Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Grünewalds Isenheimer Altar als Darstellung mittelalterlicher Heilkräuter

von Dr. Wolfgang Kühn [1948] ⋅1⋅

Die Chronisten des frühen Mittelalters, beginnend mit dem Schreiber der Klosterchronik von Xanten a/Rh. aus dem Jahr 857, berichten in ständig zunehmendem Maße von einer neuen Seuche. Sie legen ihr den Namen "Ignis Sacer", d.h. heiliges Feuer, zu und schildern sehr anschaulich die Massenverheerungen der Krankheit und den Schrecken, den diese in allen betroffenen Provinzen verbreitet. Als auffallendste Symptome der Krankheit, die - zum mindesten in diesem Ausmaß - noch nie die Menschen heimgesucht hatte, lernte man bald folgende zu unterscheiden:

Zunächst begann in den befallenen Körperteilen, vorzugsweise den Extremitäten, ein heftiges Kribbeln und Ameisenlaufen, das bald von unerträglich brennenden Schmerzen abgelöst wurde. Gleichzeitig verfärbten sich die betroffenen Gliedmaßen zunächst feuerrot und später blauschwarz; die letztere Verfärbung ging mit intensivem Kältegefühl und zunehmendem Absterben der kranken Glieder einher. Das Endstadium bestand fast immer in (meist trockener) Gangrän (Brand); das kranke Glied löste sich oft spontan vom übrigen Körper, wenn es nicht schon vorher amputiert worden war. In zweiter Weise manifestierte sich die Krankheit in nervösen und geistigen Störungen: die Kranken wurden von Krämpfen befallen, die sehr viel Ähnlichkeit mit epileptischen Anfällen hatten, brachen in Tobsucht aus oder verfielen schließlich einem völlig apathischen Zustand von Lethargie

Detail des Isenheimer Altares

Die "Versuchung des Antonius"
mit dem Kranken links im Vordergrund,
dem Abbild des Antoniusfeuers usw.

Aus: Kosmos: Handweiser für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948, 44. Jahrgang,
mit freundlicher Genehmigung des Verlages

und Stumpfsinn, der meist zum Tode führte. Diese beiden Formen des "Ignis Sacer", die gangränöse und die konvulsive, lassen sich im großen und ganzen für den Historiker nachträglich auch geographisch trennen. Die erstere wurde vorzugsweise in Frankreich beobachtet, während die zweite Art weitaus häufiger in Deutschland auftrat, und zwar nicht selten in einer etwas milderen Form, welche später unter dem Namen "Kriebelkrankheit" sehr bekannt wurde.
Das Volk, Laien wie Ärzte, pflegte das heilige Feuer in einem Atem mit den großen Seuchen, der Pest, Lepra, Cholera usw. zu nennen; allerdings hat schon sehr bald kein Zweifel mehr darüber bestanden, daß sie im Gegensatz zu den anderen Seuchen nicht ansteckend war. Man faßte sie wie die anderen Epidemien als eine Strafe des Himmels auf. In diesem Glauben wurde die leidende Menschheit noch ganz besonders dadurch bestärkt, daß das "Heilige Feuer" regelmäßig in der Folge von landwirtschaftlichen Katastrophenjahren auftrat, die sowieso schon Not und Unglück über Bauern und Städter brachten. Immer deutlicher wurde klar, daß das Aufflammen der Feuerseuche in der Folge eines kalten, schneearmen und trockenen Winters und eines darauf folgenden regenreichen, warmen Frühjahrs auftrat; und zwar wurden die ersten Massenerkrankungen regelmäßig bald nach Einbringen der Ernte des Getreides beobachtet.

Es sollte immerhin noch bis zum Ende des 17. Jahrhunderts dauern, bis die Wissenschaft, ausgehend von den eben geschilderten klimatischen und landwirtschaftlichen Beobachtungen, die wirkliche Ursache der Krankheit entdeckte. Im Jahre 1670 wurde wieder einmal die Sologne, eine der landwirtschaftlich ärmsten Provinzen Frankreichs, schwer von der Brandseuche heimgesucht. Ein dortiger Arzt, Dr. Thuilliers mit Namen, der sich an die Versuche und Beobachtungen seines Vaters entsann, welche dieser während der Epidemie von 1630 gemacht hatte, berichtete in einem ausführlichen Schreiben an die Pariser "Académie Royale des Sciences". Nach seiner Meinung bestand die Ursache der Krankheit ausschließlich in einer Vergiftung durch Getreide, welches mit dem Mutterkornpilz (Claniceps purpuren) verseucht war. Die verschiedenen Studienkommissionen von Ärzten und Botanikern, welche die Pariser Akademie mit Nachforschungen an Ort und Stelle beauftragte, konnten diese Ansicht vollauf bestätigen und in ausgedehnten Tierversuchen usw. nachprüfen. Die Folge war eine zunehmende staatliche Aufklärung der Bevölkerung und Kontrolle des Brotgetreides, sodaß schließlich im Lauf des 19. Jahrhunderts auch die letzten kleinen Seuchenherde erstickt werden konnten und die Krankheit heute, wenigstens als Massenerkrankung, völlig der Geschichte angehört.

Mit der Entdeckung der Ursache in dem giftigen Getreidepilz klärte sich nun nachträglich die merkwürdige Periodizität des Aufflammens der Seuche und ihr Gebundensein an Klima und Boden. Es zeigt sich im Lauf der botanischen Forschungen, daß der Pilz, der das Getreide - vorzugsweise den Roggen - befällt, seine Sporen am besten in trockenen Wintern über die Felder verbreitet, und daß ein darauf folgender feuchtwarmer Frühling mit wenig Sonnenlicht die ideale Vorbedingung dazu gibt, daß das Pilzgeflecht sich in den langsamer abblühenden Ähren einnisten kann. Die Ernte nach einem solchen Winter und Frühling mußte natürlich meist infolge Auswinterung usw, recht mager ausfallen. Die Bauern waren durch den nackten Hunger gezwungen, das Getreide mit allen Beimischungen, wie Unkrautsamen, Mutterkorn und brandigen Körnern zu vermählen, zumal im Mittelalter, wo sie als Hörige ihrem jeweiligen Grundherren zunächst einmal das ausgesiebte Korn erster Qualität abliefern mußten. Dazu kommt noch, daß in den Jahrhunderten vor der Einführung der Kartoffel, welche erst nach und nach ihre heutige überragende Stellung als Volksnahrung eroberte, Korn und Mehl in einem ungleich größeren Ausmaß zur täglichen Nahrung dienten, sei es als Suppe, Brei, Fladen oder Brot. Nur so erklären sich die auf den ersten Blick heute fast unglaublich anmutenden Ziffern, wie sie uns über die Opfer der Seuche überliefert sind.

Das Volk suchte in seiner Not, wie stets bei den unerklärlichen Seuchenplagen, bei den Heiligen Schutz und Heilung. Bis in die Mitte des 11. Jahrhunderts sehen wir, daß zu Zeiten einer Epidemie des heiligen Feuers eine ganze Reihe von Lokal- und Provinzheiligen angerufen wurden. Etwa seit 1050 dagegen beginnt in außerordentlicher Schnelligkeit der heilige Antonius Eremita als Schützpatron des Ignis Sacer alle anderen in den Schatten zu stellen. Zum Hauptwallfahrtsort der Kranken entwickelte sich ein bisher ganz unbekannter kleiner Ort in der Dauphiné, wo ein Kreuzfahrer die aus dem Orient heimgebrachten Gebeine des Heiligen beigesetzt hatte; er trug nach der Weihe der großen Wallfahrtskirche fortan den Namen St. Antoine en Viennois. Zur Pflege der kranken Pilger gründete eine Gruppe frommer Adliger um 1090 ein Hospital und eine Bruderschaft, die sich in den kommenden Jahren als regelrechter Mönchsorden mit dem Ziel der Caritas und Krankenpflege konstituierte. Dies war der berühmte Antoniterorden, der seine segensreiche Tätigkeit bis zum Erlöschen der großen Epidemien des Heiligen Feuers ausübte; und bald war die Krankheit so untrennbar mit dem Patron des Heiligen und der Fürsorge des Ordens verknüpft, daß man sie hinfort fast überall nur noch kurz als "Antoniusfeuer" bezeichnete.

Der Antoniterorden breitete ein Netz von Filialen, meist mit angegliederten Spitälern, über ganz Europa und den vorderen Orient aus; in seiner Hauptblütezeit bestanden bis zu 360 Niederlassungen in den verschiedensten Ländern. Die verschiedenen Ordensprovinzen

waren jeweils einem Hauptkloster, Komthurei genannt, unterstellt. Dies war während vieler Generationen für die deutsche Ordensprovinz das reiche elsässische Kloster Isenheim bei Colmar. In Isenheim selbst, einem kleinen, stillen Dorf, wird der Historiker heute nicht mehr viel von dem ungeheuren Reichtum und Glanz des mittelalterlichen Klosters finden. Kriege, Revolutionen und Brände haben fast alles vernichtet und zerstreut. Aber das Hauptwerk ist erhalten geblieben, der weltberühmte "Isenheimer Altar" von Matthias Grünewald, den dieser wohl genialste Maler aller Zeiten in den Jahren zwischen 1510 und 1515 im Auftrage des Abtes Guido Guersi schuf; er steht heute im Colmarer Unterlinden-Museum.

Detail des Isenheimer Altares

Antonius und Paulus im Gespräch,
unter ihnen die Heilpflanzen

Aus: Kosmos - Handweiser für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948, 44. Jahrgang,
mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Dieses gigantische Tafelwerk, die größte jemals geschaffene Altarmalerei, hat seit langem nicht nur die Aufmerksamkeit der Kunsthistoriker erregt, sondern auch denen, die sich mit der Geschichte der Medizin beschäftigen, eine Reihe von interessanten Aufgaben gestellt. Grünewald hat, das kann trotz der Dunkelheit, die über seinem Leben liegt, als sicher gelten, lange und tiefgehende Studien inmitten der Kranken und der pflegenden Mönche des Klosterspitals Isenheim getrieben; ein Niederschlag dieser langjährigen Beobachtungen des Malers ist die mit grauenhafter Realistik gemalte Figur des Kranken, der links im Vordergrunde der Tafel von der "Versuchung des Antonius" hockt. Die Medizinhistoriker haben dieser Gestalt eine ganze Reihe von Arbeiten gewidmet und in ihr schließlich ein synthetisches Abbild der drei großen damals grassierenden Volksseuchen, des Antoniusfeuers, der Syphilis und vielleicht der Pest erkannt (s. Abb.). Uns soll jedoch hier ein bisher nicht beachtetes Detail beschäftigen, welches sich auf dein das Pendant zur "Versuchung" bildenden Altarflügel befindet. Während das Hauptthema des ersteren die körperliche und seelische Qual ist, strahlt der entgegengesetzte Flügel eine wunderbare Ruhe und Abgeklärtheit aus. In seiner Mitte sitzen die beiden uralten Eremiten Antonius und Paulus im Gespräch über die letzten Geheimnisse des Lebens und des Glaubens, umgeben von einer phantastischen Gebirgsszenerie. Der stimmungsmäßige Gegensatz dieser beiden Bilder ist eklatant. Eigenartigerweise ist es noch nie aufgefallen, daß derselbe Kontrast zwischen Not und Heil, wie ihn die beiden Flügel im Gesamtsinn ausdrücken, auch in den Einzelheiten des Vordergrundes, eindringlich zur Schau gestellt wird: Der Kranke des linken Flügels wird durchaus pointiert einer ganzen Gruppe von Pflanzen gegenübergestellt, welche den genau entsprechenden Teil des Vordergrundes im entgegengesetzten Flügel beherrscht.

Detail des Isenheimer Altares

Die Heilpflanzen unter dem Eremit Antonius, darunter gezeichnet

Aus: Kosmos - Handweiser für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948, 44. Jahrgang,
mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Zeichnung

Plantago lanceolata.

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Verbena officinalis

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Plantago major

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Von der Annahme ausgehend, daß Grünewald in dieser Gegenüberstellung von Krankem und Pflanzen keineswegs unabsichtlich gehandelt hat, sondern mit den letzteren etwas ganz Bestimmtes, nämlich die damals gebräuchlichen Heilkräuter für das Antoniusfeuer vor Augen stellen wollte, ging ich in engster Zusammenarbeit mit dem bekanntesten Botaniker des Oberrheins, Herrn Prof. Issler in Colmar, zunächst an die Bestimmung der Pflanzen. Danach war die nächste Aufgabe, einmal einen Überblick über die therapeutischen Mittel zu gewinnen, welche in jenen Jahrhunderten bei der Bekämpfung des Ignis Sacer üblich waren.

Die Ärzte des Mittelalters bekennen sich im großen und ganzen als weitgehend ohnmächtig gegen die gefürchtete Seuche. Man ist Jahrhunderte hindurch gewöhnt, daß die Krankheit zum Tode führt oder mindestens mit dem Verlust ganzer Extremitäten einhergeht. Immerhin versuchte man doch, mit inneren und äußeren Mitteln die brennenden Schmerzen zu lindern oder dem zunehmenden Gewebstode Einhalt zu gebieten. Neben Heilmitteln aus dem mineralischen und dem Tierreich, die zu besprechen hier nicht der Ort ist (vgl. meine Monographie "Das Antoniusfeuer" in der Ciba-Zeitschrift Basel), wurden natürlich in hervorragendem Maße die diversen Heilpflanzen zur Anwendung gebracht. All die berühmten großen Kräuterbücher, Bock, Brunfels, Matthioli usw., enthalten deren eine ganze Reihe, die hier einzeln zu besprechen unmöglich ist.

Die Feststellung mag genügen, daß von den 14 verschiedenen Pflanzen, die sich auf dem Gemälde Grünewalds botanisch bestimmen lassen, 8 jeweils in mehrfacher Erwähnung in verschiedenen Kräuterbüchern der Zeit als spezifische Heilmittel gegen das Antoniusfeuer genannt werden. Die restlichen 6 Pflanzen sind jedoch ebenfalls in ausreichender Häufigkeit als Heilkräuter erwähnt, deren Gebrauch bei der Behandlung von "Brand, Wundfäule und veralteten Geschwüren" angeraten wird; ihr Indikationsbereich steht also engstens mit der ersten Gruppe in Verbindung. Nachfolgende Übersicht gibt alle Einzelheiten.

Detail des Isenheimer Altares

Die Heilpflanzen unter dem Eremit Paulus, unten quer über beide Seiten gezeichnet
[hier einzeln nacheinander dargestellt]

Aus: Kosmos - Handweiser für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948, 44. Jahrgang,
mit freundlicher Genehmigung des Verlages

Zeichnung

Lamium album

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Trifolium repens

Aus: Kosmos - Hw.
für Naturfreunde,
Heft 12, Dez. 1948.

Zeichnung

Papaver Rhoeas

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Gentiana
cruciata

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Triticum
speltha

Aus: Kosmos - Handw.
für Naturfreunde,
Heft 12, Dez. 1948.

Zeichnung

Veronica
Chamaedris

Aus: Kosmos - Hw.
für Naturfreunde,
Heft 12, Dez. 1948.

Zeichnung

Ranunculus bulbosus

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Cyperus fuscus

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Vincetoxicum officinalis

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Triticum repens

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Zeichnung

Scrophularia aquatica

Aus: Kosmos - Handweiser
für Naturfreunde,
Heft 12, Dezember 1948.

Die Annahme, Grünewald habe mit den - nebenbei botanisch sehr exakt gemalten - Pflanzen ausdrücklich die Heilkräuter für das Antoniusfeuer darstellen wollen und nicht etwa einen Naturausschnitt, wie z. B. Dürer im "Rasenstück", kann damit als bewiesen gelten. Eine zusätzliche Stütze dieser Theorie kann man noch in folgendem Umstand sehen: Sämtliche dargestellten Pflanzen kommen zwar mehr oder minder häufig wild im Oberelsaß vor, sie bilden jedoch in der Natur keine ökologische Gemeinschaft; einige davon lieben mehr einen feuchten Standort, andere trockene Schuttplätze usw. Auffallend ist hingegen die Treue, mit der sich Grünewald an das jahreszeitliche Studium hält: Während einige Pflanzen schon völlig, andere teilweise abgeblüht sind, zeigen dritte gerade den Beginn der Blütenbildung. Alle zusammen repräsentieren sie die Phase im pflanzlichen Jahresrhythmus, wie sie sich dem Beschauer etwa Mitte Juni in der oberelsässischen Rheinebene darbietet.

Es bliebe schließlich noch die eine Frage zu lösen, welche Gründe den Maler bestimmt haben, gerade diese 14 Pflanzen aus der großen Reihe der Heilkräuter auszusuchen, die zu seiner Zeit bei der Behandlung des Antoniusfeuers gebräuchlich waren; lesen wir doch allein im Kräuterbuch des Hieronymus Bock bei 34 Heilpflanzen die Indikation, sie seien wirksam gegen das heilige Feuer.

Meiner Ansicht nach ist es wohl das Nächstliegende, anzunehmen, daß gerade diese 14 Pflanzen als wesentliche Bestandteile eines Heilmittels dienten, welches ganz speziell von den Antonitern in Isenheim benutzt wurde. Leider ist vorläufig der exakte Beweis dafür nicht in aller Konsequenz zu führen; denn ein Manuskript aus dem 15. Jahrhundert, welches aus der Isenheimer Klosterbibliothek stammt und den Titel trägt: "Wie man das Antoniusfeuer heilen soll", ist vor der Durcharbeitung infolge der Wirren des letzten Krieges vorläufig verschollen. Immerhin existiert der dokumentarische Beweis, daß die Antoniter Heilmittel benutzten, deren Zusammensetzung sie geheim hielten. Eines davon war der sogenannte "Saint-Vinage", ein starker Weinessig, möglicherweise mit Kräuterzusatz, der durch die Berührung mit den Reliquien des Heiligen angeblich Wunderkräfte erhielt und den Kranken eingeflößt, resp. örtlich auf die erkrankten Glieder appliziert wurde. Sehr viel weniger bekannt als dieser Wunderessig ist der sogenannte Sankt-Antonius-Balsam. Nur wenige Dokumente des Mittelalters sprechen von ihm; er ist ein ausgesprochenes Geheimmittel der Mönche gewesen. Eine der wichtigsten Quellen, ein Dokument aus einer Filiale von Isenheim, dem Kloster Froideval bei Belfort stammend, sei hier kurz zitiert. Es ist der Bericht des Ordensreformators Franziskus Beer an den Erzherzog Ferdinand von Österreich aus dem Mai 1601, nachdem die Gegend von durchziehenden Truppen schwer geplündert worden war: "Die geweihten Gefäße, die den gesegneten Sankt-Antonius-Wein enthielten, sind beim Durchzug der Truppen Wilhelms von Châtillon 1589 gestohlen und nicht wieder ersetzt worden. Der Sankt-Antonlus-Balsam, den man in Seuchenzeiten in Froideval zu holen pflegte, ist seit sehr langer Zeit nicht mehr hergestellt worden, und selbst sein Rezept, das man geheimhielt, ist verlorengegangen."

Man kann sehr wohl annehmen, daß dieser geheimgehaltene Antoniusbalsam neben anderen Bestandteilen mineralischen oder tierischen Ursprungs die 14 Pflanzen enthielt, die Grünewald auf dem Isenheimer Altar darstellt. Die große Menge dieser pflanzlichen Ingredientien, die hier zur Verwendung kommen, darf nicht verwundern; noch bis ins 18. Jahrhundert hinein waren die ärztlichen Rezepte allgemein aus einer uns heute unglaublich anmutenden Menge von Drogen zusammengesetzt. Ein "Artzney-Buch" des Arztes Christophorus Wirsung, neu herausgegeben von Tabernaemontanus im Jahre 1575, enthält ein Rezept für einen Balsam gegen Antoniusfeuer, das folgende pflanzliche Bestandteile aufzählt: Lattichkraut, Endivien, Klapperrosen (Mohn), Seeblumen, Veilchen, Rosen, Wegerich, Hauswurz, Nachtschatten und Fenchel, also 10 Pflanzen. Ein Rezept für ein Pflaster "zu alten Schäden und zu schwärenden Wunden", welches in einem bisher unveröffentlichten Manuskript des 15. Jahrhunderts der Colmarer Stadtbibliothek enthalten ist, zählt sogar eine Reihe von 23 Pflanzen auf.

Die Pflanzen vom "Gesprächs"-Flügel des Isenheimer Altars und ihre medizinische Anwendung im Mittelalter

Pflanze Volksname Indikation Autor Zeit
Plantago major breiter Wegerich Antoniusfeuer J. v. Kube 1485
[Plantago major] [breiter Wegerich] [Antoniusfeuer] Harpesstreng vor 1244
[Plantago major] [breiter Wegerich] [Antoniusfeuer] Herbar, Mogunt 1484
Plantago lance lata Spitzwegerich Antoniusfeuer wie vorige
Papaver rhoeas Klatschmohn Antoniusfeuer Herbar. Colmar 1467
[Papaver rhoeas] Magsamen [Antoniusfeuer] Herbar. Mogunt 1484
[Papaver rhoeas] Kornrose [Antoniusfeuer] J. v. Kube 1485
Verbena officinalis Eisenkraut Antoniusfeuer Brunfels 1532
[Verbena officinalis] (Salbe-Ungt. Jovis) [Antoniusfeuer] Bock 1549
[Verbena officinalis] [(Salbe-Ungt. Jovis)] [Antoniusfeuer] A. Allard 1653
Ranunculus bulbosus knoll. Hahnenfuß Heiliges Feuer J. v. Kube 1485
[Ranunculus bulbosus] St. Antoni-Röslein Pestbeulen Mattioli-Verzascha 1678
Scrophularia aquatica Drüsenwurz Heiliges Feuer Herbar. Colmar 1467
[Scrophularia aquatica] Herba Divi Antonii "Kalte Geschwär" Bock 1549
Lamium album Taubnessel Faule Wunden J. v. Kube 1485
[Lamium album] [Taubnessel] Ignis Sacer Brunfels 1532
Triticum repens Queckengras Ignis Sacer Herbar. Mogunt 1484
Veronica chamaedrys Gamander-Ehrenpreis Faule Wunden Herbar. Colmar 1467
[Veronica chamaedrys] Donnerblümchen "zerknyste Gelider" Herbar. Mogunt 1484
[Veronica chamaedrys] Köhlerkraut ["zerknyste Gelider"] J. v. Kube 1485
Gentiana cruciata Kreuzenzian Ulcera corrosiva Herbar. Mogunt 1484
[Gentiana cruciata] St. Peterskraut Tiefe faule Wunden Tabernaemontanus 1591
Vincetoxicum officinalis Schwalbenwurz Faule Wunden Tabernaemontanus 1591
[Vincetoxicum officinalis] Lorenzkraut Pestbeulen [Tabernaemontanus] [1591]
Trifolium repens Klee Pestbubonen J. v. Kube 1485
[Trifolium repens] "Wundklee" Feigwarzen Tabernaemontanus 1577
Cyperus fuscus Cypergras Faule schwärende Wunden Herbar. Colmar 1467
[Cyperus fuscus] "Wilder Galgen" (Brunfels) [Faule schwärende Wunden] Herbar. Mogunt 1484
Triticum speltha Spelt Rote Ruhr Bock 1549
[Triticum speltha] Peterskorn Heißhunger Tabernaemontanus * 1591

Über den tatsächlichen therapeutischen Wert dieser mittelalterlichen Medikamente läßt sich natürlich nichts Gewisses aussagen. So ganz sinnlos dürften sie jedoch nicht gewesen sein. So findet man z. B. in der Reihe der Kräuter eine ganze Anzahl, die narkotische Wirkung haben und zweifellos das ihre zur Stillung der höllischen Schmerzen im Anfangsstadium der Krankheit beigetragen haben; ebenso enthalten andere Pflanzen nach modernen Analysen einen gefäßerweiternden Faktor, der sehr wohl den gefäßverengernden Giftstoffen des Mutterkorns entgegenwirken kann. Doch da die Krankheit ja inzwischen erloschen ist, hat auch ihre Therapie nur noch geschichtliches Interesse; und da ist es besonders interessant zu sehen, wie die mittelalterliche Wissenschaft, von der antiken Konzeption der Viersäftelehre und der Bezogenheit zwischen Mensch und Makrokosmos ausgehend, sowohl die Krankheit wie ihre Heilmittel aus allen Naturreichen jeweils unter einen Leitgedanken stellte, der letztlich auf uralte astralreligiöse Vorstellungen des Orients zurückgeht. So stand das Antoniusfeuer als Krankheitsphänomen zunächst einmal unter der Regentschaft des feurigen Mars, und sein Heilspatron wurde der dem melancholischen Temperament entsprechende Eremit, in dem der Erdgott Saturn schemenhaft wieder auftaucht. Alle Heilmittel, auch die pflanzlicher Natur, wurden folgerichtig aus den Gruppen des Martialischen oder des Saturnischen, genommen, je nachdem ob sie als konträres Mittel wirksam gedacht waren oder dem nicht erst von der modernen Homöopathie entdeckten Grundsatz "Similia Similibus" folgend verordnet wurden. Doch das ist ein Thema, das zu weit in die antike und mittelalterliche Religions- und Geistesgeschichte übergreift, als daß es an dieser Stelle erschöpfend behandelt werden könnte; den Interessierten verweise ich auf meine Arbeit: "Antonius Eremita und Saturn", die demnächst in der Zeitschrift "Psyche" (Heidelberg) erscheinen wird.

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1 Wolfgang Kühn, Grünewalds Isenheimer Altar als Darstellung mittelalterlicher Heilkräuter, in: Kosmos: Handweiser für Naturfreunde, Heft 12, Dezember 1948, 44. Jahrgang, 327-333, mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Zur Anmerkung Button

* Diese 14. Pflanze wird nach den Kräuterbüchern des Mittelalters nicht äußerlich, sondern als Trank, Klistier etc. gegeben; blutige Durchfälle und Heißhunger zählen zu den typischen Symptomen des Ignis Sacer. Zur Anmerkung Button