Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Eine Ahnenreihe?
- Heinrich Feuersteins Hinweis auf den Sermo angelicus
- Joseph Bernharts Deutungsversuch
- Emil Spaths Versuch einer Deutung
- Der Gottesbund mit Abraham
- Der Sinn der Darstellung
"Ein geheimnisvolles Dunkel liegt auch über dem Personenkreis hoch oben im Hintergrunde des kleinen Tempels, der durch eine von Engeln getragene schwebende Aureole zusammengefaßt ist. In ihrer Mitte erscheint in anbetender Haltung eine mit der Federkrone geschmückte (geflügelte?) weibliche Gestalt, die Bernhart als Sibylle, die Trägerin der Messiasidee, deutet. Ein zweites Wesen weiter hinterwärts, nur mit dem Kopf sichtbar, betrachtet Bernhart als Eva, den Typus Marias, die Mater naturae im Gegensatz zur Mater gratiae. Sie geht aber in ihren weichen Formen so eng mit dem fleischigen, nackten Rücken der ersten Figur zusammen, daß sie ohne Zwang am ehesten als eines der zahlreichen Engelswesen zu begreifen ist, die anscheinend eine tragende Aufgabe an der Schwelle der kreisförmigen Aureole vollziehen." ⋅1⋅
Heinrich Feuersteins Hinweis auf den Sermo angelicus
Rätselhafte Wesen.
Dieses Zitat aus Feuersteins Arbeit über Matthias Grünewald macht die Schwierigkeiten schon deutlich, die eine Deutung jener Figurengruppe, die sich im Halbdunkel des Baldachins gerade noch schemenhaft abzeichnet, bereitet.
Feuerstein selbst hat eine wichtige Richtung gewiesen. Er wird nicht müde, in den Visionen der Heiligen Birgitta von Schweden, literarische Vorlagen für die Darstellungen des Isenheimer Altares zu entdecken. Vor allem bei der Deutung der geheimnisvollen Frau mit der Lichtkrone unter der Pforte des steinernen Tabernakels glaubt er mit Hilfe des "Sermo angelicus" der Birgitta von Schweden den entscheidenden Schlüssel gefunden zu haben.
Hierbei findet er auch den richtungsweisenden Hinweis, der ihm die Gruppe jener schwebenden Wesen erschließt. Es heißt bei Birgitta in den Lesungen des Dienstages , dass sie in einer Vision gesehen habe, wie Adam von Gott die Versicherung erhalten hätte, Gott wolle sich herablassen und aus Adams Geschlechte selbst geboren werden. Aus einer Person, die dem Leibe nach Eva ähnlich sei, würde er Mensch werden. Dies sei Adams größter Trost nach der Verstoßung aus dem Paradies gewesen.
Und auch Abraham sei verheißen worden, dass aus seinem Geschlecht eine Jungfrau hervorgehen werde, die Gott gebären solle. Dies sei für ihn weit mehr Trost gewesen als die Verheißung der künftigen Geburt seines Sohnes.
Die Hoffnung auf die Geburt Gottes aus einem seiner Nachkommen habe Abraham seinem Sohn Isaak weitergegeben. Isaak habe sie seinem Sohn Jakob hinterlassen und der habe sie seinem Sohn Juda überliefert.
Abschließend fasst Birgitta zusammen:
"So ist also, wie zuerst den Engeln und dann dem ersten Menschen, auch nachmals den Erzvätern durch die künftige Geburt der Mutter Gottes eine große Freude gewährt worden." ⋅2⋅
Aus diesen Stellen schließt Heinrich Feuerstein, dass die schwierig zu deutende weibliche - mit einer Federkrone geschmückte? - betende Figur in dieser schwebenden Aureole im Zusammenhang des Ganzen nicht als Sibylle, sondern nur als Vorbild der Maria, also als Eva gedeutet werden könne. Er spricht von einem "Dunstkreis mit den ersten Menschen" und deutet daher die Gruppe dementsprechend. ⋅3⋅
Joseph Bernharts Deutungsversuch
[in Vorbereitung]
Emil Spaths Versuch einer Deutung
Emil Spath geht in seinem Deutungsversuch bislang am weitesten. Er glaubt die einzelnen Gestalten genau zuordnen zu können. Auch er folgt der Meinung, dass Meister Mathis mit dieser Gruppe die ersten Menschen und die Erzväter bezeichnet und deutet sie im Sinne der Vorfahren Jesu. Die Auswahl sei anhand der Ahnenlisten des Matthäus- und des Lukasevangeliums getroffen worden .
Spath geht davon aus, dass die Reihe der Vorfahren mit Adam beginnt, den er in der gelblich schimmernden Gestalt links unten sieht. Er sei der am weitesten Entfernte von Jesus. Die Farbe erinnere an den "Mann aus Lehm", an den vom Ackerboden genommenen. Dass dieser Adam geflügelt ist, will Emil Spath als Hinweis auf die "Geistseele" des Adam, verstanden wissen. Es sind die Seelen der Vorfahren, die hier erscheinen ⋅4⋅.
Die Gestalt in der Mitte deutet auch er als Eva, "Mutter aller Lebendigen". Auf ihr läge das besondere Licht, das von der Erfüllung der ihr zuteil gewordenen Verheißung herrühre. Nachdem sich der Mensch im Paradiesesgarten von Gott abgewandt hatte - die Bibel erzählt es im Bild der Schlange, die den Menschen verführt habe -, wird davon erzählt, dass Gott die Schlange verfluchte. Er tut dies mit einem rätselhaften Satz:
"Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens. Feindschaft setze ich zwischen dich und die Frau, zwischen deinen Nachwuchs und ihren Nachwuchs. Er trifft dich am Kopf, und du triffst ihn an der Ferse."
(Genesis 3,14-15)
Die Nachkommenschaft, die der Schlange den Kopf zertreten wird, wurde christlicherseits schon seit jeher auf Jesus Christus gedeutet, dessen Geburt demnach bereits vom Anbeginn der Menschheit an verheißen worden sei. Seine Menschwerdung löst Gottes alte Zusage nun ein.
Schwer zu deuten ist der Kopfschmuck, den Eva trägt. Ist es einfach eine Haube, die die Mutter aller Lebendigen kennzeichnet? Emil Spath glaubt in dieser Kopfbedeckung eine Art Schutzwehr sehen zu können. Während der Nachkomme Evas die Schlange am Kopf träfe, trifft die Schlange nur an der Ferse. Die Schutzwehr Evas deute an, dass jene "nicht den Kopf alles vernichtend treffen" werde ⋅5⋅.
Beim Klick ins Bild werden die Deutungen Emil Spaths eingeblendet.
Emil Spath glaubt auch die übrigen Gestalten deuten zu können. Das wurzelartige Dreiergebilde vor Adam identifiziert er mit Set, dem dritten Sohn Adams und Evas, den Lukas an vorletzter Stelle in der Ahnenreihe Christi nennt. "Set" bedeutet "Setzling", was nach Spath diese wurzelartige Darstellung erklären würde.
Unmittelbar unter Eva entdeckt Spath Sara und Isaak, die Frau Abrahams mit dem verheißenen Sohn. Sara ist - gemäß biblischem Bericht - bis ins hohe Alter kinderlos geblieben. Sie habe ihren Mann deshalb dazu gedrängt, mit ihrer Magd Hagar ein Kind zu zeugen: Ismael. Nachdem Gott Sara dennoch einen eigenen Sohn geschenkt hat, vertrieb sie die Magd mit ihrem Kind - deutet dies der stachelartige Schweif der Sara gegen die hinter Eva schwebende Gestalt an? Nichtsdestoweniger haben auch Hagar und Ismael ihren Platz in der Heilsgeschichte:
"... auch den Sohn der Magd will ich zu einem großen Volk machen, weil auch er dein [Abrahams] Nachkomme ist"
(Genesis 21,13)
So möchte Emil Spath Hagar in der Gestalt hinter Eva sehen. Ihren Sohn glaubt er in dem schemenhaft unter ihr angedeuteten Gesicht entdecken zu können.
"Gott war mit dem Knaben. Er wuchs heran, ließ sich in der Wüste nieder und wurde ein Bogenschütze."
(Genesis 21,20)
heißt es im biblischen Bericht. Unter dem als Ismael identifizierten Gesicht lehnt etwas an dem von gelbem Licht beschienenen mauerartigen Gebilde - oben eine menschengebaute, unten eine ausgebrochene-steinerne Höhlenwand. Emil Spath deutet an, dass man in dem daran angelehnten Gebilde eine stilisierte Armbrust sehen könnte - ein Hinweis auf den Bogenschützen Ismael? ⋅6⋅
Zurück zu Sara. Sie wird betend dargestellt, was nach Emil Spath ihren Glauben bezeichnet.
"Aufgrund des Glaubens empfing Sara die Kraft, trotz ihres Alters noch Mutter zu werden; denn sie hielt den für treu, der die Verheißung gegeben hatte."
(Hebräerbrief 11,11)
Und auch der vor ihr dargestellte Sohn, hat die Hände ineinandergelegt: Hinweis darauf, dass er - in Anspielung auf den Bericht von der Opferung Isaaks in Genesis 22 -
"betend bereit war, sich opfern zu lassen." ⋅7⋅
Vor ihm sei - rötlich schimmernd - Rebekka, seine Frau, dargestellt, die eine Haarsträhne nach hinten um den Hals geschlungen habe - nach Spath Ausdruck ihrer Falschheit. Esau, dessen Name nach biblischer Deutung auch "der Rote" bedeutet, sei über ihr zu sehen und Jakob, wie versteckt, hinter ihr. Er musste ja vor seinem Bruder fliehen, nachdem er den Segen seines Vaters mit Hilfe seiner Mutter erschlichen hatte.
Lea, eine der beiden Frauen Jakobs, sieht Emil Spath oberhalb Evas dargestellt, so dass die drei großen Stammfrauen - Sara, Eva und Lea - in einer Reihe abgebildet sind. Ihr Sohn Ruben sei über ihr gerade noch zu sehen. Er hatte durch eine Inzesttat gleichsam "sein Gesicht verloren". Der Zweit- und der drittgeborene, Simeon und Levi, seien direkt vor Lea zu sehen - auch sie dunkel gehalten. Um ihre geschändete Schwester zu rächen hatten sie heimtückisch gemordet. Hell strahlend - unmittelbar vor Eva dargestellt - sei lediglich ihr vierter Sohn, Juda, zu erblicken, der der Stammvater des Messias wurde ⋅8⋅.
Bleiben noch zwei Gestalten, die Spath zu deuten versucht. Zum einen bleibt die junge Frau unter den von ihm als Sara und Eva identifizierten Figuren. Schwebend im gelben Licht und wie in einem Kleid aus Ähren sei hier die Moabiterin Rut, die Frau des Boas, die auf dem Feld die Ähren aufgelesen habe und Stammmutter Davids und damit des Messias geworden ist, dargestellt. Und allen voran - kaum sichtbar entschwebend mit einer langen Schleppe - glaubt er die kanaanitische Rahab zu entdecken ⋅9⋅. Diese Dirne aus Jericho zum Zeitpunkt des Einzugs der Israeliten ins Land Kanaan wird nämlich im Stammbaum Jesu, wie ihn das Matthäus-Evangeliums überliefert, als Mutter des Boas genannt und darüber hinaus im Hebräerbrief erwähnt:
"Aufgrund des Glaubens kam die Dirne Rahab nicht zusammen mit den Ungehorsamen um; denn sie hatte die Kundschafter in Frieden aufgenommen."
(Hebräerbrief 11,31)
Wenn dieser Erklärungsversuch manchen auch recht abenteuerlich und weit hergeholt scheint und es ab und an verwundert, mit welcher Sicherheit Spath seine Argumente vertritt, so handelt es sich insgesamt nichtsdestoweniger um den ersten umfassenden Versuch, die Ahnenreihe in ihrer Gesamtheit zu deuten.
Der Gottesbund mit Abraham
Der Bund Gottes mit Abraham.
Diese Ahnenreihe ist aber nicht komplett. Ihr wichtigster Vertreter fehlt. Er ist dargestellt im Giebelfeld der Pforte, durch die die schwangere Frau hindurchschreitet.
Man sieht einen bärtiger Mann auf einem Thron, der einen vor ihm knienden, ebenfalls bärtigen Mann zu segnen scheint. Georg Scheja meint im Thronenden den Heiligen Antonius zu erkennen, von dem der Auftraggeber des Altares, der Präceptor Guido Guersi, den Segen für sein Werk erfleht ⋅10⋅. Joseph Bernhart deutete dieses Szene als Abraham bei Melchisedek (Genesis 14,18). Dies aber ist nur schwer möglich. Alle Abzeichen des Priesters und des Königs fehlen hier, wie Heinrich Feuerstein betont. Er sieht im Giebelfeld "die Altväter" dargestellt ⋅11⋅.
Emil Spaths Deutung geht in eine etwas andere Richtung: Hier, an der Nahtstelle von Altem und Neuem Bund, sei Abraham gezeigt, dem Gott in seinem Bund die Verheißung der Nachkommenschaft gab. Diese Verheißung findet nach christlicher Überzeugung in dem Nachkommen, in Jesus Christus, die Erfüllung schlechthin ⋅12⋅.
Den Visionen Birgittas von Schweden entsprechend wurde ihm dieses Geheimnis gar schon enthüllt. Und die Verheißung der Jungfrau aus der der Erlöser hervorgehen sollte, war für ihn - nach Birgitta - mehr Trost als die Ankündigung seines eigenen Sohnes .
Der Sinn der Darstellung
Darin scheint letztlich der Sinn der ganzen Darstellung zu liegen: Es ist die Menschheit im Advent, die Menschheit, die auf die Erlösung durch Gott selbst wartet.
In der Ahnenreihe des Messias werden die dargestellten Figuren als Typus der ganzen Menschheit gezeigt. Ganz unabhängig davon, ob und wie man die einzelnen Gestalten genau zu deuten vermag - ganz unabhängig davon, ob lediglich Eva als Vertreterin der ganzen Menschheit von Engeln begleitet oder jede einzelne Figur eine mehr oder minder klar zu deutende Person dieser Vorfahren des Messias darstellen soll - die Menschheit erscheint unter dem Baldachin des Isenheimer Altares mit all ihrer Sehnsucht und gleichzeitig in überschwänglicher Freude zum Himmel hinaufgewandt, der sich durch die Herabkunft des Erlösers gerade zu öffnen begonnen hat.
Literaturhinweise
Einen eigenen Deutungsversuch, aber auch einen Überblick über bisherige Versuche bietet:
Heinrich Feuerstein, Matthias Grünewald (Bonn 1930) 93-94.
In Anlehnung an Feuerstein:
Wilhelm Nyssen, Choral des Glaubens - Meditationen zum Isenheimer Altar (Freiburg 1984) 33.
Vergleiche darüber hinaus:
Georg Scheja, Der Isenheimer Altar (Köln 1969) 55.
Die umfassendsten - wenn auch mit die umstrittensten - Erklärungen finden sich bei:
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 49, 53, 114-115.
Anmerkungen