Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


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Öffnete man die Flügel mit dem Bild des Gekreuzigten, verwandelte sich der Altar. Das düster, bedrohlich wirkende Kreuzigungsbild wich einem Rausch der Farben.

Neben der Grablegung, die vom geschlossenen Altar erhalten blieb, erkannte der damalige Betrachter sofort die Darstellung der Verkündigung, die Mutter mit dem neugeborenen Kind - ein Weihnachtsthema - und den auferstandenen Herrn. Wichtige Eckdaten der Geschichte Gottes mit dem Menschen wurden dem Betracht hier vor Augen geführt. In diesen Bildern konnten Menschen vor allem eines finden: Antwort auf die Frage nach dem "Warum?". Warum soll ich auf Christus schauen? Warum kann ich mein Leiden annehmen? Was für eine Hoffnung soll es noch geben, angesichts des grausamen Leidens und des Todes, den die Darstellung der "Beweinung Christi" in der Predella auch in diese farbenprächtige Ansicht des Altares hineinträgt?

Die Verkündigung - Gott selbst greift ein

Den Anfang macht der - vom Betrachter aus gesehen - linke Flügel. Auf der Rückseite dieser Tafel ist beim geschlossenen Altar die Mutter Jesu unter dem Kreuz zu sehen. Der geöffnete Flügel zeigt den Beginn der Geschichte: die junge Frau aus Nazareth, deren Lebensplanung von Gott durchkreuzt wird.

Vorbild für diese Darstellung ist der biblische Bericht  von der Verkündigung, wie er sich im Lukas-Evangelium findet . Aber hier wird nicht einfach ein biblischer Bericht illustriert. Meister Mathis "übersetzt" die Geschichte, wie alle mittelalterlichen Maler vor ihm. Das Bild ist gleichsam eine Predigt über die Bibelstelle.

Es beginnt schon damit, dass das Geschehen der Verkündigung "verlegt" wird. Das ist ja kein Haus in Nazaret, das hier gezeigt wird. Die Botschaft des Engels erreicht Maria in einem Kirchenraum, oder - um es genauer zu sagen - in einer Sakristei: dem Raum, in dem die Vorbereitungen für den Gottesdienst getroffen und die liturgischen Bücher und Geräte aufbewahrt werden. Der Ort des Geschehens ähnelt schon von daher dem Lebensraum der Antoniter und auch der Kranken, die im Spital Aufnahme gefunden hatten. 

Alles in diesem Raum ist symbolbeladen, angefangen vom zugemauerten Fenster, bis hin zu den Gewölberippen und den gemalten Medaillons. Mancher Bedeutungshorizont lässt sich nur noch erahnen. Vieles, wie etwa die Gestalt am linken, oberen Bildrand bleibt rätselhaft. Ist hier Jesaja dargestellt, der seine Prophezeiung in Erfüllung gehen sieht?

Ganz klar scheint nur zu sein, dass alles, was hier dargestellt wird, nicht in einer fernen Vergangenheit seinen Platz hat. Denn noch ein weiteres Detail verdeutlichte dem Betrachter, dass dieses Geschehen hier und heute stattfindet. Es waren die auf dem Bild zu sehenden Vorhänge, die der Kranke sehr gut kannte. Im Antoniterspital waren die Nischen, in denen die Betten standen, mit solchen Vorhängen abgetrennt. Meister Mathis malt die Verkündigung der Geburt Christi, als würde der Engel hier mitten in den Krankensaal hineinplatzen...

Auch die Maria, die Meister Mathis dabei abbildet, unterstreicht die Vergegenwärtigung. Diese Maria ist keine Schönheit, keine Dame von hohem Stand. Sie ist eine einfache Frau, so wie sie dem damaligen Betrachter des Bildes jederzeit über den Weg hätte laufen können. Hat ein Bauernmädchen aus dem Elsass Meister Mathis Modell gestanden?

Detail des Isenheimer Altares

Maria und der Engel der Verkündigung.

Vor Maria liegen zwei Bücher . Eines ist - noch - geschlossen. Ein Hinweis auf das Neue Testament, das gerade erst seinen Anfang nimmt? Aufgeschlagen liegt das Alte Testament vor ihr; genauer: die Stelle aus dem Buch des Propheten Jesaja:

"Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel (Gott mit uns) geben. Er wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen." (Jesaja 7,14-15)

Und genau diese alte Prophezeiung geht nun in Erfüllung. Ein Engel bricht ins Leben der jungen Frau ein und verkündet ihr, dass sie Gottes Sohn empfangen soll .

Von Begeisterung ist bei Maria wenig zu spüren. Skepsis bis Erschrecken zeigt Ihre Haltung an. Aber die Hände verdeutlichen auch auf diesem Bild, dass sie sich - ohne wirklich zu verstehen - dazu durchringt, "Ja" zu sagen. Sie legt die Hände ineinander - hier mehr betend, aber nicht minder annehmend, als auf dem Bild unter dem Kreuz.

"Mir geschehe, wie du es gesagt hast."
Lukas 1,38

überliefert das Evangelium ihre Antwort.

Und es geschieht! Das verdeutlichen die Vorhänge, die der Kranke aus dem Krankensaal kennt; und allem voran derjenige, der nicht in der üblichen Farbe gehalten ist. Der vordere Vorhang ist so dargestellt, wie es der Spitalinsasse gewohnt war: rot nämlich - in der Farbe der Märtyrer der Liebe Gottes. Die Farbe des hinteren Vorhangs ändert Meister Mathis aber offenbar bewusst. Er ist grün: die Farbe der Hoffnung.

Ein Ende dieses Vorhanges ist dabei über die Stange hochgeschlagen, so dass derselbe gleichsam eine Verbindungslinie zieht zwischen dem Bauch der Frau und der Taube, die - kaum sichtbar - über dem Vorhang schwebt.

"... und sie empfing vom Heiligen Geist."

beten Christen seit Menschengedenken. Die Verkündigungsdarstellung des Isenheimer Altares bringt dies ins Bild.

Aber sie tut noch mehr: Sie sagt dem Betrachter, dass Gott auch jetzt ins Leben von Menschen und auch in mein Leben einbricht, Lebensplanungen durchkreuzt und Ziele aufzeigt, deren Sinn ich oft nicht verstehe. Ich kann mich zwar dagegen sträuben und auflehnen. Am Beispiel Marias zeigen der Maler und die Antoniter von Isenheim aber, dass es lohnt, sich auf Gott einzulassen. Aufbauend auf das "Ja"-Wort einer einfachen Frau beginnt Gott einen neuen Abschnitt seiner Heilsgeschichte mit den Menschen.

"Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast."
Lukas 1,38

Wenn der Himmel Weihnachten feiert...

Ein ganz anderer Raum ist es, in dem das Geschehen seine Fortsetzung findet. Auch wenn sie im Lettner des Breisacher Münsters ein reales Vorbild hat, erscheint die Architektur, die hier auf der nächsten Tafel des Isenheimer Altares dargestellt ist, schon durch die Farben und Materialien, die Meister Mathis hier abbildet, unwirklich. Ein erster Hinweis darauf, dass hier eine Szene geschildert wird, die mit unseren Augen normalerweise nicht zu sehen wäre.

Wir blicken in die himmlische Wirklichkeit, in der selbst die Architektur mit Leben erfüllt ist. Die aus der Gotik bekannten Figuren an Säulen und Fialen leben hier. Zwei der dargestellten Propheten sind sogar in einer regelrechten Diskussion vertieft. Sie disputieren wie mittelalterliche Gelehrte über ihre Verheißungen, die nun in Erfüllung gehen.

Unter dem Baldachin tummelt sich ein wahrhaft himmlischer Reigen, mit einer Fülle von Figuren. Allen voran drei große musizierende Engel.

Spätestens auf den zweiten Blick muss auffallen, dass so wie hier diese Instrumente gespielt werden, kaum ein Ton zu hören sein dürfte. Bei dieser Haltung der Bogen ist es nahezu unmöglich wirklichen Druck auf die Saiten zu bringen. Himmlische Musik ist es, die hier erklingt; eine Musik, die mit unseren Ohren nicht zu hören ist.

Viele der Figuren sind in ihrer Bedeutung nicht mehr eindeutig zu erheben - insbesondere die rätselhafte Gruppe, die sich schemenhaft im Dunkel unter dem Baldachin abzeichnet . Nichtsdestoweniger ist klar, dass hier ein gewaltiges Fest im Gange ist. Es ist der himmlische Jubel über die Menschwerdung des Gottessohnes.

Die himmlische Dimension dieser Menschwerdung wird durch die eigenartige Lichtgestalt verdeutlicht, die unter dem Tor des Baldachins steht und es bereits durchschreitet. Es ist Maria, die nach alter Überzeugung von Anbeginn der Zeit dazu ausersehen war, die Mutter des Erlösers zu werden. Nun macht sie sich auf den Weg, Gottes Sohn zur Erde zu tragen. Das Glasgefäß zu ihren Füßen mit dem kostbaren Chrisam könnte Hinweis auf Christus, den Gesalbten sein.

Detail des Isenheimer Altares

Die sogenannte "Engelsmusik".

Diesseits des Vorhangs

Detail des Isenheimer Altares

Die Mutter mit dem Kind.

All dies bleibt allerdings unseren Blicken entzogen. Ein Vorhang teilt das Bild und verbirgt das himmlische Geschehen. Es ist der dritte Vorhang, der auf den Tafeln der zweiten Wandlung dargestellt ist. Nach dem roten und dem grünen, die auf dem Verkündigungsbild zu sehen waren, ist es nun ein blauer Vorhang, der uns Menschen am Blick in den Himmel hindert. Es ist die Farbe des Glaubens, die Meister Mathis hier wählt, denn alles, was jenseits dieses Vorhanges sich ereignet, ist lediglich für den glaubenden Menschen zu fassen. Diesseits ist einzig eine Mutter mit ihrem Kind zu sehen, die zunächst einmal nichts Außergewöhnliches an sich hat.

Und wieder verdeutlicht das Bild, dass das Geschehen mit dem Betrachter zu tun hat. Meister Mathis verlegt Weihnachten in die Heimat der Menschen, die im Isenheimer Antoniter­spital lebten. Es ist eine Elsasslandschaft, die vor uns entfaltet wird.

Auch das Bett für den Sprößling ist vertraut. Ein hellrotes Band ist über das Kissen des Stammhalters gespannt, so wie man früher im oberen Elsass ein solches Band über das Taufkissen heftete als Glückszeichen, wenn das Kind  zur Taufe in die Kirche getragen wurde.

Der Badezuber und der Nachttopf verdeutlichen weiter, dass Jesus wirklich ein "Menschenkind" mit all seinen Bedürfnissen ist - kein Halbgott, "wahrer Mensch" ist er geworden.

Darüber hinaus sind eine Fülle weiterer symbolischer Bezüge in diesem Bild zu finden. Hinter Maria wächst eine Rose ohne Dornen. Das Kirchengebäude im Hintergrund - hat es das Kloster Rupertsberg bei Bingen zum Vorbild? - birgt Anspielungen auf die konkret sichtbare Gestalt der Kirche. Und Maria sitzt in einem Garten, der verschlossen ist. Denn "verschlossen war das Tor, bis der Heiland trat hervor", wie es in einem alten Adventslied heißt.

Detail des Isenheimer Altares

Gott Vater auf dem Thron

Detail des Isenheimer Altares

Die Mutter mit dem Kind

Die Mutter hält ihr Kind auf dem Arm und hat es in eine Windel gehüllt. Diese aber ist von ganz eigener Art. Im Gegensatz zu ihrem eigenen Gewand ist dieses Tuch völlig zerschlissen. Der Betrachter des Altares hat diese "Windel" schon einmal gesehen. Es ist ein Stück Stoff, das er vom geschlossenen Altar her kennt: Das Lendentuch, das dort der tote Christus am Kreuz trägt. Wider alle falsche Rührseligkeit, die unser Weihnachtsfest gemeinhin an sich hat, macht Meister Mathis durch dieses Detail ganz deutlich, dass das süße Christkind der gleiche Christus ist, der am Kreuz starb.

Alles überragt aber in hellem Lichtschein erstrahlend, hoch über den Wolken thronend, Gott Vater, von dem alle Initiative ausgeht. Er hat die Fäden - für den Menschen nur zu erahnen - in der Hand. Von ihm aus führt die Linie zum Engel der Verkündigung. Er sendet die Boten, die im Hintergrund den Hirten verkünden . Und er ist es auch, der dem ganzen Geschehen seinen Sinn gibt.

Die Geschichte des Kindes, die nach der Kreuzigung in der Grablegung und Beweinung ein tragisches und nach menschlichem Ermessen sinnloses Ende findet, geht nämlich weiter. Wenn wir der Linie des toten Körpers Christi, wie sie uns in der Predella des Isenheimer Altares gezeigt wird, folgen, findet die Komposition ihre Fortsetzung und ihren sinnstiftenden Abschluss im Osterbild.

Verklärung, Auferstehung und Himmelfahrt

Detail des Isenheimer Altares

Die Auferstehung.

Rechts unten am Bildrand sieht man einen Baumstumpf. Er ist abgesägt. Kein Leben mehr, alles ist zu Ende. So empfinden die Jünger Jesu, nachdem der Meister getötet war, so empfinden die Kranken im Spital, angesichts des für viele unabwendbaren Todes.

Eine grausame Parallele findet dieser abgesägte Baumstumpf in den amputierten Gliedmaßen der am Antoniusfeuer erkrankten Menschen.

In diese Situation hinein verkündet der Altar das Unglaubliche. Nichts ist zu Ende. Das Leben bricht sich seine Bahn. Gott selbst greift ein und holt den toten Sohn aus dem Grab. Mit ungeheurer Lichtwucht schildert Meister Mathis hier gleich drei Ereignisse auf einmal. Es ist nicht nur die Auferstehung, es ist zugleich die Verklärung und auch die Himmelfahrt Christi, die der Künstler hier in einem Bild zusammenbringt.

Auferstehungsbilder gibt es übrigens ganz wenige. Den Auferstandenen hat man häufig ins Bild gebracht, der Vorgang der Auferstehung aber wurde kaum einmal gemalt. Bei der Auferstehung war schließlich auch niemand zugegen. Keiner hat sie bemerkt. Erst am Morgen finden, gemäß biblischem Bericht, die Frauen und die Jünger das leere Grab. Die Überwindung des Todes geschah von allen unbemerkt.

So stellt es auch Meister Mathis dar. Die Soldaten, die das Grab eigentlich bewachen sollen, können den Vorgang der Auferweckung nicht beobachten. Geblendet stürzen sie zu Boden.

Aber uns stellt er das Geschehen vor Augen. Durch das Bild hindurch scheint die ganze Dynamik dieses Vorganges greifbar. Ein Felsen - auf einer Seite spitz zulaufend - scheint gleichsam in den Boden gerammt worden zu sein, so gewaltig ist das Ereignis, wenn der Tod seine Macht verliert. Das Grabtuch leuchtet in allen erdenklichen Farben und kündet vom Ostersieg Christi, in den wir Menschen mit hineingenommen sind.

Auch hier geht es nicht um ein Geschehen aus ferner Vergangenheit. Die Konturen des Antlitzes Christi verschwimmen, damit sie durchsichtig werden für jedes menschliche Gesicht. Der Lebens- und Leidensweg Christi, den uns der Isenheimer Altar vorstellt, ist der Weg eines jeden Menschen. Kein Mensch ist vor Leid und Tod sicher. Aber kein Leid und kein Tod ist endgültig. Kein Leben verliert sich in der Sinnlosigkeit. Gott selbst will jeden Menschen mit hineinnehmen in die neue Dimension des Lebens, in die uns Jesus Christus bereits vorausgegangen ist.

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[] = In Vorbereitung.

 

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