Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Laster, Sünden und ein Sinnbild des Kranken
- Was wird dargestellt?
- Einfach Dämonen
- Die Leiden des Heiligen Antonius und das Antoniusfeuer
- Das Bild im Licht der Acht-Laster-Lehre
- Die Deutung Wilhelm Nyssens als Beispiel
- Sieben Hauptsünden
- Dämon oder Mensch?
- Mehr oder minder deutliche Kirchenkritik
- Zwei kaum zu deutende Figuren
- Der Isenheimer Altar und die "sieben Todsünden" Hans Baldung Griens
- Der Schrei der Verlassenheit
Diese Altartafel, die normalerweise mit der Bezeichnung "Versuchung des Heiligen Antonius" überschrieben wird, dürfte für den heutigen Betrachter das wohl eigenartigste Bild des ganzen Altares sein.
Was wird dargestellt?
Vordergründig erinnert wird an jene Szene aus der Legenda Aurea erinnert, in der die Versuchung des Antonius beschrieben wird:
"Als Antonius zwanzig Jahre alt war, hörte er in der Kirche, wie gelesen wurde: "Wenn du vollkommen sein willst, geh und verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen." Da verkaufte er all sein Eigentum, verteilte es an die Armen und führte ein Einsiedlerleben. Er hielt unzähligen Versuchungen des Dämons stand. Einmal hat er die leibliche Lust durch die Kraft des Glaubens überwunden; da erschien der Dämon in Gestalt eines schwarzen Kindes, warf sich vor ihm nieder und erklärte sich von ihm besiegt. Antonius hatte nämlich durch Bitten erreicht, daß er den Dämon sehe, der den jungen Männern unkeusche Gelüste eingab. Als er ihn nun in dieser Gestalt sah, sprach er: "Du bist mir in so vollkommener Gestalt erschienen, künftig fürchte ich dich nicht mehr." Ein anderesmal verbarg Antonius sich in einem Grab; da beutelte ihn eine Schar böser Geister so sehr, daß ihn sein Diener für tot hielten und auf seinen Schultern forttrug. Während alle, die zusammengekommen waren, den Leblosen beweinten und heftigen Schmerz empfanden, erwachte Antonius plötzlich und veranlaßte den Diener, ihn wiederum zum Grab zurückzutragen. Dort lag er nun, niedergestreckt vom Schmerz der Wunden, und allein durch die Kraft des Geistes reizte er die Dämonen zum Streit. Da erschienen jene in den Gestalten verschiedener wilder Tiere, die ihn wiederum mit Zähnen, Hörnern und Krallen aufs grausamste zerfleischten. Auf einmal erschien ein wundersamer Schein und vertrieb alle Dämonen; Antonius aber war sofort geheilt. Er merkte, daß Christus anwesend war und sagte: "Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum bist du nicht beim ersten Mal hier erschienen, um mir zu helfen und meine Wunden zu heilen?" Der Herr sprach: "Antonius, ich war hier, aber ich wartete, um deinen Streit zu sehen; nun aber, weil du tapfer gekämpft hast, werde ich deinen Namen in der ganzen Welt berühmt machen."" ⋅1⋅
Vor allem der Zettel, der am rechten unteren Bildrand gegen ein Stück Holz gelehnt ist und in lateinischer Sprache die Worte "Wo warst du, guter Jesus..." wiedergibt, eröffnet die Parallele zu diesem Text. Allerdings ist der Antonius dieser Tafel kein junger Mann mehr. Meister Mathis kombiniert diese Szene aus der "Legenda aurea" offenbar mit der Antoniusbiographie, wie sie Athanasius überliefert .
In den letzten fünfzig Jahren seines Lebens - und in diesem Alter ist er hier dargestellt; Wilhelm Fraenger spricht beispielsweise von einem "Neunzigjährigen" ⋅2⋅ - hatte sich Antonius gemäß der Darstellung des Athanasius auf den Kolzim, einen Wüstenberg, zurückgezogen. Vor dem Andrang der Menschen, die bei ihm Rat gesucht haben, floh er in die Einsamkeit.
Martin Schongauer, Versuchung des Heiligen Antonius.
Lizenz: Martin
Schongauer artist QS:P170,Q155575,
Saint Anthony Tormented by Demons MET DT202828,
CC0 1.0
"Er hielt sich weiter innen auf dem Berge auf, beschäftigt mit Gebet und Askese. Die Brüder aber, die ihm dienten, baten ihn, daß sie ihn jeden Monat besuchen und ihm Oliven, Hülsenfrüchte und Öl bringen dürften; denn er war jetzt hoch in den Jahren. Welche Kämpfe er während seines dortigen Aufenthaltes durchzumachen hatte, nach dem Bibelworte nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen seine Gegner, die Dämonen, das haben wir von denen erfahren, die ihn besuchten. Denn auch dort hörten sie Lärm, viele Stimmen und Getöse wie von Waffen; und den Berg sahen sie nachts voll wilder Tiere; sie beobachteten den Antonius auch, wie er kämpfte, gleich als ob er sichtbare Gegner vor sich habe, und wie er gegen sie betete. Seine Besucher ermutigte er, er selbst aber kämpfte unter Kniebeugungen und Gebet zum Herrn. Und es war in Wahrheit bewundernswert, daß er, der allein in einer solchen Wüste weilte, sich weder vor den Angriffen der Dämonen fürchtete, noch sich ängstigte über die Wildheit so vieler vierfüßigen Tiere und Schlangen, die sich dort fanden. Er vertraute wahrhaftig, wie geschrieben steht, auf den Herrn, wie der Berg Sion, unbeweglichen und ruhigen Sinnes; vielmehr flohen die Dämonen, und die wilden Tiere lebten, wie es in der Schrift heißt, in Frieden mit ihm.
(...) Der Teufel aber beobachtete, wie David singt ⋅3⋅, den Antonius und knirschte wider ihn mit den Zähnen, Der aber wurde getröstet vom Heiland, und er blieb unversehrt von der List und vielgestaltigen Schlauheit des Bösen. Als der Heilige nachts wachte, sandte der Teufel wilde Tiere gegen ihn. Fast alle Hyänen jenes Wüstenstriches kamen aus ihren Schlupfwinkeln, sie umringten ihn, und er war mitten unter ihnen. Wie nun jede den Rachen aufsperrte und zu beißen drohte, da merkte er die List des Feindes und sagte zu ihnen allen: "Wenn ihr Macht erhalten habt gegen mich, bin ich bereit, mich von euch fressen zu lassen; wenn ihr aber von Dämonen geschickt seid, dann entweicht ohne Zögern. Denn ich bin ein Knecht Christi." Als Antonis [sic!] dies sagte, da flohen sie wie verfolgt von der Geißel seiner Rede." ⋅4⋅
Diese Leiden des Heiligen Antonius in der Zurückgezogenheit seiner Einsiedelei sind vielfach ins Bild gebracht worden - unter anderem von Martin Schongauer in seinem Kupferstich aus der Zeit nach 1470. Meister Mathis verbindet in seiner Altartafel die Darstellung dieser Leiden aus den fünf Jahrzehnten des Wüstenaufenthaltes des Antonius mit jener der Versuchung des Heiligen, wie sie die Legenda aurea überliefert.
Welche Aussage aber verbindet der Meister nun mit diesem Bild? Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage dürfte die Deutung der einzelnen Kreaturen sein, die in dieser Szene begegnen
Einfach Dämonen
Dem heutigen Verstehen steht die Fremdheit der ganzen Darstellung häufig im Weg.
"Man hat den Teufelsspuk des rechten Flügels oftmals mißverstanden, am gröbsten dann, wenn man ihn komisch nahm. Auch jene rationalistische Erläuterung, wonach dies Bestiarium der Phantasie die sieben Todsünden verkörpern solle, stellt sich als abwegige Willkür dar, da alle kennzeichnenden Attribute fehlen. Dem Maler ist es einzig darauf angekommen, den asketischen Konflikt der Phantasiebedrängnis in seiner innersten Bedrohlichkeit zu schildern, die darin besteht, daß er gerade in den Einöden der strengsten Selbstabtötung seine Opfer sucht. Darum verlegte Grünewald das wüste Larventreiben in ein weltabgeschiedenes, windbrüchiges Felsental. In einem schädelblanken Beinhaus der Gebirge, auf der Brandstätte seines einzigen Eigentums: der Klausnerhütte, erlebt der neunzigjährige Antonius seine schwache Stunde." ⋅5⋅
Fraenger steht hier stellvertretend für all diejenigen, die in dem Bild im Grunde einzig eine Illustration der Antoniuslegende sehen wollen.
Immer wieder aber wird der Versuch unternommen, die einzelnen Kreaturen dieses Bildes weiter zu deuten, zumal es einen wichtigen Zusammenhang zwischen den Dämonen der Antoniuslegende und den Symptomen des Antoniusfeuers gibt.
Die Leiden des Heiligen Antonius und das Antoniusfeuer
Hans-Ferdinand Angel hat darauf hingewiesen, dass die Mutterkornerkrankung Alkaloide enthält, verwandt mit den chemischen Verbindungen, die in der Droge LSD enthalten sind ⋅6⋅. Im Anschluss an Erwin H. Ackerknecht macht er darauf aufmerksam, dass es in der Geschichte immer wieder einen gezielten und gewünschten Einsatz von Mutterkorn zur psychosomatischen Stimulierung gegeben habe ⋅7⋅. Aufgrund dieser Eigenschaften des Mutterkorns nannte 7 diesen Pilz im Französischen im übrigen "seigle ivre", im Deutschen "Tollkorn".
Die im Mutterkorn enthaltenen Stoffe hatten selbstverständlich auch Folgen für den Verlauf der durch diesen Pilz hervorgerufenen Krankheit.
"Wer mit Menschen, die am Antoniusfeuer erkrankt waren, zu tun hatte, dem dürfte es wohl oft ganz unheimlich geworden sein. Die Kranken waren geistig weggetreten, phantasierten und redeten wirres Zeug. Sie wälzten sich hin und her oder tanzten ekstatisch, sie schienen Begegnungen zu haben und womöglich mit anderen Wesen in Kontakt zu stehen." ⋅8⋅
Ernest Wickersheimer hat Beispiele von solchen Halluzinationen aus mehreren Jahrhunderten zusammengetragen, Anfälle, die vermutlich bisweilen sexuell gefärbt, wenn nicht geradezu von sexuell-orgiastischer Art waren ⋅9⋅. Für den mittelalterlichen Menschen - vor allem für die Antoniter und ihre Bediensteten in den Spitälern - musste sich eine Parallele zu dem von Dämonen versuchten Mönchsvater geradezu aufdrängen. Schon von daher brachte man die Dämonen aus der Antoniuslegende mit den Kranken im Spital in Verbindung.
Das Bild im Licht der Acht-Laster-Lehre
Aber noch ein anderer Umstand darf nicht unberücksichtigt bleiben. Krankheit galt in der mittelalterlichen theologischen Deutung vielfach als Folge eigener Schuld: Es sind die Verfehlungen der Menschen, die in der Krankheit ihre Strafe finden oder - positiv gewendet - es wird dem Menschen die Gnade zuteil durch diese Krankheit für seine Sünden schon jetzt zu büßen und so der ewigen Verdammnis zu entgehen. Vor allem unheilbare Krankheit galt als Form des Martyriums, das dem Menschen wieder die Gnade Gottes versicherte, und die unheilbar Kranken bezeichnete man demnach auch als "Märtyrer der Liebe Gottes".
Von daher ist es gar keine solch abwegige Willkür - wie Fraenger urteilt ⋅10⋅ - in den Gestalten, die auf Antonius in gleicher Weise wie auf den Kranken im Isenheimer Spital eindreschen, Sinnbilder der Sünden und Laster zu sehen. Günther Engel weist beispielsweise darauf hin, dass acht Dämonen Antonius direkt bedrohen und Hand an ihn legen würden. Er sieht hierin eine Entsprechung zur sogenannten Acht-Laster-Lehre ⋅11⋅.
Darunter versteht man eine monastische Tradition, die im 4. Jahrhundert bereits ausformuliert vorliegt. Basierend auf außerchristlichen aber auch christlichen Tugend- und Lasterreihen, hat sich eine Spezialform des Lasterkataloges entwickelt, den das Mönchtum für seine spezielle Situation umgeformt hatte: eine Aufzählung von Hauptsünden, die insbesondere den guten Mönch bedrohen. Nur schwer ist dieser Katalog fest zu benennen. Er liegt in unterschiedlichen Formen, was die Reihenfolge und die Bezeichnung der Laster angeht, vor. Cassian etwa nennt als die acht Hauptsünden Völlerei, Unzucht, Geiz, Zorn, Traurigkeit, Trägheit, Hoffart und Stolz. ⋅12⋅
Gregor d. Gr. ändert das Schema der Aufzählung. Er bezeichnet den Stolz als "giftige Wurzel" aller anderen Sünden und lässt die sieben verbleibenden Laster als "Hauptsprossen" aus diesem hervorgehen. ⋅13⋅
Die Identifiaktionen nach Henri Schreck.
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Animation: Jörg Sieger, 2020
Nachdem längere Zeit sowohl Siebener- als auch Achterreihen nebeneinander existierten, hat sich im Orient vor allem die Acht-Zahl erhalten, während die Scholastik aus diesen Aufzählung die Reihe der sieben Hauptsünden entwickelte. ⋅14⋅
Während es Günther Engel dabei belässt, hinter den acht Gestalten, die Antonius direkt angreifen, insgesamt die Darstellung der acht Laster verkörpert zu sehen, versucht Henri Schreck einige der Gestalten zu identifizieren. ⋅15⋅
"Und vier der markantesten Teufelsfratzen scheinen so gegenwartsbedingt, dass eine zeitgemässe Leseart sich aufdrängt. Vor den entsetzten Augen des Gefallenen fauchen und fuchteln sie herum: Trägheit, Hochmut, Geiz und Unzucht. Die Versuchungen und der Untergang jedes geistigen Unternehmens. Trägheit in diesem unflätigen Nilpferdmaul. Hochmut im Raubvogel mit auffallend eitlem Gefieder: ein Pfau, der paradiert. Geiz in der Panzereidechse; sogar den Rosenkranz sucht sie aus der Hand zu knobeln. Unzucht im Beulenmännchen, die einzige menschliche Anatomie ..." ⋅16⋅
Leider gibt Henri Schreck nicht an, warum er die entsprechenden Kreaturen genau so und nicht anders identifiziert. So ist sein Versuch einer Identifikation nicht weiter nachzuprüfen.
Wilhelm Fraengers Vorwurf von der "abwegigen Willkür" ⋅17⋅ findet durch solch ein Vorgehen immer wieder eine gewisse Bestätigung. Dies gilt im übrigen für die meisten Identifikationsversuche, die in der Literatur begegnen.
Die Deutung Wilhelm Nyssens als Beispiel
Die Identifiaktionen nach Wilhelm Nyssen.
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Animation: Jörg Sieger, 2020
So fällt beim Blick auf den Deutungsversuch von Wilhelm Nyssen beispielsweise auf, dass er zum Teil zu ganz anderen Identifikationen kommt. Er gibt allerdings an, dass er sich auf "viele mittelalterliche Holzschnitte" stützen würde, nach denen die einzelnen Tiere als Zeichen der Urversuchungen zu deuten seien. ⋅18⋅
"Auf der rechten Seite ist unten ein Sperber sichtbar, der mit einem Stock auf den Heiligen einschlägt, das Bild des Stolzes. Über ihm ein schlafmützenbedecktes Wesen mit triefenden Nüstern, das Bild der Acedia, der Trägheit. Links davon ein nilpfedartiges Ungeheuer mit aufgerissenem Schlund und schwerer Zunge, das Bild der Völlerei oder wie das Mittelalter freimütig sagte, das Bild der Freßlust. Darüber ein Hundekopf mit Hirschgeweih und scharfen Zähnen, das Zeichen des Ehebruchs. Über dem Bild eine höllische Inkubationsszene, wo auf ein rücklings liegendes Wesen durch zwei Dämonen eingeschlagen wird.
Auf der linken Seite erscheint im dunklen Grund die kalte Hundeschnauze, das Bild der Hoffart, des völligen Verfallenseins an die Welt. Darunter ein rüsselartiges Wesen, das Bild des Zornes. Daneben ein Tier mit scharfen Hörnern, das den Heiligen am Schopfe packt, das Bild des Neides. In der Ecke zeigt sich eine Gestalt wie die eines der Pestkranken von Isenheim selbst, voll von Beulen und von Schwären.
(...)
Ganz im Vordergrund naht sich ein gepanzertes schildkrötenartiges Schuppentier, das den Heiligen mit scharfem Schnabel in die Hand beißt, um ihm seinen letzten Halt, den Stock und Rosenkranz, zu entreißen, das Bild der Unzucht." ⋅19⋅
Obschon sich Nyssen müht, allen Figuren eine entsprechende Deutung zuzuweisen, ist ihm die kochlöffelschwingende Gestalt ziemlich genau über dem Haupt des Antonius offenbar entgangen. Hinzu kommt, dass er die Hand, die nach dem Schopf des Heiligen packt, falsch zuordnet, so dass eigentlich zwei verschiedene Kreaturen zusammen als "Neid" identifiziert werden. Auch scheint der Rüssel, den er zu sehen glaubt, eher ein Schnabel zu sein.
Auf welchen Holzschnitten seine Zuschreibungen basieren, gibt er leider nicht an. So bleibt seine Deutung insgesamt recht spekulativ.
Sieben Hauptsünden
Emil Spath versucht ebenfalls, alle dargestellten Figuren zu deuten, unterteilt die unterschiedlichen Kreaturen jedoch in Gruppen. Damit bringt er eine nicht unwichtige Differenzierung ins Spiel.
Die Identifiaktionen nach Emil Spath.
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Animation: Jörg Sieger, 2020
Als "Geiz" identifiziert er die "räudige Bocksgestalt" ganz links, die den Mantel des Antonius an sich reißt. Daneben sei der "rotschwarzgehässige, schrille Zorn" dargestellt. Er zerrt den verhassten Einsiedler am Haar. Darüber - etwas abseits - sei die "Trägheit des Herzens" mit ihrem traurig-leeren, verzweifelt-schwachen Blick zu sehen. Die Figur mit dem "Hamsterschlund", die ein Teil des Mantels verschlingt, identifiziert Spath als "Unmäßigkeit", während die mit Hairachen und in aufreizenden Farben gemalte Gestalt von ihm mit der "Unkeuschheit" gleichgesetzt wird. Im "hochgestelzten Raubvogel" mit seinen "eitel aufgeputzten Federn" sieht er die "Hoffart". ⋅20⋅
"Zuunterst der "Neid": halb Panzerkröte, halb Basilisk; mißgönnt bissig, raffgierig dem Greis Rosenkranz und Krückstock - für die Antoniter das Zeichen der Verbundenheit mit ihren Kranken." ⋅21⋅
Damit benennt Spath allerdings lediglich sieben der Kreaturen, die auf Antonius einstürmen. Er geht davon aus, dass es sich bei dieser Szene nicht um eine Darstellung auf dem Hintergrund der Acht-Laster-Lehre, sondern - bereits im Sinne der scholastischen Weiterentwicklung - um eine bildhafte Umschreibung der Sieben Hauptsünden des Menschen handelt.
Diese Sichtweise ergibt sich vor allem dann, wenn man die eigenartige Gestalt am linken unteren Bildrand nicht als Dämon betrachtet. Während Henri Schreck in diesem Wesen ein Sinnbild der Unzucht sah ⋅22⋅, hält Wilhelm Nyssen dieses Bilddetail für die Darstellung eines Pestkranken ⋅23⋅.
Auch für Emil Spath ist diese Gestalt alles andere als ein Dämon. Er glaubt an den Gliedmaßen und am Körper die Symptome des Mutterkornbrandes entdecken zu können und darüber hinaus Wunden, die er als "syphilitisch" bezeichnet: In seiner Nacktheit sei hier der sündige Mensch dargestellt. Die Krankheitssymptome auf der einen und die "falsche Mönchskapuze" auf der anderen Seite kennzeichneten ihn sowohl als Mönch wie auch als Kranken des Isenheimer Spitales. ⋅24⋅
"Vor ihn wirft sich schützend, mit ihm, seinetwegen leidend, der Heilige: um ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren, dem "Zweiten Tod", dem Verlust des ewigen Lebens." ⋅25⋅
Dämon oder Mensch?
"'Entenfüßiger Dämon' oder kranker Mensch: hier entscheidet sich Wesentliches in der Betrachtung des Altars." ⋅26⋅
Für Reiner Marquard hat die Figur am linken unteren Bildrand gleichsam eine Schlüsselfunktion im ganzen Altarwerk ⋅27⋅. Anschaulich legt er - gerade anhand dieser Figur - dar, wie in den vergangenen Jahrzehnten Deutung auf Deutung folgte. Nicht minder entlarvt er dabei die Geschichte der "Grünewald-Forschung" als
"eine Geschichte des (heimlichen) Abschreibens." ⋅28⋅
Ausgehend von den Forschungsergebnissen Franz Bocks und H. A. Schmidts wurde in den Arbeiten über den Altar zwar in den unterschiedlichsten Nuancen, aber fast immer davon gesprochen, dass es sich bei dieser rätselhaften Gestalt am unteren linken Bildrand um einen Teufelsspuk, einen Dämon, ein Sumpftier mit menschlichem Antlitz oder was auch immer handeln würde. ⋅29⋅
Vermutlich Darstellung eines Kranken
und gleichzeitig Bild eines verkommenen Mönchs.
Reiner Marquard weist auf die medizinischen Beobachtungen von Harold Veit Bauer hin, der - auch wenn er letztlich an der Deutung der Figur als Dämon festhält - davon spricht, dass man durchaus davon ausgehen könne, dass Meister Mathis einen am "Heiligen Feuer Erkrankten" abgebildet habe ⋅30⋅. Darüber hinaus erinnert er an die Arbeiten von Joris-Karl Huysmann, der die Gestalt in der linken unteren Bildecke mit dem Zettel auf der genau gegenüberliegenden Seite in Verbindung bringt:
"Man kann sich auch fragen, ob dieser verzweifelte Hilferuf nicht von dem auf der anderen Seite des Bildes hockenden Monstrum, das da sein wundes Haupt zum Himmel hebt, ausgestoßen wird." ⋅31⋅
Mit Reiner Marquard und Emil Spath darf man wohl davon sprechen, dass in dieser seltsamen Darstellung, jeder Kranke des Isenheimer Spitals sich selbst hat wiederentdecken können. Für die eigenartige rote Kopfbedeckung liefert Harold Veit Bauer einen wichtigen Hinweis.
"In den Statuten des Antoniter-Mutterklosters in Saint-Antoine findet sich eine Vorschrift für Spitalinsassen, die besagt, daß sie mit einer solchen Gugel (Chaperon) bekleidet sein müssen." ⋅32⋅
Folgt man dieser Argumentation, dann ist in diesem Bildausschnitt kein Dämon, sondern ein Kranker dargestellt. Er trägt die Gugel, wie sie für die Spitäler der Antoniter üblich war ⋅33⋅. Die Gestalt weist nach Reiner Marquard darüber hinaus die wesentlichen Merkmale eines "Ergotismus gangraenous" auf:
"Der Leib ist grün-blau-schwarz (livid) verfärbt mit einer dünnen durch Flüssigkeit stark hervorgewölbten und mit Blasen übersäten Bauchdecke. Der entzündliche Ascites [= Bauchwassersucht] rührt von einer durch das Mutterkorn verursachten "haemorrhagischen Enteritis her" [= zu Blutungen führende Entzündung des Dünndarms], die Arme und Hände sind wie mit einer pergamentartigen Haut überzogen. Die starke Atrophie [= Auszehrung] der Extremitäten "ist ein typisches Merkmal des Ergotismus. Furunkulose [= Eitergeschwür] und Pyodermie [= Eiterausschlag] sind Zeichen der geschwächten Abwehr"" ⋅34⋅
Die Schwimmhäute an den Füßen deutet Marquard als Hinweis auf das Kältegefühl in den Gliedmaßen ⋅35⋅.
Etwas Zurückhaltung scheint allerdings beim Ausschließlichkeitscharakter der Marquard'schen Deutung geboten zu sein. Es handelt sich hier kaum um ein ausgesprochenes und exklusives Porträt eines am Antoniusfeuer Erkrankten. Meister Mathis ging es ja wohl um eine eher typische Darstellung.
Diagnosen anhand von Gemälden zu erstellen ist ein Unterfangen bei dem ein gerüttelt Maß an Skepsis angebracht ist. Klaus Starke spricht dementsprechend davon, dass der Vergleich der auf dem Altar gemalten Gestalt mit Secale-Vergifteten - also am Antoniusfeuer Erkrankten - auf Fotos aus dem 20. Jahrhunderten deutlich mache, dass es sich gerade nicht um einen klassischen Ergotismus-Kranken handle, bei dem ja im wesentlichen die Extremitäten grangränös seien. Vielmehr scheinen in dieser Darstellung eine Summe von Schreckenssymptomen vereint ⋅36⋅. Auch für Karl-Heinz Leven ist die Frage, ob es sich bei der dargestellten Erkrankung um Aussatz, Ergotismus oder Syphilis handele, nicht wirklich zu beantworten ⋅37⋅.
So ist es sicher nicht falsch, hier ganz einfach einen Kranken an sich, wie er im Isenheimer Spital zur Zeit eines Meister Mathis begegnete, mit den Symptomen all jener unheilbaren Erkrankungen dieser Zeit dargestellt zu sehen. In ihm und im Verzweiflungsschrei, wie er auf dem Zettel der gegenüberliegenden Seite begegnet, konnte der kranke Mensch, der vor den Altar gebracht wurde, sich selbst wiederentdecken, wurde ihm erneut vor Augen geführt, dass die Botschaft des Altares mit ihm und seiner ganz spezifischen Situation zu tun hat.
Aber nicht nur der Kranke wurde in dieser Darstellung angesprochen. Die abgebildete Gestalt klammert sich schließlich mit ihrer rechten Hand an ein sogenanntes "Beutelbuch". Dessen wertvoller Inhalt wird durch das schon zerrissene Leder
"in Entsprechung zum zerrissenen Lendentuch des Geschlossenen Altars (Kreuzigung) und der zerrissenen Windel der Ersten Öffnung (Menschwerdung) ..." ⋅38⋅
Darstellung eines
verkommener Amtsträgers?
sichtbar. In solchen Beuteln bewahrten vor allem Wandermönche ihr Stundenbuch auf. Diejenigen, die in dieser Darstellung einen der Dämonen sehen, deuten dieses Buch als Stundenbuch des Heiligen, das Antonius von dieser Kreatur entrissen worden wäre. Es kann aber auch das Buch des hier dargestellten Menschen selbst sein, der dadurch nicht nur als Kranker, sondern auch als Mönch gekennzeichnet ist. Nicht nur dem Kranken, auch den Gesunden wird diese Gestalt vor Augen gestellt: den Antonitern in der Präzeptorei Isenheim, die regelmäßig vor diesem Altar zum Stundengebet zusammenkamen. Die Gugel des Kranken entspricht von der Form her auch der Kapuze der Mönche. Und ein Wandermönch mit den Symptomen der Syphilis, deren Ursache den Menschen damals durchaus bekannt war, bringt mehr als nur massive Kritik am Mönchtum mit ins Bild.
Hier werden verkommene Zustände im Ordenswesen angeprangert, die im Mittelalter in sprichwörtlichen Redensarten wie etwa: "In der Nähe eines Franziskanerklosters werden die Frauen schon durch die Luft schwanger" ihren Ausdruck fanden.
Dazu passt auch der Hinweis Emil Spaths, dass in der dargestellten Mönchskapuze ein Gegenstand versteckt worden zu sein scheint. Er erinnert damit implizit daran, dass Wandermönche darauf angewiesen waren ihre Habseligkeiten unter der Kutte und auch in der Kapuze zu verstecken. Es scheint ein schwerer Gegenstand zu sein, der die hier dargestellte Gugel sprichwörtlich nach unten zieht. Spath spricht von einem in der Kapuze "habgierig verborgenen Goldklumpenballast". ⋅39⋅
Sowohl dem Kranke als auch dem Gesunden, der den Altar betrachtet - beiden gilt die Botschaft des Isenheimer Altares.
"Es geht um Bewahrung vor der Schwermut des Kranken und um Bewahrung vor dem Hochmut des Gesunden in allen Wandlungen des Werkes." ⋅40⋅
Mehr oder minder deutliche Kirchenkritik
Die Ordens- und Kirchenkritik, die bei dieser Figur am rechten unteren Bildrand mitschwingt, findet auch an anderer Stelle ihren Niederschlag. Die Gestalt rechts neben dem vogelartigen Wesen trägt das rote "Camelaucum", die helmartige Kopfbedeckung damaliger Amtsträger, deren Namen noch darauf hindeutet, dass sie ursprünglich aus Kamelhaaren hergestellt wurde. ⋅41⋅
"Zeichen der Demut - jetzt ein Hochmutsfetzen; ein Menschenfuß, in der Menschenhand ein Bischofsstab - aus Eisen, mit zwei sichelscharfen Zinken: Nicht der Gute-Hirten-Stab, sondern todbringende Waffe." ⋅42⋅
Nicht vordergründig, sondern versteckt in Form eines Fabelwesens, scheint der Maler hier auf eine Weise, die ihn selbst nicht angreifbar machte, eine Kritik zu formulieren, die zu jenem Künstler, in dessen Nachlass sich 27 Predigten Luthers, "sunst viel scharteken luterich" und die sogenannten "Zwölf Artikel" der Bauernbewegung fanden ⋅43⋅, durchaus zu passen scheint.
Auch die Darstellung des Berges auf dieser Altartafel könnte in diese Richtung weisen. Unterhalb der hochaufragenden Gipfel scheinen die Gebirgsmassen gleichsam ins Rutschen geraten zu sein. Es sieht schon beinahe danach aus, als hätte der Künstler hier einen regelrechten Bergrutsch dargestellt, dem sogar die Bäume zum Opfer fallen. Ist es der Felsen auf dem die Kirche Christi gegründet ist, der hier alles andere als fest gefügt erscheint? ⋅44⋅
Vor allem die kleine Gruppe am rechten Bildrand gibt hier zu vielfältigen Spekulationen Anlass. Es handelt sich dabei um eine vermutlich einzigartige Darstellung. Ein eigenartiges Wesen liegt am Boden. Es hat Arme und Beine, die an menschliche Gliedmaße erinnern, der Körper ist aber der eines Fisches. Geschunden wird es von einem nackten Mönch, der deutlich durch seine Kapuze gekennzeichnet ist. Gewaltig drischt er auf das Wesen ein. Eine Hand ist schon verstümmelt, den Arm schlägt er ihm gerade mit seinem Schwert ab.
Ein abrutschender Berghang und das geschundene Wesen mit dem Fischleib.
Darf man vom Symbol des Fisches etwa auf den "Leib Christi" schließen? Das Wort Fisch, das im Griechischen "Ichthys" heißt, wurde in der christlichen Tradition ja von Urzeiten her als Abkürzung des Ausdruckes "Iesous CHristos THheou hYios Soter" - "Jesus Christus, Gottes Sohn, der Retter" - verstanden und der Fisch demnach als Christussymbol verstanden. Der Fisch mit den menschlichen Armen und Beinen könnte demnach durchaus eine Anspielung auf den Leib Christi, die Kirche, sein. Die Kirche - geschunden von einem Vertreter eines pervertierten Mönchtums. Eine Deutung, die sicherlich ganz stark ins Reich der Spekulation gehört. Würde sie aber zutreffend sein - und manches spricht durchaus dafür - es wäre eine ungeheure Kritik an den Zuständen innerhalb der Kirche am Vorabend der Reformation - und das auf dem Altarbild einer Klosterkirche.
Nicht minder spannend ist die zweite Figur, die mit ihrer Tonsur ebenfalls als Mönch gekennzeichnet ist. Drischt auch diese Gestalt auf das geschundene Wesen ein? Kommt sie ihm gar zu Hilfe? Zu wenig wissen wir über die genaue Datierung des Bildes, zu wenig über die Hintergründe der Entstehung und erst recht nichts über die Absicht und die Gedanken des Künstlers und seiner Auftraggeber.
Was wir aber wissen ist, dass im Maler des Isenheimer Altares ein wacher Geist in einer ungeheuren Zeit des Umbruchs am Werk ist. In Straßburg wetterte bis zu seinem Tod im Jahre 1510 Johann Geiler von Kaysersberg gegen die Missstände in der Kirche und bereits 1519 liegen in der Bischofsstadt sechs lutherische Schriften in gedruckter Form vor ⋅45⋅.
Es hat durchaus den Anschein, als hätte in solch möglichen kirchenkritischen Anspielungen diese Zeit ihre Spuren auf dem Altarwerk hinterlassen. Als zeitlose Mahnung spricht sie nicht minder in unserer Zeit.
Zwei kaum zu deutende Figuren
Die beiden rätselhaften Figuren.
Bevor wir uns noch einmal der Frage nach den sieben Gestalten zuwenden, die an Antonius zerren, bleibt ein Blick auf zwei Fratzen, die kaum in Erscheinung treten und genauso wenig wirklich zu deuten sind.
Einen Versuch unternimmt Emil Spath. Er sieht in der finster dreinblickenden Gestalt mit dem langen Schnabel ein Sinnbild der Abkehr von Gott ⋅46⋅. Dies ergibt sich für ihn vor allem daraus, dass die benachbarte Kreatur seiner Ansicht nach die "Hinwendung zu den geschaffenen Gütern" darzustellen scheint. Letzteres hat im Attribut des Kochlöffels, den dieser Unhold einem Szepter gleich schwingt, für Emil Spath seine Begründung. Darüber hinaus bringt er diese Gestalt mit Stolz zusammen ⋅47⋅, man könnte auch sagen, einer Perversion der Macht. Insgesamt bleiben alle Deutungsversuche dieser kleinen Szene allerdings rein spekulativ. Es gibt kaum wirkliche Anzeichen, die eine fundierte Benennung möglich machen.
Ganz anders ist das aber bei den sieben verbleibenden Dämonen, die in der Literatur ja so unterschiedliche Deutungen erfahren haben.
Der Isenheimer Altar und die "sieben Todsünden" Hans Baldung Griens
Schon 1973 hat Heinrich Geissler auf einen Holzschnitt hingewiesen, den Hans Baldung Grien geschaffen hat. Er ist in einem Druck der Schrift "Granatapfel" mit Predigten Geiler von Kaysersbergs in Straßburg im Jahre 1511 bzw. 1516 veröffentlicht worden ⋅48⋅.
Hans Baldung Grien, Die Sieben Todsünden
Lizenz: aus Johann Geyler vonn Keysersperg,
Das buch Granatapfel. im latein genant Malogranatus ... (1516)
(Scan einer Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek München).
CC BY-NC-SA 4.0
Dieser Holzschnitt ist nun in mehrfacher Hinsicht interessant. Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese in Straßburg verlegte Schrift auch bei den Antonitern bekannt war, sehr hoch. Sie unterhielten in Straßburg ja eine Niederlassung. Zum anderen ist sein Thema die "Sieben Todsünden" und diese Sünden stellt Baldung Grien in Form von Dämonen dar.
Eigenartigerweise scheint im Blick auf die Deutung des Isenheimer Altares - neben der Erwähnung durch Heinrich Geissler aus dem Jahr 1973 - auf dieses Blatt kaum einmal Bezug genommen worden zu sein. Bereits bei oberflächlicher Betrachtung muss aber auffallen, dass die hier ins Bild gebrachten Dämonen von der Art ihrer Zeichnung bis hin zu den "Gesichtszügen" eine regelrechte Parallele zu den Dämonen des Isenheimer Versuchungsbildes darstellen.
Richtigerweise hat Wilhelm Fraenger gegen eine Identifikation der durch Meister Mathis dargestellten Kreaturen eingewandt, dass ihnen jegliche Attribute fehlen würden ⋅49⋅. Und die ach so unterschiedlichen Deutungsversuche unterstreichen ja noch einmal, wie unmöglich es letztlich zu sein scheint, aus dem Bild selbst heraus eine Zuschreibung der Dämonen zu etwaigen Sünden vorzunehmen. In Hans Baldung Griens Holzschnitt aber - und das ist das besondere an ihm - sind diese Dämonen bezeichnet. Die Schwerter, die sie in der Hand halten, tragen die Namen der jeweiligen Hauptsünde, die sie darstellen. Damit aber wird dieses Bild zum Schlüssel für eine Identifikation einer etwaigen Darstellung der sieben Todsünden auch auf den Tafeln des Isenheimer Altares.
Die "Unkeuschait" müsste man demnach hinter dem gehörnten Dämon fast in der Bildmitte suchen.
Die Ähnlichkeiten der "Tragkait" Hans Baldungs gehen sogar bis in den Schwanz des Unholdes, den auch Meister Mathis dem großen Ungeheuer unterhalb der Unkeuschheit - wenn auch ganz klein und leicht zu übersehen - beigegeben hat.
Auch Hans Baldungs "neid" taucht ganz ähnlich auf dem Versuchungsbild des Isenheimer Altares wieder auf. Mit den beiden Bockshörnern und dem stacheligen Kragen entspricht er ganz stark der Kreatur, die am linken Bildrand dem Heiligen den Mantel entreißt.
Hans Baldung Grien, Die Sieben Todsünden
Lizenz: aus Johann Geyler vonn Keysersperg,
Das buch Granatapfel. im latein genant Malogranatus ... (1516)
(Scan einer Ausgabe der Bayerischen Staatsbibliothek München).
Bild zugeschnitten von Jörg Sieger
CC BY-NC-SA 4.0
Zentral neben der Darstellung der Unkeuschheit wäre auf dem Isenheimer Bild dann der "Zorn" zu suchen, der nicht ganz so ausgeprägte, aber immer noch weitgehende Ähnlichkeit mit dem "Vorbild" auf Baldungs Holzschnitt aufweist. Die Haut- oder Fell-Lappen, die das Gesicht umgeben, sind bei Meister Mathis lediglich bedrohlich hochgestellt, während sie auf dem Holzschnitt herunterhängen.
Auch der Vogelcharakter der "hochfart" ist in beiden Darstellungen deutlich zu erkennen. Was bei Hans Baldung an den linken Rand des Bildes gerückt ist, zeigt Meister Mathis lediglich auf der rechten Seite.
Die "fressery" müsste man demnach auf dem Versuchungsbild neben der Darstellung des Neides suchen. Es wäre jene Kreatur, die den Heiligen am Schopf gepackt hat.
Ganz auffällige Ähnlichkeit hat abschließend die Darstellung der "Geitikat", des Geizes, die sowohl bei Meister Mathis als auch bei Hans Baldung Grien die Form eines gepanzerten Wesens annimmt. Es ist jene Gestalt, die dem Heiligen auf den Isenheimer Altartafeln die rosenkranzähnliche Gebetsschnur entreißt.
Somit gibt es für eine Deutung der sieben genannten Kreaturen auf dem Isenheimer Versuchungsbild als "Sieben Todsünden" durchaus eine zeitgenössische Paralelle, die darüber hinaus sogar in unmittelbarer zeitlicher wie auch geographischer Nähe zum Isenheimer Altar anzusiedeln ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass Meister Mathis diese Darstellung gekannt hat, ist meiner Einschätzung nach als äußerst hoch zu bezeichnen. Und es spricht durchaus manches dafür, dass bei der Auswahl und für die Form seiner Kreaturen dieser Holzschnitt Hans Baldung Griens einen nicht unwesentlichen Anteil hatte.
Versuch einer Identifikation.
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Animation: Jörg Sieger, 2020
Wenn dem so wäre, dann ließe sich die menschenähnliche Gestalt am linken unteren Bildrand auch nicht ohne weiteres in den Reigen der Dämonen einreihen. Ihre Sonderstellung würde durch die Parallele zu Baldung Griens Holzschnitt noch einmal unterstrichen. Auch von dieser Seite ein Hinweis darauf, dass es sich hier eben nicht um einen weiteren Teufel, sondern wie von Marquard, Spath und einigen anderen vermutet, um die Darstellung eines Kranken handeln würde.
Für einen großen Teil der Kreaturen des Versuchungsbildes ließe sich auf diese Weise eine Deutung geben, die alles andere als Willkür wäre.
Ganz unsicher bleiben die beiden Fratzen halblinks im Bildhintergrund, die Szene mit dem geschundenen Fischleib bleibt rätselhaft. Die verhaltene Kirchenkritik bei der Gestalt mit der Kopfbedeckung der damaligen Amtsträger, dem "Camelaucum" lässt sich erahnen.
Eine Deutung der sieben Kreaturen, die direkt Hand an Antonius legen, bekommt durch die Parallele mit den Holzschnitt Hans Baldung Griens ein gerüttelt Maß an Wahrscheinlichkeit und dass die leidgeprüfte Gestalt links im Vordergrund mehr als nur ein Dämon ist, wird immer deutlicher.
Der Schrei der Verlassenheit
Der Zettel am rechten unteren Bildrand.
Hier ist schließlich nicht nur der Ruf des Antonius, wie er in der Darstellung der Legenda aurea überliefert ist, zu lesen. Der lateinische Satz - "Ubi eras Ihesu bone ubi eras quare non affuisti ut sanares vulnera mea" - "Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum bist du nicht dagewesen, um meine Wunden zu heilen?" - ist nicht in lateinischen Buchstaben geschrieben. Es ist eine gotisches Schreibschrift, die auf dem Blatt Papier zu entziffern ist.
Es ist der Satz, den Antonius gemäß seiner legendenhaften Geschichte in der höchsten Verzweiflung ausgerufen hat. Darauf nimmt das Bild bezug. Indem der Heilige mit seinem Stock auf diesen Zettel weist, wird dies noch einmal unterstrichen. Aber es ist nicht nur ein Satz aus einer längst vergangenen Zeit. Er ist in der Schrift der damaligen Gegenwart wiedergegeben. Es ist nämlich gleichzeitig der Ruf des Kranken, sein Schrei in tiefster Verzweiflung.
Nachdem der geschlossene Altar dem Betrachter den toten Christus vor Augen geführt, der einmal geöffnete Altar die Szenen der Heilsgeschichte dargelegt und das Bild mit der Darstellung des Besuchs des Heiligen Antonius beim Einsiedler Paulus zum wiederholten Male dafür geworben hat, dass der Kranke all dies im Glauben wirklich annehmen soll, bricht sich auf diesem Bild die ganze Verzweiflung Bahn. Trotz aller Belehrung, aller Theologie zum Trotz; der zu den Antonitern gebrachte Kranke wusste: seine Krankheit blieb und sie würde mit großer Wahrscheinlichkeit zum Tode führen.
Wir sind an der ehrlichsten Ecke des Altares überhaupt angelangt. Es wird nicht verschwiegen, dass im Angesicht des Todes, in diesem unsäglichen Leid, fromme Sprüche wenig helfen. "Wo warst du, mein Gott? Ja, wo bist du?" Diese Frage lässt sich nicht unterdrücken. Sie bricht sich genau jetzt in aller Deutlichkeit Bahn. Nicht nur Antonius sieht keine Hilfe mehr, auch dem Kranken steht die ganze Ausweglosigkeit seiner Lage vor Augen. Alle Theologie, all die vielen Bilder und Worte, die ihm bislang begegneten, sie klingen wie Geschichten, wie Märchen, wie fromme Vertröstungen. Aus seiner Verzweiflung helfen sie ihm nicht. Wir sind nicht nur bildhaft, was die Altartafel angeht, an der untersten Ecke angekommen. Aber jetzt, ganz unten angelangt, fordert uns der Altar auf, in die Höhe zu blicken ...
Literaturhinweise
Zur Antoniuslegende vergleiche:
Des Heiligen Athanasius Leben des Heiligen Antonius, aus dem Griechischen übersetzt von Dr. Hans Mertel (= Bibliothek der Kirchenväter) (Kempten / München 1917) 677-777.),
Erich Weidinger (Hrsg.), Legenda aurea - Das Leben der Heiligen (Aschaffenburg 1986).
Über die Deutung des Bildes und deren Hintergründe informieren vor allem:
Hans-Ferdinand Angel, Kampf gegen die Krankheit als Kampf gegen die höllischen Mächte, in: Antoniter-Forum 4/1996, (München 1996) 55-81,
Günther Engel, Das Antoniusfeuer in der Kunst des Mittelalters: die Antoniter und ihr ganzheitlicher Therapieansatz, in Antoniter-Forum 7/1999 (München 1999) 7-35,
Heinrich Geissler, Der Altar - Daten und Fakten im Überblick, in: Max Seidel, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 38-216,
Marc Lienhard / Jakob Willer, Straßburg und die Reformation (Kehl 1981),
Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar (Stuttgart 1996),
Wilhelm Nyssen, Choral des Glaubens (Freiburg 1994).
Eduard Stommel, Art.: Achtlasterlehre, in: Lexikon für Theologie und Kirche (Freiburg 2. Auflage 1957) I/111, Wilhelm Fraenger, Matthias Grünewald (Dresden 1983),
Henri Schreck, Die Botschaft des Isenheimer Altars (Colmar 1977),
sowie
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991).
Besonderer Dank für die freundliche Unterstützung:
Prof. Dr. Karl-Heinz Leven, Institut der Geschichte der Medizin der Albert-Ludwig-Universität Freiburg
und
Prof. Dr. Klaus Starke, em. Direktor des Pharmakologischen Instituts der Albert-Ludwig-Universität Freiburg.
Anmerkungen