Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Weiter-Button Zurück-Button Lesbare Verkündigung

Darstellung im Breisacher Münster

Darstellung der Kreuzigung aus dem Breisacher Münster.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

"Es kann heute überraschen, wenn man bei mittelalterlichen Theologen kaum ein Wort darüber findet, daß die reiche künstlerische Ausstattung der Kirchen mit Bildern und Figuren zur Verherrlichung Gottes und seines Hauses gedacht sei. Um so häufiger erfolgt statt dessen der Hinweis, sie diene zur Belehrung der Gläubigen, sei "Schrift für Analphabeten", "Predigt ohne Worte"." ⋅1⋅

Glaubensvermittlung im Mittelalter

Um den Isenheimer Altar und was dieses Werk eigentlich wollte, wirklich zu verstehen, gilt es diesem Hinweis Konrad Kunzes weiter nachzugehen. Dazu müssen wir uns wieder vor Augen führen, dass bis zum 15. Jahrhundert und darüber hinaus nur ein verschwindend geringer Teil der Bevölkerung Gelegenheit hatte, lesen und schreiben zu lernen. Kunze vermutet für die Stadt Freiburg im 14. Jahrhundert, dass vielleicht 5-10%  der Bevölkerung des Lesens kundig waren. ⋅2⋅

Um Glaubensinhalte zu vermitteln bediente man sich daher der Predigt oder auch der verschiedensten religiösen Lieder. Auch das Spiel und religiöse Vorführungen waren wichtig, wie beispielsweise am Himmelfahrtstag. Kunze weist darauf hin, dass man im Freiburger Münster etwa eine Christusfigur durch ein Aufzugsloch im Gewölbe emporzog. ⋅3⋅ Das wichtigste Medium der Wissensvermittlung aber war über Jahrhunderte hinweg das Bild. Nicht umsonst steckt dieser Begriff in unserem Deutschen Wort "Bildung". Bildung kommt vom Bild.

Eine verloren gegangene Grammatik

Von daher waren die Bilder der damaligen Zeit vor allem darauf ausgerichtet, einen Inhalt zu vermitteln, eine Botschaft weiterzugeben. Nie wollten alte Bilder zeigen, wie etwas gewesen sein könnte. Kein Weihnachtsbild, keine Kreuzigungsdarstellung versucht nach Art eines Zeitungsreporters eine historische Momentaufnahme darzubieten. Wohl gemerkt: Diese Bilder können das nicht nur nicht, sie wollen es auch gar nicht. Mittelalterliche Bilder möchten keine Abbilder eines Geschehens sein, sie versuchen von etwas zu künden. Sie stellen sich ganz in den Dienst der Glaubensweitergabe und sind deshalb zuallererst auch Verkündigung. Und was für unseren Zusammenhang ganz besonders wichtig ist: Sie sind lesbare Verkündigung.

Der Aufbau der Bilder und die Darstellung selbst folgte ganz festen Regeln, die bekannt waren und von den Menschen auch verstanden wurden. Über Generationen hinweg war ein Schatz an allgemein bekannten und immer wieder verwendeten Symbolen gewachsen, die das Bewusstsein der Bevölkerung prägten und in nahezu allen Schichten und Gruppen präsent waren. Es gab soetwas, wie ein ungeschriebene aber allgemein anerkannte Grammatik dieser Bildwerke und ihrer Symbole.

Vieles von dieser Symbolsprache ist heute verloren gegangen. Manches lässt sich erschließen, einiges aus schriftlichen Quellen neu erheben, vieles bleibt umstritten, das meiste aber ist unwiederbringlich vergessen.

Zwischen den Zeiten

Der Isenheimer Altar gehört nur noch bedingt dieser mittelalterlichen Bildwelt an. Sein Schöpfer spielt schon auf der Klaviatur einer neuen Zeit. Aber er steht mit beiden Beinen auf den Schultern seiner Vorgänger, beherrscht dementsprechend auch deren Symbolsprache und setzt sie gekonnt ein. Vieles bleibt daher beim Isenheimer Altar unverständlich, wenn man seine Darstellung losgelöst von dieser mittelalterlichen Bildersprache und ihrer Grammatik betrachtet.

Wie bei allen Sprachen gilt es deshalb diese Bildersprache des Isenheimer Altares zu übersetzen. Dazu aber ist es - wie bei jeder Übersetzung - zuerst einmal erforderlich, dass wir selbst "über" setzen in die Gedankenwelt der Menschen, die diese Sprache verstanden und sich durch sie verständigt haben.

Dies ist nicht ganz einfach. Unsere Sehgewohnheiten sind gänzlich andere, als die der Menschen im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit. Wollten wir diese Bildersprache daher am Isenheimer Altar einüben - mit seiner Fülle an Aussagen, versteckten Anspielungen und seinem Spielen mit den Ausdrucksmitteln zweier ganz unterschiedlicher Epochen - wäre das, als wolle man gleichsam ohne große Vorkenntnisse mit Hilfe eines romantischen Gedichtes - etwa "Der Isegrimm" von Joseph von Eichendorff - die deutsche Sprache erlernen.

Lesehilfen in der Umgebung

Sehr viel einfacher ist es, den Altar zu verstehen, wenn man Vergleiche ziehen kann und sich bereits ein wenig "eingelesen" hat. Dazu gibt es eine ganze Reihe Hilfen in nicht allzu weiter Entfernung des Colmarer Unterlindenmuseums: ganz dicht und großartig etwa im Freiburger Münster, das Konrad Kunze in seiner einzigartigen Schrift "Himmel in Stein" ⋅4⋅ erschlossen hat, oder noch näher und nicht minder aufschlussreich im Breisacher Münster, das etwa 20 Kilometer von Colmar entfernt unmittelbar am Rhein liegt.

Hier soll vor allem auf das Breisacher Münster eingegangen werden, da viele, die sich heute Colmar von Deutschland aus nähern, in Breisach Station machen und das Münster dort gleichsam auf dem Weg mitnehmen - manchmal nicht ahnend, dass es tatsächlich die beste Vorbereitung ist, um ein tieferes Verständnis für das Altarwerk der ehemaligen Antoniterpräzeptorei zu gewinnen.

Maria und Johannes unter dem Kreuz

Meist übersehen wird ein kleines Bild der Kreuzigung an einem der nördlichen Pfeiler. Maria und Johannes stehen unter einem Kreuz, das viel zu schwach ist, um den großen Körper Christi zu tragen. Das hat der Künstler auch gewusst. Aber er wollte ja auch kein Abbild des Geschehens auf Golgotha malen. Die Größenverhältnisse setzt er ganz bewusst ein. Deshalb ist Christus auch der Größte. Er ist nämlich auch der wichtigste. Erzählt wird dem Betrachter, der vor dem Pfeiler kniete und betete, wie er mit dem Leid umgehen kann. Er kann an seinem Leid verzweifeln, wie Johannes. Er kann es aber auch annehmen, wie Maria, der sich Christus zuwendet.

Eine biblische Bildergeschichte

Eine ganze Bildergeschichte stellt der Tympanon des Westportals des Breisacher Münsters dar. Er wird von links nach rechts und von unten nach oben gelesen. Deutlich zu erkennen ist die Wahl des Stephanus, seine Predigt, vor den Juden und seine Steinigung.

Sowohl bei der Predigt, als auch bei der Steinigung ist eine Person besonders hervorgehoben. Es handelt sich dabei um Paulus, der nach dem Bericht der Apostelgeschichte der Steinigung des Stephanus ausdrücklich zugestimmt hatte.

Im Feld darüber wird die Geschichte fortgesetzt. Der Leichnam des Stephanus ist aufgebahrt auf einem Sarkophag und ein Engel hat die anima, seine Seele, in Form eines kleinen Kindes im Arm, um sie in den Himmel zu tragen.

Der Breisacher Hochaltar

Gesamtansicht

Der Hochaltar des Breisacher Münsters.

Foto: Jörg Sieger, August 2003

Um ein Vielfaches ausgefeilter und dichter ist das Programm des Hochaltares, den ein unbekannter, meist mit dem Meister Hans Loy (H. L.) identifizierter Künstler im Jahre 1526 vollendet hat. Dies hängt schon damit zusammen, dass er das jüngste Werk aus dem Breisacher Münster ist, das wir hier anführen. Es muss aber auch berücksichtigt werden, dass der Altar im Chorraum, hinter dem Lettner steht, und sich mit seiner Botschaft erst in zweiter Linie an die Gottesdienstgemeinde richtete. Die viel stärker in theologische Feinheiten reichenden Aussagen, hatten die Priester und Kleriker, die hier agierten, als Adressaten.

Im Mittelpunkt des Altares steht ein gleichseitiges Dreieck, das aus Gott Vater, Sohn und Heiligem Geist gebildet wird. In den Mittelpunkt des Dreieckes, in die göttliche Gemeinschaft wird der Mensch, hier stellvertretend durch die Gestalt Marias dargestellt, hineingenommen.

Dass sie nicht die einzige ist, der die Gemeinschaft mit Gott zuteil werden soll, bringen die Flügel zum Ausdruck, auf denen die Kirchenpatronen, Stephanus und Laurentius, und die Stadtpatrone, Gervasius und Protasius, dargestellt sind. Der ganze Altar ruht auf den Evangelisten, auf dem Evangelium, das den Weg zur vollkommenen Gemeinschaft mit Gott weist.

Das altertümliche Gesprenge, das ein anderer wohl nachträglich hinzugefügt hat, führt die Reihe der himmlischen Gemeinschaft weiter durch zwei Engel sowie Vitalis und Valeria, die Eltern der Stadtpatrone. Es gipfelt in einer Figur des Schmerzensmannes - Sinnbild dafür, dass auch für den Christen kein Weg an Leid und Tod vorbeiführt. Aber dieser Weg führt hindurch, und mündet - symbolisiert durch die wieder nach unten weisende Kreuzblume des Gesprenges? - im Zentrum des Altares, in der Gemeinschaft mit dem dreifaltigen Gott.

Das "Jüngste Gericht"

Zeitlich eine Generation vor dem Hochaltar ist das gewaltige Gemälde des Jüngsten Gerichtes anzusetzen, das die ganze Westhalle des Breisacher Münsters ausfüllt und das größte Bildnis dieser Art nördlich der Alpen darstellt.

Es soll hier dennoch am Schluss stehen, einmal weil es das vielleicht bedeutendste Werk im Breisacher Münster überhaupt ist, vor allem aber, weil es durch seinen Schöpfer, Martin Schongauer, die Brücke zum Isenheimer Altar darstellt.

Im Zentrum der Westwand steht der wiederkehrende Christus zu dessen Rechten Maria und die Vertreter des Neuen Testamentes und zu dessen Linken Johannes der Täufer mit den Repräsentanten des Alten Testamentes Fürbitte für die Menschheit halten.

Während über Christus Engel die Marterwerkzeuge - gleichsam als Siegeszeichen über Leid und Tod - herantragen, blasen die Posaunen zur Auferstehung und zum Gericht.

Links unten - vom Betrachter aus gesehen - stehen die Gerechten aus den Gräbern auf, und reihen sich ein in den Zug der Seligen ins Paradies, der sich auf der Südseite der Westhalle anschließt.

Die Auferweckung der Verdammten, zur Linken Christi, findet ihre Fortsetzung in der gewaltigen Höllendarstellung auf der Nordseite.

Martin Schongauer malt dieses gewaltige Bild vermutlich unter dem Eindruck der in Breisach wütenden Pest. Selbst infiziert stirbt er am 2. Februar 1491 in der Münsterstadt und wird dort auch beigesetzt.

Zu Beginn der 90er-Jahre des 15. Jahrhunderts wurde für die Antoniterpräzetorei in Isenheim der Schrein des neuen Altares geschnitzt. Durch mehrere erhaltene Zeichnungen ist belegt, dass Martin Schongauer am Entwurf und möglicherweise auch an der Konzeption dieses Werkes beteiligt war. Es sollte eine ganze Generation dauern, bis die Flügelgemälde zu diesem Schrein geschaffen wurden. Hätte Martin Schongauer etwa diese Tafeln malen sollen? Wurden sie nur deshalb nicht geschaffen, weil Martin Schongauer noch in Breisach mit den Arbeiten am Jüngsten Gericht betraut war? Möglicherweise liegen zwischen der Entstehung des Schreines und der Anfertigung der Altarflügel der Isenheimer Präzeptorei nur deshalb Jahrzehnte, weil erst Mathis Gothart Nithart, der später Mathias Grünewald genannte Meister, für Präzeptor Guido Guersi in der Lage war, den in Beisach verstorbenen Martin Schongauer wirklich zu ersetzen.

 

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster. Vom Sinn mittelalterlicher Kirchenbauten (Freibug 4. Auflage 1985) 37. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster. Vom Sinn mittelalterlicher Kirchenbauten (Freibug 4. Auflage 1985) 37. Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster. Vom Sinn mittelalterlicher Kirchenbauten (Freibug 4. Auflage 1985) 37. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster. Vom Sinn mittelalterlicher Kirchenbauten (Freibug 4. Auflage 1985). Zur Anmerkung Button