen wurden - in der Gegend von Bingen in Sachen Brunneninspektion tätig war, mit dem Isenheimer Meister identisch ist.

Aber welchen Grund könnte Meister Mathis gehabt haben, dieses Kloster für sein Kirchengebäude auf dem "Weihnachtsbild" zum Vorbild zu nehmen?

Das Kloster auf dem Rupertsberg war bekanntlich eine Gründung Hildegards von Bingen (1098-1179), die sich 1147 entschlossen hatte, den Disibodenberg zu verlassen und sich auf dem von den Kanonikern in Mainz erworbenen Gelände niederzulassen. Der Rupertsberg steht also gleichsam für die Heilige Hildegard und deren Gedankengut, das einige Erklärer des Isenheimer Altares zur Deutung der Symbolik heranziehen. Meister Mathis hätte als Ausdruck seiner Nähe zu Hildegard von Bingen und ihrer Mystik

"ihr Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen im Hintergrund des Weihnachtsbildes verewigt." ⋅10⋅

Damit könnte man in dieser Darstellung fast so etwas wie einen Schlüssel zur Deutung des Bildes sehen - etwa nach dem Motto: Um die Symbolik des Bildes zu verstehen, denke man an Hildegard von Bingen und ihre Schriften. Dies vermutete bereits Georg Scheja, der 1969 das Werk "Scivias" der Heiligen Hildegard zur Entschlüsselung des Bildinhaltes heranzog. ⋅11⋅

Man sollte solche Bezüge nicht vorschnell von der Hand weisen. Auch wenn man nicht davon ausgehen mag oder kann, dass ein Meister Mathis die Schriften einer Hildegard von Bingen oder einer Birgitta von Schweden studierte, um seine Bilder zu komponieren und auch wenn seine Auftraggeber das Programm der Bildwerke nicht aus den Schriften der Mystiker zusammengestellt haben mögen - die Gedanken einer Hildegard oder einer Birgitta haben das mittelalterliche Denken so stark geprägt, dass Dinge ganz einfach auf eine bestimmte Art und Weise ausgedrückt und dargestellt wurden. Dies war vielfach zum Allgemeingut geworden, auch ohne dass man sich in jedem einzelnen Fall Gedanken darüber gemacht haben dürfte, auf wen oder welche Schrift nun ein einzelnes Symbol zurückgehen mag.

Detail des Isenheimer Altares

Das Kirchengebäude
mit den dunklen Wolken.

Im Grunde war das ähnlich wie heute. Bestimmte Symbole sind so sehr im Allgemeingut verwurzelt, dass niemand erst in einem Handbuch nachschlagen muss, um sie verwenden zu können. Eine Rose steht ganz allgemein für Liebe und wird von fast jedermann so verwandt, auch ohne dass man sich Gedanken darüber machen würde, auf wen diese symbolische Bedeutung wohl zurückgehen mag.

So sind Einflüsse der mittelalterlichen Mystik auf das Altarwerk - direkter oder indirekter Art - nicht nur möglich sondern mehr als wahrscheinlich. Und es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Meister Mathis oder seine Auftraggeber mit der Darstellung des Kloster auf dem Rupertsberg der Verehrung der Heiligen Hildegard Ausdruck verleihen wollten. Solche Zusammenhänge aber auf kurze Formeln zu bringen - wie etwa, dass die sogenannte Stuppacher Madonna von Birgitta von Schweden, der Isenheimer Altar aber vor allem von Hildegard von Bingen geprägt sei - greifen dann aber doch wohl etwas zu kurz.

Sinnbild der Kirche

Auch wenn man zur Überzeugung kommt, dass letztlich keine real existierende Kirche für die Darstellung des Meister Mathis Pate gestanden hat, wird man einfach von einer typischen Darstellung einer Kirchenanlage auszugehen haben. Einer der profiliertesten Vertreter dieser Ansicht ist Emil Spath. Er sieht in diesem Gebäude ganz allgemein eine symbolische Darstellung der Kirche im übertragenen Sinne.

Spath verweist auf die Beschaffenheit des Felsens, auf dem das Gebäude steht. Er erscheint ihm wenig fest, sogar schief und in der Gefahr abzusinken. ⋅12⋅

Während der quer stehenden Bau mit dem fertigen Turm für Emil Spath den Eindruck einer "Leutkirche" macht, erinnert ihn die aufragende Fassade mit der Apsis, ihren hohen gotischen Fenstern und dem ganzen Turmensemble - dem fertigen und dem unfertigen Turm - an die Silhouette einer Mitra, der Kopfbedeckung der Bischöfe. Für Spath ist dies

"eine Bischofskirche, im "Renaissance"-Zustand, vor der Kirchenspaltung im Abendland. Hoch darüber drohen schwarze Wolken..." ⋅13⋅

Zurück-Button Literaturhinweise

Vergleiche vor allem:
Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996),
Wilhelm Nyssen, Choral des Glaubens - Meditationen zum Isenheimer Altar (Freiburg 1984),
Berta Reichenauer, Grünewald (Thaur, Wien, München 1992),
Michael Schubert, Der Isenheimer Altar - Geschichte - Deutung - Hintergründe (Stuttgart 2007) 97
sowie

Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 57, 114-115.
Zur Geschichte der Stadt Breisach mit der komplizierten Baugeschichte des Münsters siehe:

Günther Haselier, Geschichte der Stadt Breisach am Rhein (Breisach 1969) I.
Zur Frage der Tätigkeit Meister Mathis im Umkreis Bingens vergleiche:

Stefan Heinz Wolfgang Schmid, Artikel: Brunnen, in: Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel und Jörg Wettlaufer, Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, 15 II (Ostfildern 2005).

Anmerkungen

1 Vgl.: Michael Schubert, Der Isenheimer Altar - Geschichte - Deutung - Hintergründe (Stuttgart 2007) 97. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Michael Schubert, Der Isenheimer Altar - Geschichte - Deutung - Hintergründe (Stuttgart 2007) 97. Zur Anmerkung Button

3 Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 75, Anm. 200, mit Bezug auf Maria Anne Hartmann, Mathias Grünewald - Der Isenheimer Altar. Malerei und Spiritualität (Obernai 1994) 81-82. Zur Anmerkung Button

4 Wilhelm Nyssen, Choral des Glaubens - Meditationen zum Isenheimer Altar (Freiburg 1984) 42. Zur Anmerkung Button

5 Vgl.: Günther Haselier, Geschichte der Stadt Breisach am Rhein (Breisach 1969) I, 244. Zur Anmerkung Button

6 Wilhelm Fraenger, Matthias Grünewald (Dresden 1983) 115. Zur Anmerkung Button

7 Vgl.: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 75, Anm. 200. Zur Anmerkung Button

8 Stefan Heinz Wolfgang Schmid, Artikel: Brunnen, in: Werner Paravicini, bearb. von Jan Hirschbiegel und Jörg Wettlaufer, Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, 15 II (Ostfildern 2005) 447. Zur Anmerkung Button

9 Vgl.: Wilhelm Fraenger, Matthias Grünewald (Dresden 1983) 115. Zur Anmerkung Button

10 Berta Reichenauer, Grünewald (Thaur, Wien, München 1992) 85, zitiert nach: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 75, Anm. 200. Zur Anmerkung Button

11 Vgl.: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 32. Zur Anmerkung Button

12 Vgl.: Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 57. Zur Anmerkung Button

13 Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 57. Zur Anmerkung Button