Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Ein Engel von der "falschen" Seite
- Die Verkündigung in der darstellenden Kunst
- Ein "Bauernbursche" mit hoheitsvollen Zeichen
- Segnende Hand
- Empfangen vom Heiligen Geist
- Die Maria der Verkündigung
Duccio di Buoninsegna, Verkündigung.
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Wir schreiben von links nach rechts und wir lesen in der gleichen Richtung. Von daher ist es kaum verwunderlich, dass im abendländischen Raum auch bildhafte Darstellungen von links nach rechts angelegt und dementsprechend auch genau so zu lesen sind. In aller Regel kommen handelnde Personen auf mittelalterlichen Bildwerken deshalb auch von links.
Die Verkündigung in der darstellenden Kunst
Für diese Praxis sind die Gemälde und Plastiken, welche die "Verkündigung der Geburt des Erlösers" zum Inhalt haben, ein ausgesprochen gutes Beispiel.
Es entspricht Jahrhunderte alter Tradition, die Überbringung der Botschaft an Maria so darzustellen, als dass sich der Engel der jungen Frau von links nähert. Das nebenstehende Gemälde Duccios ist nur ein Beispiel aus einer fast unübersehbaren Zahl.
Von dieser Regel wird im Mittelalter kaum einmal abgewichen. Und auch die Meister der Renaissance folgen nahezu ausnahmslos dieser uralten Bildtradition - wie das Beispiel der Verkündigung, das von Leonardo da Vinci meisterhaft in Szene gesetzt worden ist, anschaulich zeigt. Wenn Künstler damals anders darstellten, dann hatte es in aller Regel einen gewichtigen Grund.
Leonardao da Vinci, Verkündigung.
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Leonardo da Vinci - Annunciazione - Google Art Project,
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Dies gilt auch für die prominenteste Ausnahme von dieser alten Darstellungspraxis, die die Kunstgeschichte kennt: die Verkündigung auf den Tafeln des Isenheimer Altares nämlich. Hier betritt der Engel den Raum, in dem Maria ins Studium der Schrift vertieft ist, von der rechten Seite.
Den Grund dafür erkennt man deutlich, wenn man diese Verkündigungsdarstellung im Zusammenhang mit der ganzen zweiten Schauseite des Isenheimer Altares sieht. Im Zentrum, hoch über dem sogenannten "Weihnachtsbild" zeigt Meister Mathis schließlich Gott Vater in der Lichtglorie der himmlischen Herrlichkeit, umgeben von unzähligen Engeln. Von hier aus ist der Verkündigungsengel ausgegangen. Sein Auftritt von rechts ist im Zusammenhang des Bildganzen in Isenheim eine schon beinahe inhaltliche Zwangsläufigkeit.
Der Weg des Engels.
Grafik: Jörg Sieger
Darüberhinaus verknüpft Meister Mathis auf diese Weise das Bild der Verkündigung mit den übrigen Darstellungen dieser Schauseite und bindet die einzelnen Szenen so letztlich zu einem Gesamtbild zusammen.
Ein "Bauernbursche" mit hoheitsvollen Zeichen
Er ist weder lieblich, noch schön, dieser Engel, der die besinnliche Ruhe der Maria durcheinanderwirbelt. Ganz ähnlich wie beim Bildnis der jungen Frau, handelt es sich auch beim Engel eher um eine bäuerlich derbe als eine hoheitlich edle Gestalt, die Meister Mathis uns hier vor Augen führt. Der Gedanke drängt sich auf, als hätte hier irgendein x-beliebiger Bursche aus dem Elsass Modell gestanden. Sollten die Betrachter des Altares selbst den Boten Gottes als gleichsam einer der Ihren erkennen?
Verkündigung.
Dass es sich um den Boten des Allherrschers handelt, macht das kostbar goldfarbene Gewand und der purpurrote Überwurf deutlich, vor allem aber die Insignien, die er mit sich führt: das Szepter und der prachtvolle Brustschmuck.
Der Brustschmuck des Engels.
Gerade dieser Brustschmuck ist verschiedentlich Anlass für ganz eigene Deutungen und Spekulationen.
Michael Schubert etwa spricht von einem in Gold gefasstem "theurgischen" - also wundertätigen und heilenden - Brustschmuck ⋅1⋅. Wie er dazu kommt, gibt er allerdings nicht an. Solche Aussagen fußen bei ihm wohl einfach auf dem Hintergrund seiner Deutungstendenz, Grünewald und Guido Guersi immer wieder mit geheimen Botschaften, Rosenkreuzern und Kabbalah in Verbindung zu bringen.
Nicht minder spekulativ, aber recht bemerkenswert ist Emil Spaths Hinweis auf den Efod des Hohenpriesters. Er meint, hinter diesem Brustschmuck, den er wohl fälschlicherweise als edelsteinbesetzt bezeichnet, eine Nachbildung jenes Efods zu sehen. ⋅2⋅
Bei diesem Gegenstand handelt es sich - zumindest der Beschreibung im alttestamentlichen Buch Exodus nach - um ein Kleidungsstück des Hohenpriesters, das dort mit der Lostasche in einem Atemzug genannt wird ⋅3⋅. Es scheint so, als sei diese Lostasche gar an ihm befestigt gewesen zu sein. In ihr wurden wohl in der Frühzeit Israels zwei unterschiedliche Steine oder Stäbchen aufbewahrt, mittels derer der Priester ein sogenanntes Losorakel erteilen konnte. Auf eine an ihn gerichtete Frage konnte er mit Hilfe dieser Orakelsteine im Sinne eines Gottesurteiles mit "Ja" oder "Nein" antworten.
Spath sieht hier eine Anspielung auf dieses "Gottesurteil". Der Engel überbringe Maria hier schließlich Gottes unerhörtes Ja-Wort in seiner Botschaft:
"Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir."
Lukas 1,28 ⋅4⋅
Segnende Hand
Von Gott her jemandem Gutes zu sagen, das ist die Grundbedeutung des alten Wortes "segnen", wie sie im lateinischen Begriff "benedicere" - wörtlich "gut - sagen", "Gutes - zusprechen" - zum Ausdruck kommt. Im sogenannten "Ave Maria", jenem Gebet, das sich vom biblischen Verkündigungsbericht herleitet, finden sich die Kunstworte "gebenedeit" und "benedeit", die nichts anderes als lautmalerische Übertragungen des lateinischen Wortes "benedicta" - "gesegnete" darstellen.
Die Segenshand.
Diesen Segen Gottes überbringt der Engel der jungen Frau in dieser Szene. Deutlich ablesbar ist dies am sogenannten Segensgestus der rechten Hand des Gottesboten. Mit dieser Hand zeichnet er das Kreuz über die vor ihm kniende Frau.
Im Mittelalter wäre niemand auf die Idee gekommen, den Segen, wie in Gottesdiensten heute meist üblich, zwar in Kreuzform aber mit der flachen Hand über die gottesdienstliche Gemeinde zu zeichnen. Die flache Hand ist im Grunde ein nichtssagender Gestus. Der mittelalterliche Segensgestus der lateinischen Kirche hingegen war lesbare Verkündigung. Drei Finger deuten bei diesem klassischen Segensgestus nach oben, denn der Segen ergeht im Namen des Dreifaltigen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Zwei Finger deuten nach unten, denn der Segen ergeht durch Jesus Christus, der Gott und Mensch zugleich gewesen ist.
Andere Position des Ellenbogens der Maria
auf einem Röntgenbild -
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die entsprechenden Linien hervorgehoben.
© C2RMF - mit freundlicher Genehmigung
des Centre de recherche et de
restauration des musées de France
Durch Röntgenaufnahme sichtbargemachte
unterschiedliche Segenshände -
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die entsprechenden Linien hervorgehoben.
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Untersuchungen der Altartafel mit Hilfe von Röntgenstrahlen haben übrigens zu Tage gefördert, dass Meister Mathis die Hand des Engels ursprünglich anders konzipiert hatte. Sie ist in der endgültigen Bildausführung sehr viel flacher gehalten, als anfangs geplant. Dies hängt vermutlich damit zusammen, dass Maria in der ersten Konzeption mehr in der Bildmitte angesiedelt war. Die ursprüngliche Form des Ellbogens ist auf den Röntgenbildern der Tafel noch abzulesen und macht deutlich, dass die Frauengestalt anfangs darüber hinaus auch kleiner geplant gewesen war. Dies gehört zu den wenigen Korrekturen, die Meister Mathis bei der Ausführung seines Werkes vorgenommen hat.
Geheime Botschaften in den Segensgestus des Engels hineinzuinterpretieren zeugt von Unkenntnis der mittelalterlichen wie gottesdienstlichen SymbolSprache und ist völlig abwegig.
Empfangen vom Heiligen Geist
Auffallend ist der rote Überwurf, mit dem der Engel bekleidet ist. Dieser Mantel unterstreicht mit seinem mächtigen Faltenwurf die stürmische Bewegung, in der der Gottesbote den Raum betritt. Ein Zipfel ist dabei nach oben geweht und weist in der Verlängerung durch den über die Stange geschlagenen grünen Vorhang auf die Geisttaube hin, die den Glaubenssatz - "empfangen vom Heiligen Geist" - anschaulich ins Bild bringt. Der in der grünen Farbe - der Farbe der Hoffnung - gehaltene Vorhang verbindet die den Geist symbolisierende Taube mit dem Schoß der Maria und bringt zum Ausdruck, dass sie fortan "guter Hoffnung" sein wird.
Die Aufhängung der beiden Vorhänge.
Michael Schubert weist zurecht darauf hin, dass der rote Vorhang im Vordergrund an 14 Ringen befestigt ist ⋅5⋅. Diese Zahl bedeutet allerdings mehr, als einfach eine Verdoppelung der Zahl sieben, die für die Vollkommenheit steht und damit Zahl der Fülle schlechthin ist. Die Zahl 14 ist die Zahl Davids.
Im Hebräischen hat jeder Name, ja sogar jedes Wort, einen Zahlwert, der ihm zugeordnet werden kann. Das hängt ganz einfach damit zusammen, dass es in dieser Sprache keine Zahlzeichen gibt. Man verwendete, wie ja auch im Griechischen, die Buchstaben des Alphabetes, um Zahlen anzugeben. Das Wort David schreibt man im Hebräischen mit drei Buchstaben: den Konsonanten Daleth, Wau und Daleth. Da es sich - vereinfacht ausgedrückt - dabei zweimal um den vierten und einmal um den sechsten Buchstaben des Alphabetes handelt, ergibt das Wort, wenn man die einzelnen Zahlwerte addiert, die Zahl 14. Nicht umsonst umfast der Stammbaum Jesu, wie er im Matthäusevangelium angegeben wird, drei mal 14 Generationen. Damit wird deutlich gemacht, dass Jesus, der einerseits von Gott stammt, andererseits aus dem Geschlecht Davids geboren wurde.
Beim grünen Vorhang sind lediglich fünf Ringe sichtbar. Ist dies eine Anspielung auf die Zahl der Buchstaben des Davidnamens in seiner deutschen Version? Ist es ein Hinweis auf den Jesusnamen selbst, der ja auf Deutsch wie auf Latein ebenfalls fünf Buchstaben zählt? Gesichert lässt sich hier kaum etwas sagen.
Die Maria der Verkündigung
Bleibt noch ein Blick auf die Maria dieses Verkündigungsbildes. Zwei Zeichnungen des Mathis Gothart Nithard zu diesem Thema sind erhalten geblieben. Beide werden im Kupferstichkabinett in Berlin aufbewahrt. Die Darstellung der Maria im reich plissierten Gewand wird häufig mit dem Isenheimer Altar in Verbindung gebracht, obschon es keine direkte Beziehung zur Darstellung auf den Altartafeln gibt. Es könnte sich allerhöchstens um einen Alternativentwurf handeln. Datiert wird das Blatt auf die Zeit um 1510 bis 1516. ⋅6⋅
Mathis Gothart Nithart, Maria der Verkündigung
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338,
Matthias Grünewald - Virgin of the Annunciation - WGA10793,
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Mathis Gothart Nithart, Maria der Verkündigung
Lizenz: Mathias Grünewald artist QS:P170,Q154338,
Grünewald Verkündigungsmaria,
als gemeinfrei gekennzeichnet,
Details auf Wikimedia Commons
Die zweite Zeichnung - etwa in den Jahren 1512 bis 1516 entstanden - wird im Allgemeinen als direkte Vorstudie zur Colmarer Bildtafel angesehen. Im Vergleich zu diesem Blatt lassen sich in der gemalten Ausführung einige Änderungen ausmachen.
"Der rechte Ellbogen der Jungfrau ist in der Ausführung nicht mehr in den Mantel gehüllt. Vielmehr schiebt er nun den gut erkennbaren roten Mantelsaum nach hinten. Die vom übrigen Stoff farbig abgesetzte Saumkante ist auf der Zeichnung bereits als schmaler Streifen markiert, jedoch am Boden noch nicht so ornamental geschwungen geführt, wie es die endgültige Bildlösung zeigt.
Vor allem aber ist der Gesamteindruck der Figur in der gemalten Ausführung ein anderer. Aus der gedrungenen, durch den schweren Mantel mit unterschiedlich stark belichteten Falten gehüllten, ja fast darin verschwindenden Figur wurde ein im Oberkörper wesentlich gelängte, schlank aufgewachsene Frauengestalt mit einem relativ breiten, flächigen Gesicht. Schlussendlich lassen sich auch Veränderungen in der Raumverspannung feststellen. Die Truhe ist näher herangerückt, so dass auch der Saumverlauf des Mantels nun steiler und kompakter in die Höhe führt und so die Vertikalisierung der Gesamtanlage weiter unterstreicht. Das Möbel vor Maria wurde zudem in eine veränderte Position gedreht, und ein weiteres geschlossenes Buch unter das aufgeschlagene gelegt. Dieses vermittelt jetzt zwischen dem schräger liegenden Buch mit aufwehenden Seiten. Zwischen Zeichnung und Endfassung vermittelt eine im IR-Reflektogramm dieser Tafel verhältnismäßig gut sichtbare Unterzeichnung auf der Grundierung." ⋅7⋅
Weit wichtiger noch ist, dass auch die Gestalt der Maria für den mittelalterlichen Menschen wie ein offenes Buch ist. Während die verheiratete Frau stets mit Kopfbedeckung dargestellt wird, da sie ja im wahrsten Sinne des Wortes sprichwörtlich "unter die Haube" gekommen ist, ist das lange, unbedeckte Haar das Zeichen der unverheirateten Frau, was - zumindest dem Ideal nach - dann auch gleichbedeutend mit der Jungfrau war. Dass Maria auch später mit unverhülltem Haupt dargestellt wird, ist ein Hinweis auf den Glaubenssatz ihrer immerwährenden Jungfräulichkeit.
Bekleidet ist die junge Frau mit einem roten Untergewand - Sinnbild der Liebe. Aber darüber trägt sie den langen, blauen Mantel, der gleich zwei Bezüge erkennen lässt. Im Buch des Propheten Jesaja heißt es nämlich:
"Von Herzen will ich mich freuen über den Herrn. Meine Seele soll jubeln über meinen Gott. Denn er kleidet mich in Gewänder des Heils, er hüllt mich in den Mantel der Gerechtigkeit, wie ein Bräutigam sich festlich schmückt und wie eine Braut ihr Geschmeide anlegt."
Jesaja 61,10
Dieser Mantel der Gerechtigkeit aber ist in dunklem Blau gehalten, in der Farbe des Glaubens, denn - so drückt es der Apostel Paulus im Römerbrief aus:
"Gerecht gemacht aus Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn."
Römer 5,1
In diesem Glauben und aus Liebe zu Gott spricht diese Frau den Satz, mit dem sie auf das ganze Geschehen der Verkündigung antwortet :
"Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast."
Lukas 1,38
Literaturhinweise
Vergleiche etwa:
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 104-109,
Michael Schubert, Der Isenheimer Altar - Geschichte - Deutung - Hintergründe (Stuttgart 2007) 64-72.
Wichtiges Material bietet der Colmarer Katalog zur Ausstellung des Jahres 2007/08 :
Somogy éditions d'art (Hrsg.), Grünewald und der Isenheimer Altar - Ein Meisterwerk im Blick (Colmar 2007).
Anmerkungen