Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Die Selbstbildnisse: drei, zwei, eins, keins?
- Der Sebastian des Isenheimer Altares - Der Maler als Mitdreißiger?
- Das Selbstbildnis eines jungen Künstlers - der jugendliche "Sebastian"?
- Nicht Albrecht Dürer sondern Wolf Huber
- Ein "perfecters Contrafeyt"
- Doch "nur" ein Apostel?
- Und noch ein Versuch
- Gleichsam im Vorübergang
Originalseite aus Joachim von Sandrart,
Teutsche Akademie (1675) II, Buch 3
niederländische und deutsche Künstler
Tafel CC, nach Seite 214.
Lizenz: Sandrart, Joachim von,
L' Academia Todesca della Architectura, Scultura &
Pittura:Oder Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild-
und Mahlerey-Künste, Dritter Theil, Von der alt- und
neu-berühmten Egyptischen, Griechischen, Römischen,
Italiänischen, Hoch- und Nider-Teutschen Bau-, Bild-
und Mahlerey-Künstlere Lob und Leben. Nürnberg: 1675
Universiätsbibliothek Heidelberg,
als gemeinfrei gekennzeichnet.
Als Joachim von Sandrart dem vergessenen Meister Mathis als "Matthaeus Grünewald, sonst Matthäus von Aschaffenburg genannt" in seiner "Teutschen Academie" von 1675 gleichsam zu einer neuen Existenz verhalf, präsentierte er einer interessierten Öffentlichkeit auch gleich das Aussehen dieses Künstlers.
Das dort wiedergegebene Bildnis sei nach einer Zeichnung Albrecht Dürers gestochen, der seinen damaligen Werkgenossen bei der Arbeit am Heller-Altar (1507-1509) porträtiert haben soll ⋅1⋅.
Bedeutung erhielt dieses Bild vor allem, als man - was Sandrart noch nicht tat - den Isenheimer Altar mit der Autorschaft jenes Mathias Grünewald in Verbindung brachte. Die Züge des Sebastian auf dem Standflügel des Altares weisen schließlich eine nicht zu leugnende Ähnlichkeit mit dem von Sandrart veröffentlichten Konterfei des Künstlers auf. Damit legte sich die Vermutung nahe, dass es sich beim Sebastian des Isenheimer Altares um ein Selbstbildnis des Meisters handeln müsse.
Der Sebastian des Isenheimer Altares - Der Maler als Mitdreißiger?
Die Sebastiandarstellung zeigt einen Mann in den Dreißigern. Der Maler des Bildes müsste demnach, wenn es sich um ein Selbstporträt handeln soll, um 1480 geboren worden sein. Um die Mitte des 2. Jahrzehntes des 16. Jahrhunderts ist der Isenheimer Altar schließlich entstanden.
Nichts ist über Meister Mathis' Geburtsjahr bekannt. Die ältere Schulmeinung ging davon aus, dass
"die gewaltige Erfahrungssumme, die auf den Isenheimer Altartafeln menschlich und künstlerisch gezogen ist, nur einem Manne in gereiften Jahren zu Gebote stand." ⋅2⋅
Von daher wurde eine Geburt des Meisters häufig in der Zeit um 1469 angenommen. Zwei Nachrichten, dass ein "Meister Mathis" in Aschaffenburg Aufträge im Jahre 1489 erhalten habe ⋅3⋅, ließen auf eine Geburt etwa zwanzig Jahre zuvor schließen.
Heinrich Alfred Schmid zog diese Informationen aber bereits in Zweifel. Einen der beiden in diesem Zusammenhang genannten Aufträge will er als reine Anstreicherarbeit gewertet wissen. Für ihn ist dies höchstens der Hinweis auf einen Handwerker, nicht aber einen Künstler, der mit dem Schöpfer der Isenheimer Altartafeln identisch ist ⋅4⋅. Dem zweiten Auftrag - nämlich ein Altarbild für den neu hergerichteten Liebfrauenaltar der Aschaffenburger Agathenkirche zu erstellen - misst er wenig Wahrscheinlichkeit bei. Es sei nicht nachweisbar, dass ein solcher Altar damals errichtet wurde. Zudem sei die Erwähnung dieses Auftrages um die Mitte des 19. Jahrhunderts ohne Angabe von Belegstellen erfolgt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ein wirklicher Nachweis für diese Nachricht in den entsprechenden Archiven nicht zu finden ⋅5⋅. Da zudem die ersten wirklich greifbaren Werke des Meisters alle aus der Zeit nach 1500 stammen, plädiert Schmid für ein Geburtsdatum um 1480 ⋅6⋅.
Damit könnte sich der Künstler im Bild des Sebastians des Isenheimer Altares - allein vom Alter her - durchaus selbst dargestellt haben.
Ausschnitt aus der Originalseite aus
Joachim von Sandrart, Teutsche Akademie
(1675) II, Buch 3
niederländische und deutsche Künstler
Tafel CC (nach Seite 214).
Lizenz: Sandrart, Joachim von,
L' Academia Todesca della Architectura, Scultura &
Pittura:Oder Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild-
und Mahlerey-Künste, Dritter Theil, Von der alt- und
neu-berühmten Egyptischen, Griechischen, Römischen,
Italiänischen, Hoch- und Nider-Teutschen Bau-, Bild-
und Mahlerey-Künstlere Lob und Leben. Nürnberg: 1675
Universiätsbibliothek Heidelberg,
als gemeinfrei gekennzeichnet.
Kopf des Sebastian auf
dem Isenheimer Standflügel.
Vermutetes Selbstbildnis
des jungen
Mathis Gothart Nithart.
Das Selbstbildnis eines jungen Künstlers - der jugendliche "Sebastian"?
Ausschnitt
unter
Hervorhebung
der Buchstaben
M und N
auf dem
Fensterrahmen.
Lizenz: Siehe
Gesamansicht
Junger Künstler im Atelier -
mit Konstruktionslinien nach H. H. Naumann. ⋅7⋅
Die Linien werden durch Klick ins Bild sichtbar.
Lizenz: South German,
Portrait of a Young Artist, c. 1500,
Oil on panel, 18 x 12 7/8 in. (45.7 x 32.8 cm),
Charles H. and Mary F. S. Worcester Collection,
1947.77, The Art Institute of Chicago.
Photography © The Art Institute of Chicago.
Im Frühherbst 1928 kam aus schwedischem Privatbesitz ein kleines Bild (32,8 x 45,7 cm) in den Handel ⋅8⋅, das heute im Art Institute of Chicago aufbewahrt wird. Es zeigt das Selbstbildnis eines jungen Künstlers, der gerade dabei ist eine Feder zu spitzen. Dabei sitzt er am Fenster eines Ateliers, an dessen Rahmen - wohl als Signatur - die Buchstaben "M N" zu entziffern sind.
Schnell wurde dieses Monogramm als "Mathis Nithart" gedeutet und das Bildnis des jungen Mannes, der sich hier offenbar selbst dargestellt hat, als Jugendbildnis des Meisters der Isenheimer Altartafeln betrachtet. Interessanterweise wurde es hierbei zunächst überhaupt nicht mit der Sebastiansdarstellung in Verbindung gebracht - ganz im Gegenteil.
Für Hans Heinrich Naumann war dieses Bild der Beleg dafür, dass Mathis Nithart von einer altertümlichen und der Idee der Renaissance noch unberührten Kunst herkomme ⋅9⋅. Er sei der letzte gewesen - unterrichtet von den Meistern "E S" und Martin Schongauer - der noch in die alten Weisheiten der Hütten der mittelalterlichen Baumeister und Silberschmiede eingeweiht worden sei ⋅10⋅.
Naumann meint diese alte Geheimlehre aus dem kleinen Bild mittels eines ausgeklügelten Koordinatennetzes erschließen zu können. Damit versucht er zu beweisen, dass das Knabenbildnis
"... ein Ausbund spätgotischer Hüttenweisheit sei." ⋅11⋅
Voraussetzung für diese Deutung ist eine recht frühe Entstehungszeit des Porträts, das Naumann auf 1475 datiert. Es zeige den 20-jährigen Mathis Nithart, der demnach bereits 1455 geboren worden sein müsse. ⋅12⋅
Walter Karl Zülch vermutet, dass das Bild um 1480 entstanden sei, und rückt das Geburtsdatum des Meisters demnach in die Zeit um 1460. ⋅13⋅ Ausschlaggebend dafür sind aber auch bei ihm kaum wirklich stichhaltige Belege, sondern wohl vor allem die Annahme, dass der Schöpfer des Isenheimer Altares ein reifer und erfahrener Künstler gewesen sein müsse, der das fünfzigste Lebensjahr bereits vollendet hatte.
Wäre dieses kleine Bild, das nach einer schulgerechten, wenn auch unorganisch und ungelenk angewandten Perspektivenlehre entwickelt wurde, in den von Naumann und Zülch vermuteten Jahren entstanden, wäre es durchaus richtungsweisend gewesen. Nach Wilhelm Fraenger begegnet man "derart strukturell nur halbverstanden Raumgefügen" in den "oberdeutschen Malerschulen" ab 1460. ⋅14⋅
Nichts aber macht es notwendig, das Bild so früh zu datieren. Es kann sich genauso um das Jugendwerk eines Künstlers am Ausgang des 15. Jahrhunderts handeln. Um 1500 entstanden, wäre es aber keine besonders bahnbrechende Arbeit mehr und erst recht kein Medium, um mittelalterliches Geheimwissen zu transportieren, sondern eine treffliche, aber doch recht normale Leistung eines jungen Künstlers zu Beginn seiner Karriere.
Neue Bedeutung könnte das Bild dann aber durch einen ganz anderen Umstand erhalten. Auf diese Weise entsteht nämlich eine ganz eigene Verbindung zur Sebastiansdarstellung des Isenheimer Altares. Der um 1500 Zwanzigjährige ist zur Zeit der Entstehung des großen Altarwerkes dann etwa 35 Jahre alt. Und interessanterweise haben die Züge der beiden Gesichter - das des jugendlichen Künstlers und das des Sebastian - ungeheure Ähnlichkeit.
"Vergleichen wir die beiden Augenpaare, so stimmen diese nicht nur in der Mandelform des Schnittes und ihrer braunen Färbung überein, sondern in noch bezeichnenderen Einzelheiten: den weiten Abstand und der scharfen Absetzung der Augenbrauen, der Faltung ihrer Oberlider, wo sich schon bei der straffgespannten Haut des Knabenkopfes das locker Überfallende des Brauenmuskels vorgezeichnet findet, schließlich im weichgewölbten Schattenfang der unteren Augenhöhle. - Ebenso überzeugend ist die Ähnlichkeit der Mund- und Kinnpartien: Die vollblütig geschwellten Lippen weisen jeweils an ihren Enden eine Falte auf, welche den Mundwinkel betont nach unten zieht..." ⋅15⋅
Bis hin zu Kinn und Nase findet Fraenger Übereinstimmungen, so dass sich für ihn der Eindruck einer "physiognomischen Identität" verfestigt und an der Gleichsetzung des Malerknaben mit dem Sebastian nicht zu rütteln sei. ⋅16⋅
Kann aber der Maler des kleinen Chicagoer Porträts wirklich mit dem Isenheimer Meister identisch sein? Gerade die Ähnlichkeit mit der Sebastiansdarstellung ist - auch für Fraenger ⋅17⋅ - eher Argument gegen die Gleichsetzung als dafür. Wenn der Isenheimer Sebastian der gleiche Mann sein soll, der sich etwa fünfzehn Jahre zuvor auf jenem kleinen Bild dargestellt hat, dann muss dieses in Chicago gezeigte Bildnis ja kurz vor 1500 entstanden sein. Aus der Zeit um 1500 existieren aber die ersten sicher von Meister Mathis gemalten Werke, wie etwa seine Abendmahlsdarstellung, die heute der Kunstsammlung der Veste Coburg angehört.
Mathis Gothart Nithart: Abendmahl (um 1500) - Kunstsammlung der Veste Coburg.
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338,
Matthias Gruenewald-Coburger Tafel-Abendmahl, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Ist es aber vorstellbar, dass das Chicagoer Selbstporträt und dieses Abendmahl von der Hand ein und desselben Malers stammen, ohne dass zwischen beiden Bildern eine entsprechende künstlerische Entwicklung und damit auch ein größerer zeitlicher Abstand angenommen werden muss? Auch die Tafeln des kurz darauf entstandenen Lindenhardter Altares sprechen eine ganz andere Sprache.
Die Buchstaben M und N auf dem Chicagoer Selbstbildnis sind absolut nicht zwingend mit "Mathis Nithart" zu übersetzen, zumal es keinen anderen Beleg dafür gibt, dass Meister Mathis jemals auf diese Art und Weise signiert hat.
Wilhelm Fraenger kommt daher zum Schluss, dass der Maler des Chicagoer Bildnisses nicht Mathis Gothart Nithart sein könne. Da für ihn die Identität des eigentlichen Malers dieses Bildes mit dem Sebastian des Isenheimer Altares aber außer Frage steht, müsse dieser junge Künstler für den Sebastian Modell gestanden haben. Fraenger vermutet sogar, dass es sich um einen Schüler oder Hausgehilfen des Meisters handeln müsse.
"Denn Mathis hat das Antlitz dieses jungen Mannes mit offenbarer Sympathie betrachtet und mit nachdenklicher Gewissenhaftigkeit durchforscht gehabt, bevor er ein so individuell vertieftes Bildnis schaffen konnte, daß es geradezu mit einem Selbstporträt des Meisters zu verwechseln war. Wir nehmen daher an, daß der Anonymus bereits seit längerer Zeit der zunftgemäßen Hausgemeinschaft Gotharts angehörte und ihn nach Isenheim begleitet hat." ⋅18⋅
Verspottung Christi
(München, Alte Pinakothek).
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,
Q154338, Mathis Gothart Grünewald 062,
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Dyonisiusflügel
des Lindenhardter
Altares.
Foto: Jörg Sieger,
August 2008.
Nach Ansicht Wilhelm Fraengers hat Mathis öfter Schüler oder Gefährten in seinen Bildern festgehalten. In der Münchener "Verspottung Christi" ist ein Junge zu sehen, der eine rote Kappe trägt. Fraenger vermutet darin das Bildnis eines Schülers ⋅19⋅. Auch auf dem Lindenhardter Altar glaubt Fraenger eine solche Schülerdarstellung entdecken zu können. Der rötlich-blonde Lockenkopf des Jünglings, der einen weißen Hahn in Händen trägt und auch solch ein Barett auf dem Kopf hat, sei ebenfalls die Darstellung eines Gefährten des Künstlers. Nicht unwichtig sei in diesem Zusammenhang jener rote Hut. Auch im Nachlaßverzeichnis des Meisters ist ja
"1 rot schlap hub," ⋅20⋅ -
also ein roter Schlapphut - aufgeführt. Die Bemerkung:
"hat der bube", ⋅21⋅
die diesem Eintrag beigefügt ist, mache deutlich, dass Mathis dieses Kleidungsstück einem Gesellen, dem er offenbar nahestand übermacht habe. So lichte sich
"aus solchen Einzelzügen der genius loci seiner Seligenstädter Hausgemeinschaft auf, als deren Oberhaupt der kinderlose Meister in einem väterlichen Treuverhältnis zur wechselnden Gefolgschaft seiner Schüler stand." ⋅22⋅
Verspottung Christi
(München, Alte Pinakothek) -
Ausschnitt.
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,
Q154338, Mathis Gothart Grünewald 062,
zugeschnitten von Jörg Sieger,
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Dyonisiusflügel
des Lindenhardter
Altares - Ausschnitt.
Foto: Jörg Sieger,
August 2008.
Auch wenn diese Zusammenhänge für Fraenger dadurch ausreichend belegt scheinen, zeigt seine Argumentation eine der großen Schwachstellen der gesamten "Grünewald-Forschung".
Immer wieder begegnen Belege, an denen "nicht zu rütteln" ist, die aber genau betrachtet nichts anderes als Theorie, Möglichkeit oder Vermutung sind. Dazu gehört vor allem der Vergleich von Porträts - insbesondere, wenn es sich um Darstellungen unterschiedlicher Autorschaft handelt. Wir können heute nicht mehr nachprüfen, inwieweit die Abbildung eines Menschen mit der damals lebenden Person übereinstimmte, geschweige denn aus zwei unterschiedlichen Gemälden oder Zeichnungen, ohne weitere Belege, darauf schließen, ob sie auch wirklich das gleiche Vorbild darstellen oder unter keinen Umständen die gleiche Person wiedergeben wollen - insbesondere, wenn verschiedene Hände mit unterschiedlicher Fähigkeit am Werk waren. Alles bleibt hier im Bereich der Mutmaßung. Gerade im Blick auf Meister Mathis ist denn bisher auch keine Beweisführung angetreten worden, der nicht mit mindestens genauso sicheren Gründen widersprochen wurde. Letztlich muss man - bei allem Bemühen, über diesen rätselhaften Künstler doch noch etwas eingermaßen Gesichertes, vielleicht sogar Persönliches in Erfahrung bringen zu können - konstatieren, dass man über Meister Mathis eben kaum etwas wirklich sicher zu sagen weiß.
So bleibt auch nach dem Umweg über das Chicagoer Selbstbildnis als einzige Brücke zwischen dem Isenheimer Sebastian und dem wirklichen Aussehen des Malers Mathis Gothart Nithart lediglich die Behauptung Sandrarts, dass der Maler so aussehen würde, wie auf jenem nach Albrecht Dürer angefertigten Kupferstich.
Nicht Albrecht Dürer sondern Wolf Huber
Schon 1926/27 präsentierte Friedrich Winkler aber die mögliche Vorlage für Sandrarts Abbildung ⋅23⋅. Und er hat gute Gründe für seine Annahme.
Bei dem von ihm ins Spiel gebrachte Bild handelt es sich um eine Arbeit des österreichischen Malers, Zeichners und Druckgraphikers Wolf Huber, dessen Monogramm WH, das sich ursprünglich zwischen linker Schulter und Blattrand befand entfernt worden war. Die Jahreszahl 1522 dürfte jedoch original sein. Dass das Werk später für eine Arbeit Albrecht Dürers gehalten wurde, zeigt die nachträglich hinzugefügte Signatur AD unter der Jahreszahl. Das Bild, das 1978 aus dem Nachlass des Offenbacher Industriellen Rudolf von Hirsch vom Frankfurter Städel Museum erworben wurde ⋅24⋅, ist wohl die Vorlage für die Reproduktion durch Joachim von Sandrart, die - wie bei Kupferstichen häufig zu beobachten und durch die Herstellung derselben bedingt - spiegelverkehrt ausgeführt wurde.
Joachim von Sandrart, angebliches Porträt des
"Mattheus Grünewald" in jüngeren Jahren,
Teutsche Akademie (1675) II, Buch 3
niederländische und deutsche Künstler
Tafel CC, nach Seite 214.
Durch Klicken ins Bild, wird das Bild gespiegelt.
Lizenz: Sandrart, Joachim von,
L' Academia Todesca della Architectura, Scultura & Pittura:
Oder Teutsche Academie der edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste,
Dritter Theil, Von der alt- und neu-berühmten Egyptischen,
Griechischen, Römischen, Italiänischen, Hoch- und Nider-Teutschen
Bau-, Bild- und Mahlerey-Künstlere Lob und Leben. Nürnberg: 1675
Universiätsbibliothek Heidelberg,
als gemeinfrei gekennzeichnet.
Wolf Huber, Männliches Bildnis
mit Schaube und breitkrempigem Hut, 1522
Städelsches Kunstinstitut und
Städtische Galerie, Frankfurt.
Lizenz: Wolf Huber artist QS:P170,Q610556,
Wolf Huber-Zeichnungen-Maennliches Bildnis
mit Schaube und breitkrempigem Hut-1522,
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Sandrarts Kupferstich kann als Beispiel dafür herangezogen werden, wie vorsichtig man bei Rückschlüssen von bildhaften Wiedergaben auf das jeweilige Original sein muss. Im Vergleich mit Hubers Darstellung geht die Ähnlichkeit mit dem Sebastian des Isenheimer Altares gleichsam gegen null. Auch wird deutlich, wie unsicher und mit Vorsicht zu genießen die Angaben Sandrarts letztlich sind, schreibt er doch:
"Ich meines Theils/ habe so viel hiervon Bericht gethan/ als ich erfahren können/ und auch dem vorigen Theil/ sein Contrafait/ mit eingefügt: welches Albrecht Dürrer nach ihme damals/ wie sie Jacob Kellers Altar/ in obgedachter Prediger-Münch-Kirchen zu Franckfurt ausgericht/ verfertigt. Wie in der Platte CC. zusehen." ⋅25⋅
Er behauptet demnach, dass das Bild im Zusammenhang mit den Arbeiten am Heller-Altar - er gibt den Namen mit Keller wieder - entstanden sei. Im zweiten Teil des ersten Bandes von 1675 schreibt er im Dritten Buch, Capitel V auf Seite 236, dass die Arbeiten an diesem Altar etwa 1505 ausgeführt worden seien. ⋅26⋅ Die Jahreszahl auf Hubers Porträt, die das Werk eindeutig auf das Jahr 1522 datiert, macht es aber unmöglich, dass dieses Bild bereits 1505 bei der Erstellung des Heller-Altares entstanden ist. Es ist demnach sicher kein Porträt, das Dürer von "Mathevs Grinwalt" angefertigt hat. Die Arbeiten am Heller Altar waren schon anderthalb Jahrzehnte abgeschlossen, als das Bild entstand. Und die Arbeiten am Isenheimer Altar lagen ebenfalls schon mehr als sieben Jahre zurück.
Wer der Mann auf Wolf Hubers Bild ist, lässt sich heute nicht mehr sagen. Dass die Abbildung aber Mathis Gothart Nithart darstelle, ist völlig unwahrscheinlich. Mit dem Sebastian des Isenheimer Altares hat dieser Mann noch weniger zu tun. Und demnach gibt es keinen wirklich belegten Bezug zwischen dem Maler des Isenheimer Altares und seinem Sebastian auf dem Standflügel desselben - mit Ausnahme der Tatsache, dass der Maler jenes Bild eben gemalt hat.
Ein "perfecters Contrafeyt"
Originalseite aus Joachim von Sandrart,
Teutsche Akademie (1679) III (Malerei),
Tafel 4, nach S. 68.
Lizenz: Sandrart, Joachim von,
L' Academia Todesca della architectura,
scultura & pittura oder Teutsche Academie der edlen
Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste (Bd. 2,3): ...
Der Edlen Mahler-Kunst rechten Grund,
Eigenschafften und Geheimnisse... erörtert. Nürnberg
1679., Universiätsbibliothek Heidelberg,
als gemeinfrei gekennzeichnet.
Wie Sandrart dazu kam, das ihm vorliegende Bildnis als Porträt des "Mathevs Grinwalt" zu deuten, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen ⋅27⋅. Auf jeden Fall muss es für ihn
"... eine recht gemischte Überraschung ..." ⋅28⋅
gewesen sein, als er nach Drucklegung des ersten Bandes seiner "Teutschen Academie" im Kabinett des Rathsherrn Philipp Jacob Stromer zu Nürnberg eine Zeichnung vorgelegt bekam, die offenbar von der Hand des Mathis Gothart Nithart selber stammte.
Im 1679 erschienenen zweiten Band vermerkt er deshalb, dass er im ersten Band zwar bereits ein Bild publiziert habe.
"Weil aber selbiges/ nach seiner damaligen Jugend/ gebildet ist; und seit dem der curiöse Hr. Philipp Jacob Stromer/ ein Herr des Raths hiesiger hochlöbl. Reichsstadt/ in seinem berühmten Kunst-Cabinet/ ein noch älters und perfecters Contrafeyt von gedachtem Meister mir gezeiget: als habe ich billich solches/ diesem hochgestiegnem teutschen Correggio zu Ehren/ hie in der Platt. 4. beyfügen/ und theilhafftig machen wollen." ⋅29⋅
Die Begriffe "älters und perfecters" wollen - nach Wilhelm Fraenger - nicht zum Ausdruck bringen, dass es sich um eine ältere Darstellung als im ersten Band handeln würde, sondern um ein ...
"... durch das vorgerückte Alter charakteristischer geprägtes Ebenbild des Meisters". ⋅30⋅
Sandrat fertigte eigenhändig eine kleine Zeichnung mit den Maßen 10 x 12 cm von diesem in Nürnberg gesehenen Blatt an und ließ sie von Richard Collin für den zweiten Band seiner Academie in Kupfer stechen. ⋅31⋅
Das Original, das Sandrart damals in Nürnberg zu Gesicht bekommen hat, wird heute in der Erlanger Universitätsbibliothek aufbewahrt. Das Blatt ist ursprünglich mit weicher Kreide gemalt worden. Heute ist es in einem ausgesprochen schlechten Zustand. Es ist stark nachgedunkelt, was darauf schließen lässt, dass es längere Zeit dem Licht ausgesetzt war. Zudem scheint es in weiten Teilen überarbeitet worden zu sein. Überzeichnungen mit zwei unterschiedlichen Tinten sind nachweisbar. Die "verschatteten" Partien wurden mit einer dunklen Lavierung überzogen. ⋅32⋅ Nichtsdestoweniger scheint es sich - zweifelsfrei wie Antje-Fee Köllermann meint ⋅33⋅ - um eine Komposition Mathis Gothart Nitharts zu handeln, auch wenn vom Künstler selbst nur noch ganz wenige originale Striche mit bloßem Auge zu erkennen sind - so etwa in wenigen Bereichen am Hals, am Hemd und am linken Kragenrand. ⋅34⋅
Joachim von Sandrart, angebliches Porträt des
"Mattheus Grünewald" in älteren Jahren , Teutsche
Akademie (1679) III (Malerei), Tafel 4, nach S. 68.
Lizenz: Sandrart, Joachim von, L' Academia Todesca
della architectura, scultura & pittura oder Teutsche
Academie der edlen Bau-, Bild- und Mahlerey-Künste
(Bd. 2,3): ... Der Edlen Mahler-Kunst rechte
n Grund, Eigenschafften und Geheimnisse...
erörtert. Nürnberg 1679., Universiätsbibliothek Heidelberg,
als gemeinfrei gekennzeichnet.
Joachim von Sandrart, Mathis von Aschaffenburg,
Bayerische Staatsbibliothek, München -
Zeichnung, 12 x 10 cm.
Lizenz: Sandrart, Joachim von:
Originalzeichnungen zu der anno 1675 gedruckten
Academia der edlen Bau-, Bild- und Malerkünste -
BSB Cod.icon. 366, [S.l.]
[Bayerische Staatsbibliothek München] -
zugeschnitten von Jörg Sieger -
(CC BY-NC-SA 4.0).
Das Monogramm "MG" und die Jahreszahl "1529" - wohl als mutmaßliches Todesjahr des Künstlers - sind Hinzufügungen aus der Zeit der Überarbeitungen.
Auf der Rückseite findet sich in einer Schrift aus der Zeit um 1600 eine Reihe von Künstlernamen, von der die erste Zeile teilweise weggeschnitten ist. Heinrich Alfred Schmid hat diese Liste publiziert:
Mathis Gothart Nithart,
Bildnis eines aufwärts blickenden Mannes -
Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg,
Graphische Sammlung.
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338,
Matthias Gruenewald-Zeichnungen-Brustbild eines
aufwaerts blickenden Mannes mit Federkiel, als gemeinfrei
gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Marthin Schen..... / Albrecht Dürer / Albrecht altdorffer / Jerg Benß / Sebalt Behm / mathes von Aschaffenburg / Johan scheuffel / Lucas Kranach, Lambrecht schwab / Der Amberger / Jacob Sigmeyer zu Augspurg (Augspurg wider gestrichen) / manuel Deutsch zu Bern / Johann Baltung grun / Johann Burgmeyer zu Augspurg /hennerich vogtherr zu Straburg / vergilis Solis / Jost Amman / Johann Teuffel / florian Abel / Tobias fendt zu Breslaw / der Boksperger / Johann holbein / Tobias Stimmer / Johannes aelgast / Christpohel schwarz." ⋅35⋅
Joachim von Sandrart spricht interessanterweise nicht von einer originalen Arbeit des Meisters. Auch lässt er die Signatur, die zu seiner Zeit sicher schon auf dem Blatt zu lesen war, ganz einfach weg. Warum er dies tut, ist nicht wirklich zu klären. Wilhelm Fraenger vermutet, dass er den Wert seines bereits zuvor publizierten Bildnisses nicht schmälern wollte. Er habe nicht erst im Nachhinein mit einem wirklichen Selbstporträt aufwarten wollen ⋅36⋅.
Dass auf diesem Bild Mathis von Aschaffenburg dargestellt sei, war für ihn aber keine Frage. Ganz ähnlich wie für den Kopisten, der um 1600 das Blatt abgezeichnet hat. Diese Kopie von unbekannter Hand wird heute im Kupferstichkabinett der "Museumslandschaft Hessen Kassel" aufbewahrt. Die Aufschrift "Contrafactur des hochberümten (oder: hochberümpten) Malers Mathes von Aschaffenburg" ⋅37⋅ belegt ausdrücklich, dass man das Bild zu dieser Zeit als Porträt Meister Mathis' betrachtete.
Auf der Rückseite der sogenannten Kassler Kopie wird das Bildnis durch eine Notitz aus deutlich späterer Zeit zudem ausdrücklich als Selbstbildnis bezeichnet.
"Mattheus Grünewald von Aschaffenburg, sehr rares Portrait von ihm selbst gezeichnet, hat floriert um das Jahr Christi 1500. Siehe ... Piles. Leben der Mahler". ⋅38⋅
Die Kassler Kopie verdeutlicht gut, wie das Erlanger Bildnis einmal ausgesehen haben mag. Wenn es sich dabei aber um ein Selbstbildnis des Meisters handelt, dann gibt es weitere Darstellungen, für die Meister Mathis sich selbst als Modell genommen hat. Und die bekannteste wäre dann wohl die Darstellung des Einsiedler Paulus auf dem Besuchsbild des Isenheimer Altares.
Anonym, Kopie des Erlanger Bildnisses
Lizenz: Museumslandschaft Hessen Kassel,
Graphische Sammlung, Foto: Arno Hensmanns
Einsiedler Paulus - Ausschnitt aus
dem Besuchsbild des Isenheimer Altares.
Wenn für die Gestalt des Antonius der Präzeptor des Isenheimer Klosters und Auftraggeber der Altartafeln, Guido Guersi, Pate gestanden hat, worauf das Wappen neben seiner Abbildung ja hindeuten könnte, dann hätte sich Meister Mathis hier als Gesprächspartner des Präzeptors selbst in Szene gesetzt. Wilhelm Fraenger glaubt, davon ausgehen zu dürfen ⋅39⋅. Er findet - von der Erlanger Zeichnung ausgehend - im Werk des Meisters sogar noch weitere Selbstbildnisse: auf der Tafel der "Verspottung Christi" in München, auf der Basler Kreuzigung und dem in Freiburg im Breisgau aufbewahrten rechten Flügel des Maria-Schnee-Altares. ⋅40⋅
Verspottung Christi,
München,
Alte Pinakothek.
Lizenz: Mathias Grünewald
artist
QS:P170,Q154338,
Mathis Gothart Grünewald 062,
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf
Wikimedia Commons
Kreuzigung,
Basel,
Kunstmuseum.
Lizenz: Mathias Grünewald
artist QS:P170,Q154338,
Mathis Gothart Grünewald 047,
farblich bearbeitet
von Jörg Sieger,
public domain,
CC0 1.0
Schneewunder,
Freiburg im Breisgau,
Augustinermuseum.
Lizenz: Mathias Grünewald artist
QS:P170,Q154338, Matthias
Grünewald - Establishment
of the Santa Maria Maggiore in
Rome - WGA10779, als
gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Insbesondere auf der Münchner Verspottungstafel wird für Fraenger der Charakter eines Selbstbildnisses noch dadurch bekräftigt, dass der Bärtige und sein ihm nachgeordneter Geselle - Fraenger vermutet in ihm ja die Abbildung eines Schülers des Meisters - in dieser Ansammlung von Schimpf- und Spottgesichtern die einzigen mit "sachlicher Wahrhaftigkeit gemalten Köpfe" seien ⋅41⋅. Auch lassen ihn die Kleidung - ein "königsblauer Überrock mit lachsroter Bordierung und eine gelbrote Zendelmütze" - an die prunkvollen Kostüme aus dem Nachlass des Malers denken ⋅42⋅. Im vermuteten Selbstbildnis der Münchner Verspottung sieht Fraenger Mathis Nithart Gothart im Alter von etwa vierzig Jahren. Er setzt das Geburtsjahr deshalb auf etwa 1460 an ⋅43⋅.
Vier Jahre später glaubt er Meister Mathis im Bild des Longinus auf der Basler Kreuzigung wiederzuentdecken ⋅44⋅. Dieses Bild ist etwa sieben Jahre vor dem Eremitenbild des Isenheimer Altares entstanden.
Verspottung Christi,
München,
Alte Pinakothek -
Ausschnitt.
Lizenz: Mathias Grünewald
artist
QS:P170,Q154338,
Mathis Gothart Grünewald 062,
zugeschnitten von Jörg Sieger
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf
Wikimedia Commons
Kreuzigung,
Basel,
Kunstmuseum -
Ausschnitt.
Lizenz: Mathias Grünewald
artist QS:P170,Q154338,
Mathis Gothart Grünewald 047,
farblich bearbeitet
und zugeschnitten
von Jörg Sieger,
public domain,
CC0 1.0
Schneewunder,
Freiburg im Breisgau,
Augustinermuseum. -
Ausschnitt.
Lizenz: Mathias Grünewald artist
QS:P170,Q154338, Matthias
Grünewald - Establishment
of the Santa Maria Maggiore in
Rome - WGA10779,
zugeschnitten von Jörg Sieger
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Und erneut vier Jahre nach der Darstellung als Einsiedler Paulus begegne Mathis noch einmal als alter Mann auf dem Maria-Schnee-Altarflügel.
"Wieder in eine sehr gewählte Tracht: in einen dunkelblauen Mantel mit breitem Überschlag von rotem Futterstoff gewandet, stellt er den römischen Patrizier Johannes in der Begleitung seines Weibes dar, die ehemals zu Zeugen jenes Schnee-Mirakels wurden, dem die Altartafel gewidmet ist. Dieses Figurenpaar ist so hervorgehoben, wie sonst nur Stifterbildnisse betont erscheinen. Da jedoch die zwei Auftraggeber des Altars: die ehelosen Stiftsherrn Kaspar Schanz und Heinrich Reitzmann bereits als Wappenhalter auf dem Rahmen figurieren, kommt solch ein Donatorendenkmal nicht in Frage. Tatsächlich handelt es sich um ein Selbstbildnis des Meisters Gothart, bei dem es unentschieden bleiben muß, ob in dem derb und streng geschnittenen Frauenkopf das Eheweib des Malers oder - was uns glaubwürdiger erscheint - der unpersönlich legendäre Typus jener Patrizierin geschildert sei." ⋅45⋅
Georgsflügel
des Lindenhardter Altares -
Ausschnitt.
Foto: Jörg Sieger,
August 2008
Erasmus-Mauritius-Tafel,
München, Alte Pinakothek -
Ausschnitt.
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338,
by Yelkrokoyade, Die hll. Erasmus und Mauritius
Matthias Grünewald, zugeschnitten von Jörg Sieger
CC BY-SA 4.0
Ebenfalls ausgehend von der Erlanger Zeichnung, vermutete Wolf Lücking Beziehungen zur Georgs-Figur des Lindenhardter Altares ⋅46⋅. Und Leo Weismantel meint den alt gewordenen Maler im Hintergrund zwischen den Bildnissen von Erasmus und Mauritius auf der Münchner Tafel zu sehen ⋅47⋅.
Dass auch der Johannes der Täufer des Isenheimer Altares mit der Person des Mathis Nithart Gothart in Zusammenhang gebracht wurde, sei hier nur am Rande erwähnt ⋅48⋅.
Letztlich ergäbe sich durch all diese Bildnisse ein klares Bild des Meisters aus verschiedenen Lebensaltern. All diese Abbildungen lassen sich aber nur aufgrund einer einzigen Voraussetzung mit dem Antlitz des Schöpfers der Isenheimer Altartafeln in Beziehung setzen: unter der Voraussetzung nämlich, dass es sich bei der Erlanger Zeichnung tatsächlich um ein Selbstbildnis des Mathis Nithart Gothart handelt. Genau dafür gibt es aber keinen wirklichen Beleg.
Doch "nur" ein Apostel?
Johannes unter dem Kreuz -
Kreide und Papier, 43,4 x 32 cm,
Berlin, Kupferstichkabinett.
Lizenz: Matthias Grünewald, um 1523,
Studie zum Johannes der Tauberbischofsheimer Kreuzigung,
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin, Berlin,
Ident. Nr. KdZ 12036, © Foto: Kupferstichkabinett,
Staatliche Museen zu Berlin, Fotograf/in: Jörg P. Anders,
zugeschnitten von Jörg Sieger, CC BY-NC-SA
Für ein Selbstbildnis spricht letztlich nur der Umstand, dass auf dem Erlanger Blatt ein Mann in zeitgenössischer Alltagskleidung mit einem Federkiel dargestellt ist. Sehr häufig stellen sich Künstler schließlich mit dem Werkzeug in der Hand an ihrem Arbeitsplatz dar. Genau so sehen sie sich schließlich im Spiegel, wenn sie im Begriff sind, sich selbst abzubilden. Deshalb schauen die Dargestellten bei Selbstbildnissen den Betrachter immer direkt und meist recht starr an. Sie blicken während der Arbeit ja in einen Spiegel.
Genau das aber ist auf dem Erlanger Bildnis nicht der Fall. Geht man einmal davon aus, dass dem Künstler keine recht komplizierte Anordnung mehrerer genau ausgerichteter Spiegel zur Verfügung stand, dann kann er sich selbst unmöglich in dieser Pose gesehen haben, in der er sein Modell zeichnet. Der Abgebildete schaut sich nicht selbst im Spiegel an, sondern blickt ...
"mit einem Ausdruck selbstvergessener Enthobenheit, als fühle er sich völlig unbeobachtet und unbelauscht, [...] ins Weite, wo er in ferner Höhe etwas zu erschauen oder zu erahnen scheint." ⋅49⋅
Es handelt sich dabei letztlich um eine Pose, die Mathis recht häufig verwendet, nicht nur in den Gesichtern, die Wilhelm Fraenger dann als Selbstbildnisse des Meisters zu erkennen glaubt. Antje-Fee Köllermann verweist beispielsweise auf die Studie zum Johannes unter dem Kreuz Christi aus der Zeit um 1522 bis 1525, die heute im Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen Berlin aufbewahrt wird. ⋅50⋅
Der Federkiel, an dem sich die Vorstellung vom Selbstbildnis letztlich dann noch festmacht, kann aber durchaus auch durch das Thema bedingt sein, unter dem das entsprechende Blatt steht. Möglicherweise handelt es sich um eine Studie zu einem Apostel oder Propheten. Wilhelm Fraengers Argument, dass die Kleidung des Dargestellten gegen eine biblische Gestalt sprechen würde ⋅51⋅, ist nicht wirklich stichhaltig. Vielleicht wurde hier das Bild eines Menschen gezeichnet, der den Künstler mehr oder minder zufällig inspirierte und nun als Vorbild für einen gesuchten Propheten oder Apostel festgehalten wurde.
Hans Burgkmair, Johannes auf Patmos,
München, Alte Pinakothek, - Ausschnitt.
Lizenz: Hans Burgkmair the Elder artist QS:P170,Q313163,
Hans Burgkmair d. Ž. - St John the Evangelist in Patmos - WGA03699,
zugeschnitten von Jörg Sieger, CC0 1.0
Auf eine Parallele aus der Hand Hans Burgkmairs wurde von unterschiedlichen Autoren bereits mehrfach hingewiesen. Dessen Johannes aus der Alten Pinakothek in München weist nahezu die gleiche Haltung auf, wie sie auf dem Erlanger Bildnis begegnet. Mit der Rechten hält er den Schreibstift und blickt dabei auf ganz ähnliche Weise nach oben, wie es auf der Zeichnung Meister Mathis' zu sehen ist.
Die Nähe beider Darstellungen zueinander muss nicht zufällig sein. Hans Hans Burgkmair hat - worauf Antje-Fee Köllermann hinweist - nachweislich eine Ausbildung bei Martin Schongauer in Colmar gemacht ⋅52⋅, so dass sich beide Künstler - auch in den Jahren nach Burgkmairs Lehre - durchaus kennengelernt und gegenseitig beeinflusst haben können.
Damit aber wäre allen vermuteten Selbstbildnissen, die sich letztlich von Nitharts Erlanger Zeichnung ableiten, ein fester Boden entzogen. Es gibt - wenn man auf gesicherte Erkenntnisse Wert legt - keinerlei Grund davon auszugehen, dass uns irgendwo ein Selbstbildnis Mathis Nithart Gotharts vorläge.
Und noch ein Versuch
Architekturteile am Tabernakel
des einfach geöffneten Altares.
Reiner Marquard macht aber doch noch einen Versuch. "Unter allem Vorbehalt" weist er ...
"... auf eine merkwürdige unauffällige Auffälligkeit" ⋅53⋅
hin, die er an der Säulenarchitektur des Tabernakels beim Engelkonzertes gefunden zu haben glaubt. Marquard bemerkt, dass sich eines der gleich Ranken gestalteten Architekturelemente an ihrem unteren Ende nicht so elegant wie die anderen mit dem Sockel verbinde. Er weist darauf hin, dass die ansonsten gerade oder gebogene Linienführung hier in eine völlig unentsprechende Form übergehe, die er als Porträt eines erwachsenen Mannes identifiziert.
"Der Kopf ist leicht nach rechts gewandt. Die Reproduktionen lassen die hervortretende Nasenpartie, die tief sitzenden Augen, die Augenbrauen und die Stirn erkennen. Die Wangenknochen treten hervor, die Haare sind links gescheitelt und fallen über das linke Ohr. Der Bart bedeckt die Mundpartie." ⋅54⋅
Reiner Marquard fragt sich, warum Grünewald das Porträt eines erwachsenen Mannes - vorausgesetzt es handelt sich um ein solches - so unscheinbar und losgelöst von seinem Bildprogramm hier eingefügt haben mag und meint, dass sich der Meister hier möglicherweise in aller Bescheidenheit selbst wiedergegeben haben könnte. ⋅55⋅
"Ob er selbst sich in den Altar hineingemalt hat und wir ihn in jenem Detail erkennen dürfen, bleibt freilich sein Geheimnis. Ein schönes, seiner Kunst entsprechendes Geheimnis!" ⋅56⋅
Pantxika De Paepe - vormals Béguerie -, die Konservatorin des Musée d'Unterlinden in Colmar hat zu Marquards Veröffentlichung ein Geleitwort geschrieben, in dem sie auch auf dessen Theorie eines möglichen Bildnisses des Mathis Gothart Nithart eingeht.
Das von Marquard vermutete
Selbstbildnis des Meister Mathis.
"In der Darstellung von Grünewald meint Dr. Marquard das Gesicht des Malers in einer der Säulen des Baldachins im Konzert der Engel versteckt zu sehen. Diese Bescheidenheit paßt zwar gut zu Grünewald, der im Gegensatz zu einem seiner Zeitgenossen wenig von sich reden machte. Albrecht Dürer hat sich häufig dargestellt, und sein Bestreben, bei einer Klientel von Kaufleuten bekannt und anerkannt zu sein, war das genaue Gegenteil von Grünewalds Haltung, dessen Aufträge zum größten Teil von der Kirche kamen. Trotzdem ist diese geheimnisvolle Anwesenheit nicht überzeugend und noch unbegründeter als die Darstellung Grünewalds im Heiligen Sebastian oder im Apostel Paulus." ⋅57⋅
Mit "Apostel Paulus" ist an dieser Stelle selbstverständlich der Einsiedler Paulus auf dem Besuchsbild gemeint. Zur Ehrenrettung der Konservatorin sei hier angemerkt, dass die Erhebung des Einsiedlers zum Apostel auf die von Marquard veröffentlichte Übersetzung zurückgeht. Pantxika De Paepe spricht in ihrem französischen Original - was auch für das folgende Zitat gilt - einfach von "saint Paul" ⋅58⋅.
Für sie steht nach allen Untersuchungen fest:
"Es gibt kein Portrait des Malers; die Erlanger Zeichnung, die lange Zeit als Selbstportrait betrachtet wurde, trägt ein Monogramm und eine nicht authentische Signatur. Außerdem sind die Gesichtszüge dieser Figur anders als die des heiligen Sebastian, des Apostels Paulus und der skizzierten Maske im Konzert der Engel." ⋅59⋅
Gleichsam im Vorübergang
Kirchenportal auf der Tafel der
"Stuppacher Madonna".
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338,
Stuppacher Madonna - Grünewald,
zugeschnitten von Jörg Sieger, CC0 1.0
Vielleicht gibt es aber doch noch ein Bildnis das uns Meister Mathis zeigt. Zumindest soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass ganz unabhängig von der bisherigen Diskussion um ein Abbild des Künstlers, noch eine weitere Darstellung als Bild des Mathis Gothart Nithart gehandelt wird.
Am vom Betrachter aus gesehen rechten Bildrand der heute in Stuppach gezeigten zentralen Bildtafel des Aschaffenburger Altares ist das südliche Querhaus des Straßburger Münsters wiedergegeben. Mehrere Personen schreiten die Treppe hinauf. Darunter ein Kanoniker und zwei reichgekleidete Herren in weltlicher Tracht. ⋅60⋅
"Das sind nicht irgendwelche anonyme Menschen, sondern deutlich erkennbare Gestalten: links Meister Mathis aus Aschaffenburg in seiner Malertracht; neben ihm sein Dienstherr, Albrecht von Brandenburg, in der Schleppe des Kardinals; etwa zwei Treppen höher der Kanoniker und Mitstifter des Maria-Schnee-Altars G. Schantz, sodann auf dem Münsterplatz, der zweite Mitstifter des Bildes und zugleich Schirmherr der Aschaffenburger Stiftskirche, Heinrich Retzmann - in der Geste der Einladung." ⋅61⋅
Es wird kaum verwundern, dass es keinen wirklichen Beleg für diese Annahme gibt und dass sie auch alles andere als unwidersprochen ist. Nichtsdestoweniger hat sie etwas symbolhaftes. Wenn das einzige Bildnis, das vom Maler des Isenheimer Altares am Ende bliebe, diese kleine Ansicht von hinten wäre, so hätte dieser Gedanke etwas gleichnishaftes. Die geheimnisvolle Gestalt des Mathis Gothart Nithart wäre für uns - selbst dort, wo sie uns als Abbild begegnen würde - nur von hinten greifbar, ohne wirklich etwas von sich selbst preiszugeben. Bei allem verständlichen Wunsch, doch noch mehr über diesen Menschen zu erfahren, begegnet uns seine Gestalt gleichsam nur im Vorübergang. Einzig wirklich greifbar bleibt uns Mathis Gothart Nithart in den Werken, die er hinterlassen hat.
Die hinaufsteigenden Personen vor dem Kirchenportal auf der Bildtafel der "Stuppacher Madonna".
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338, Stuppacher Madonna - Grünewald,
zugeschnitten von Jörg Sieger, CC0 1.0
Literaturhinweise
Grundlegendes zur Frage der Selbstbildnisse:
Wilhelm Fraenger, Die Selbstbildnisse, in: Wilhelm Fraenger, Matthias Grünewald (Dresden 1983) 153-193,
Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996), 11-18.
Quellenveröffentlichungen:
Das Nachlaß-Inventar, in: Bernhard Saran, Matthias Grünewald - Mensch und Weltbild (München 1972) Anhang 210-213,
Heinrich Alfred Schmid, Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald - II. Teil: Textband (Straßburg 1911).
Darüber hinaus herangezogene Literatur:
Antje-Fee Köllerman, Brustbild eines aufwärts blickenden Mannes mit Federkiel, in: Michael Roth, Mathias Grünewald - Zeichnungen und Gemälde (Ostfildern 2008) 201-205,
Hans Heinrich Naumann, Das Grünewald-Problem und das neuentdeckte Selbstbildnis des 20jährigen Mathis Nithart aus dem Jahre 1475 (Jena 1930),
Friedrich Winkler, Zu Dürers Grünewald-Bildnis, in: Belvedere (9-10/1926-27) 77,
Walter Karl Zülch, Das Selbstbildnis M. N., in: Pantheon. Internationale Jahreszeitschrift für Kunst (München III/1929) 222-224,
Walter Karl Zülch, Grünewald - Mathis-Gothardt-Neithardt (2. Auflage, München 1949).
Anmerkungen
Pantxika Béguerie, in: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) VIII-IX.