Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Vom "Todesvogel" zum "Liebesvogel"

"Während die beiden so zusammen redeten, bemerkten sie, daß ein Rabe sich auf einem Ast eines Baumes niedergelassen hatte. Von dort flog er sanft herab und legte zu ihrem Erstaunen ein ganzes Brot vor sie hin. Als der Rabe fort war, rief Paulus aus: "Wahrhaftig, der Herr hat uns in seiner Güte und Barmherzigkeit Speise gesandt. Sechzig Jahre sind es schon, daß ich immer nur ein halbes Brot erhalte, aber bei deiner Ankunft hat der Herr seinen Streitern die Ration verdoppelt."" ⋅1⋅

Detail des Isenheimer Altares

Der Vogel mit dem Brot.

Der Vogel, der die doppelte Brotration bringt, ist im oberen Teil der Altartafel dargestellt. Die Legende spricht dabei von einem Raben.

Die Symbolik des Raben

Die Figur des Raben ist in der Symbolik allerdings recht negativ besetzt. Wohl im Zusammenhang mit seiner Farbe, seinem durchdringenden Schrei und der Tatsache, dass er sich von Aas nährt, erlangte er bis in den Fernen Osten den Ruf als Unglücksbringer, ja als Bote des Todes.

Nichtsdestoweniger gelten Raben als schlau und findig. In diesem Sinne erscheint der Rabe bei der Sintfluterzählung der Genesis (Genesis 8,7) und auf den entsprechenden Darstellungen in der christlichen Kunst. Frühe Reliefs, etwa ein Sarkophag in Trier, zeigen ihn in dem Augenblick, in dem er die Arche verlässt, stellen ihn vor der Arche dar oder bilden ihn auf Kadavern, die aus der Flut herausragen, ab.

Die Kirchenväter lasten dem Raben an, dass er nicht in die Arche zurückkehrt. Von daher wird er zum Sinnbild des Dämonen, des Heiden, des Sünders, der sich dem Vergnügen dieser Welt ausliefert und seine Bekehrung auf morgen verschiebt. In diesem Sinne deutete man auch seinen Ruf, den man mit "cras, cras!" identifizierte, was soviel wie "Morgen, morgen!" bedeutet.

Vor allem dass er sich von Kadavern ernährte, machte den Raben zum Inbegriff für den Schamlosen, Sinnenverhafteten, Unreinen und Pietätlosen. Diese Deutung steht im Hintergrund von Darstellungen auf Mosaiken in Venedig und Monreale, aber auch das Bild "Flucht nach Ägypten" von Lukas Cranach verwendet die Rabensymbolik dementsprechend. Auf diesem Bild nehmen kleine Engelbuben ein Rabennest aus.

Nur ganz selten ist der Rabe ein positives Symbol und Bote Gottes. So erscheint er im alttestamentlichen 1. Buch der Könige (1 Könige 17,6), als er dem Prophet Elija Brot und Fleisch in der Wüste bringt. Möglicherweise ist das Motiv der Speisung des Antonius und Paulus, das die Vorlage der Darstellung des Isenheimer Altares abgibt, genau von dieser biblischen Erzählung beeinflusst. ⋅2⋅

Auffallend allerdings ist, dass gerade auf den Tafeln des Isenheimer Altares kein Rabe erscheint. Der jüngst erschienene Hinweis, man habe in damaliger Zeit den im Schwarzwald und Elsass vorkommenden "Waldrapp" für einen Raben gehalten und genau dieser "Rappvogel", der eigentlich in die Familie der Störche und Ibisse gehört, würde von Meister Mathis hier dargestellt, verbietet sich aufgrund der völlig anderen Schnabelform dieses Vogels eigentlich von selbst. Die Deutung, dass Meister Mathis den "Waldrapp" zwar für einen Raben gehalten habe, damit dann aber doch einen europäischen Vertreter des "heiligen Ibis" der Ägypter dargestellt hätte - einen Vogel "aus dem sakralen Zusammenhang der Initiations-Mysterien" - verrät das leitende Interesse des Autors ⋅3⋅. Man wird nicht umhinkommen zu sagen, dass entgegen der Schilderung der Legende Meister Mathis hier alles andere malt, nur keinen Raben.

Birkhahn oder Auerhahn

Das liegt vermutlich an der negativen Aura, die dem Raben anhaftet. Auch im alemannischen Raum war der Rabe der Totenvogel. Pfarrer Josef Hermann Maier erzählt beispielsweise davon, wie er von seiner Großmutter lernte, dass man ein Vater Unser beten müsse, wenn ein Rabe nachts krächzt. Das Krächzen des Raben zeige nämlich an, dass in diesem Augenblick jemand verstorben sei.

Der Vogel auf dem "Besuchsbild" des Isenheimer Altares bringt aber Brot und dieses Brot erinnert im Zusammenhang des Altares an das Abendmahl, das eucharistische Brot. Es ist - neben der Hostiendose und dem Kelch auf den Tafeln des geschlossenen Altares und dem an ein Messkännchen erinnernden Glasgefäß auf der zweiten Wandlung - ein weiteres Eucharistiesymbol. Das Brot des Lebens aber kann kaum von einem Todesvogel überbracht werden. ⋅4⋅

Deshalb erscheint hier kein Rabe, sondern ein Vogel, der nach Emil Spath wohl am ehesten einem Birkhahn [vgl. Abbildung oben] ⋅5⋅ oder nach Josef Hermann Maier einem Auerhahn [vgl. Abbildung unten] entsprechen dürfte ⋅6⋅. Beide Vogelarten sind miteinander verwandt und gehören zur Gattung der Rauhfußhühner, die besondere Anpassungen an zumindestens zeitweise kalte und schneereiche Biotope zeigen.

Auerhahn

Ein Auerhahn.

Foto: Hans-Wilhelm Grömping, http://www.natur-lexikon.com

Sie sind bei uns kaum noch anzutreffen, und hierzulande mittlerweile beinahe auf einige Alpenregionen beschränkt. Zur Zeit der Entstehung des Isenheimer Altares war der Auerhahn allerdings im Schwarzwald und den Vogesen heimisch.

Aber auch damals war er kaum einmal zu sehen. Birkhahn und Auerhahn eigen ist, dass sie äußerst scheu sind und nur in der Zeit der Balz, wenn die Männchen um die Gunst der Weibchen buhlen, unvorsichtiger werden. Dann kann man sie einigermaßen leicht beobachten.

Gerade dem Auerhahn kommt von daher die Bedeutung eines Liebesvogels zu. Er ist fast nur in der Zeit der Balz, der Zeit der Liebe und des neuen Lebens zu beobachten. Und dieser Vogel, der Liebe und neues Leben bedeutet, bringt auf den Tafeln des Isenheimer Altares das Brot zu Antonius und Paulus. So wie den Kranken im Spital bei der Feier der Heiligen Messe das Brot des Lebens, die Eucharistie gereicht wird: Liebe und neues Leben schon für dieses Leben und darüber hinaus.

Zurück-Button Literaturhinweise

Vergleiche zur Symbolik im Allgemeinen:
Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole - Bilder und Zeichen der christlichen Kunst (Köln 8. Auflage 1984).
Fundierte Auskunft über die unterschiedlichsten Tierarten gibt:
Natur-Lexikon.com = http://www.natur-lexikon.com.
Zur Deutung des Vogels auf dem "Besuchsbild" äußert sich:
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 125,
Michael Schubert, Der Isenheimer Altar - Geschichte - Deutung - Hintergründe (Stuttgart 2007) 127-128
und am ausführlichsten Josef Hermann Maier in seinem leider nie veröffentlichten Werk. Einzig greifbar ist:
Josef Hermann Maier, Der Isenheimer Altar und seine Botschaft, Vortrag gehalten am 1. Juli 1985 in Badenweiler - Abschrift vom Juni 1987.

Anmerkungen

1 Hieronymus, Leben des Hl. Paulus, des ersten Einsiedlers, in: Ludwig Schade, Des Heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften aus dem Lateinischen übersetzt, (= Bibliothek der Kirchenväter) (Kempten / München 1914) I,21-33. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole - Bilder und Zeichen der christlichen Kunst (Köln 8. Auflage 1984) 242-243. Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Michael Schubert, Der Isenheimer Altar - Geschichte - Deutung - Hintergründe (Stuttgart 2007) 127-128. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Josef Hermann Maier, Der Isenheimer Altar und seine Botschaft, Vortrag gehalten am 1. Juli 1985 in Badenweiler - Abschrift vom Juni 1987. Zur Anmerkung Button

5 Vgl.: Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 125. Zur Anmerkung Button

6 Vgl.: Josef Hermann Maier, Der Isenheimer Altar und seine Botschaft, Vortrag gehalten am 1. Juli 1985 in Badenweiler - Abschrift vom Juni 1987. Zur Anmerkung Button