Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Die Viersäftelehre
von Uschi Schedlik
Die "Viersäftelehre", die sogenannte "Humoralpathologie", eine der Grundlagen der mittelalterlichen Medizin überhaupt, geht auf den aus Pergamon stammenden Arzt Galen zurück und war vom 2. bis wenigstens zum 17. Jahrhundert bestimmend. ⋅1⋅
Grundzüge der "Humoralpathologie"
Diese Lehre geht aus von der in der griechischen Antike üblichen Unterscheidung der "vier Elemente" Luft, Feuer, Erde und Wasser. Ihnen ordnete man ganz eigene Qualitäten zu. Luft galt als heiß und feucht, Feuer als heiß und trocken, Erde war kalt und trocken, während Wasser als kalt und feucht angesehen wurde. Aber damit nicht genug: In der antiken Medizin wurde den vier Elementen je ein Organ und auch ein entsprechender Körpersaft zugeordnet. Der Luft entsprach das Herz mit dem Blut, das heiße und feuchte Qualität hatte. Dem Feuer mit seiner heißen und trockenen Eigenschaft ordnete man die Leber mit der gelben Galle zu. Kalt und trocken entsprach der Milz und der schwarzen Galle und somit der Erde, während Wasser für das Gehirn stand und Schleim bzw. Rotz zugeordnet war - kalt und feucht.
Die Viersäftelehre besagt nun, dass ein Mensch gesund ist, wenn im menschlichen Körper ein Gleichgewicht der vier Säfte besteht. Verliert der Körper die Harmonie der Säfte würde der Mensch krank. Aufgabe der Medizin sei es dann, durch die Verabreichung bestimmter Arzneien, das Gleichgewicht der Körpersäfte wieder herzustellen. Man unterschied dementsprechend wärmende und befeuchtende, wärmende und trocknende, sowie kühlende und befeuchtende beziehungsweise kühlende und trocknende Arzneien.
Nur am Rande sei bemerkt, dass neben der Humoral-Pathologie auch die persönlichen Charaktereigenschaften des Patienten, die durch die vier Temperamente - "Sanguiniker", "Choleriker", "Melancholiker" und "Phlegmatiker" - beschrieben wurden, eine Rolle für die Therapie spielten, die somit für jeden einzelnen Fall wieder anders aussehen konnte. ⋅2⋅
Das Antoniusfeuer im Lichte der Viersäftelehre
Dioskurides mit "Botanikern aller Zeiten"
über eine Pflanze disputierend.
Lizenz: Bayerische Staatsbibliothek München -
Cuba, Johannes von / Breydenbach, Bernhard von,
Gart der Gesundheit, Ulm, 1487.03.31.
[BSB-Ink W-96 - GW M09746],
zugeschnitten von Jörg Sieger, CC BY-NC-SA 4.0
In Bezug auf das Antoniusfeuer - der Name "Feuer" lässt schon darauf schließen - war es angezeigt, Arzneien zu geben, von denen man ausging, dass sie kühlend wirken. ⋅3⋅
Gemäß der Theorie, dass die Pflanzen, die Meister Mathis gemalt hat, mit der Therapie des Antoniusfeuers zu tun haben, müssten dementsprechend vor allem kühlend wirkende Kräuter dargestellt sein. Überprüft man die dargestellten Pflanzen jedoch auf ihre Primärqualitäten, fällt auf, dass nicht alle von gleicher Natur sind: Neben kühlenden sind auch wärmende Kräuter abgebildet.
Dies könnte damit erklärt werden, dass bei der Behandlung des Antoniusfeuers die Wirkung stark kühlender Pflanzen durch die Zugabe wärmender abgemildert wurde. Nach der Viersäftelehre war solch ein Vorgehen durchaus üblich. Ohne jedoch eine Rezeptur der entsprechenden Arzneien vorliegen zu haben, aus der hervorginge, dass die kühlenden Komponenten dabei immer noch die "Mehrheit" bildeten, dürfte dies nicht nachzuweisen sein.
Dagegen spricht allerdings, dass bei den wenigsten Pflanzen auf dem Altarbild - so wie sie heute identifiziert werden können - eine kühlende Wirkung beschrieben wird.
Betrachtet man den Verlauf des Antoniusfeuers stellt man aber fest, dass sich die Symptome während der Krankheit verändern. Anfängliche Durchblutungsstörungen mit Taubheitsgefühl und Kribbeln entwickeln sich zu extrem starken Gefäßverengungen, die bis zum völligen Stillstandes des Blutflusses die Glieder langsam absterben lassen. Unerträgliche brennende Schmerzen mussten die Kranken dabei ertragen. ⋅4⋅
Im Endstadium der Krankheit aber befiel den Kranken eine unerträgliche Kälte, der sogenannte "Kalte Brand" der mit dem Schwarzwerden des betroffenen Gliedes einherging. Eine völlige Gefühllosigkeit des entsprechenden Körperteils war die Folge, bis es dann - ganz schwarz geworden und abgestorben - abfiel oder amputiert wurde. ⋅5⋅
Nun könnte man daraus schließen, dass den Kranken während des Endstadium der Krankheit Pflanzen mit wärmenden Eigenschaften verabreicht wurde, um ihnen diese unerträgliche Kälte zu lindern. Betrachtet man aber die Wirkung der Pflanzen genauer, wie beispielsweise die des Ehrenpreises, der - wie im "Macer floridus" beschrieben - blutverdünnend wirkt, wird deutlich, dass man so pauschal nicht urteilen kann.
Bei der Darstellung der Aufnahmepraxis ins Spital wurde schon deutlich, dass die am Antoniusfeuer Erkrankten erst zu einem sehr späten Zeitpunkt der Krankheit in ein Antoniterspital gebracht wurden. Nach den Statuten des Ordens war die Aufnahme der Kranken in das Spital gleichbedeutend mit der Aufnahme in den Orden und zwar für den Rest des Lebens. Mit Emil Spath können wir davon ausgehen, dass viele Kranke sich bald nach ihrer Ankunft ins Spital die Amputation ihrer Gliedmaßen über sich ergehen lassen mussten. ⋅6⋅
Es scheint mehr als unwahrscheinlich, dass die Antoniter im Umfeld einer Amputation eine Arznei versehen mit Ehrenpreis und seinen wärmenden, das Blut verdünnenden Eigenschaften, anwendeten. Die Stillung der Blutung war schließlich bei der Abnahme von Gliedmaßen das eigentliche Problem, zumal das Abbinden und Vernähen der Blutgefäße erst viel später von Ambroise Paré (1510-1590) entwickelt wurde ⋅7⋅.
Damit stellt sich die Frage, wann die Antoniter die wärmenden Pflanzen anwandten, die unter dem Heiligen Paulus dargestellt worden waren. Wurden sie überhaupt verwendet? Kamen Kranken doch schon eher ins Spital? Aber auch dann, macht eine Verabreichung dieser Kräuter nur bedingt Sinn. Während der vorausgehenden, sogenannten "heißen" Phase des Antoniusfeuers würde die Gabe wärmender Substanzen den Prinzipien der Viersäftelehre völlig wiedersprechen.
Nur im früheren Stadium der Krankheit, das gekennzeichnet ist von Durchblutungsstörungen in den betroffenen Gliedmaßen scheint eine Behandlung mit wärmenden, durchblutungsfördernden und blutverdünnenden Mitteln sinnvoll. Zu dieser Zeit waren Kranke aber noch kaum in den Spitälern untergebracht. Fanden die fraglichen Pflanzen in Arzneien Verwendung, die man auf den Bettelfahrten in den Städten und Dörfern außerhalb der Niederlassungen verkaufte? Waren sie gleichsam für die häusliche Pflege Kranker im Frühstadium gedacht?
Wie ist es mit den Äußerungen Paul Oberholzers, wenn er schreibt:
"Die Dauer der Hospitalisierung war unterschiedlich. Eine Amputation erforderte einen Aufenthalt von zwei bis drei Monaten. Neben Gebrechlichen konnten sich wohlhabende Bürger im Spital eine Pfründe erstehen und dort ihren Lebensabend verbringen." ⋅8⋅
Haben möglicherweise reichere Kranke auch mit leichteren Symptomen eine Behandlung bei den Antonitern erkauft? Ist der Idealzustand, den Spath schildert, zur Zeit der Entstehung des Altares einer schon längst anders gelagerten Realität gewichen? Oberholzer schreibt im Blick auf die Untersuchungen von Elisabeth Clémentz:
"Interessant bleibt hingegen die Frage, inwiefern die Ordensherren ihrer ursprünglichen rein caritativen Berufung im Laufe des Spätmittelalters und der Neuzeit gerecht wurden. Die Beantwortung dieser Frage machte sich die Autorin zu einer Hauptaufgabe - ein Wagnis, wie sie selber schreibt, da die dünne Quellenlage nur spärlichen Einblick in den alltäglichen Betrieb zuläßt." ⋅9⋅
Ökonomische Zwänge durch immer größere Pilgerströme und ein sich dadurch aufweichendes Ordensideal wird hier unter die Lupe genommen. Scharf wurden die Antoniter kritisiert. Man warf ihnen vor, Geld für die Behandlung zu nehmen und den karitativen Charakter des Ordens aufgegeben zu haben ⋅10⋅. Das mag ein Indiz dafür sein, dass im Laufe der Zeit von der lebenslangen Aufnahme eines Kranken abgerückt wurde und zeitlich begrenzte Aufenthalte möglich waren. Für die Behandlung solcher Kranker waren selbstredend auch andere Arzneien von Nöten.
Völlig unbeachtet blieb bislang die Frage, in wieweit auch andere Krankheiten im Isenheimer Spital behandelt wurden, für die eine ganz andersartige Therapie von Nöten war. Darf man die Pflanzen, die Meister Mathis gemalt hat, überhaupt allein unter dem Aspekt des Antoniusfeuers betrachten?
Elisabeth Clémentz weist in ihrer Arbeit über das Antoniusbalsam darauf hin, dass man Dermatologie ganz allgemein zum besonderen Tätigkeitsfeld der Antoniter rechnen könne, ...
"... waren doch im Mittelalter Geschwüre das Merkmal der Krankheit und bezeichnete man unter der Vokabel "Antoniusfeuer" die verschiedensten Leiden wie Mutterkornbrand, Wundbrand, "Altersbrand", sogar ulceröse Syphilid." ⋅11⋅
Dass nahezu alle Heil-Pflanzen, die auf den Altartafeln zu identifizieren sind, allesamt für die Wundheilung oder der Versorgung von Geschwüren empfohlen wurden, scheint diese Aussage Elisabeth Clémentz' geradezu zu unterstreichen.
All dies macht schon deutlich, wie schwierig es ist, definitive Aussagen zu machen. Warum genau diese Pflanzen dargestellt sind, warum neben Kräutern mit kühlenden auch welche mit wärmenden Eigenschaften gemalt wurden, lässt sich kaum beantworten. Ein entsprechendes Rezept für eine Arznei, in der die Kräuter in dieser Zusammenstellung vorkamen, fehlt. Oder kamen gar nicht alle Pflanzen in ein und derselben Medizin vor? Wurden sie einfach zu ganz unterschiedlichen Zwecken und unterschiedlichen Zeitpunkten verwandt? Die Theorie, dass dem Antoniuswein grundsätzlich immer alle Pflanzen, die hier abgebildet sind, zugesetzt waren, muss hinterfragt werden. Waren ihm überhaupt immer die gleichen Pflanzen in gleicher Dosierung zugesetzt? Wurde dieser Wein für jeden Patienten individuell hergestellt, um auf die verschiedenen Symptome zu reagieren? Nach heutigem Stand der Forschung gibt es auf all diese Fragen - neben einer Vielzahl von mehr oder minder gut begründeten Vermutungen - keine wirklich befriedigende Antwort.
Literaturhinweise
Vergleiche im Blick auf das Antoniusfeuer etwa:
Elisabeth Clémentz, Vom Balsam der Antoniter, in Antoniter-Forum 2/1994 (München 1994) 13-21,
Christoph Dröge, in: Biographisch-Biliographisches Kirchenlexikon (1993), VI/1530-1531,
Günter Engel, Das Antoniusfeuer in der Kunst des Mittelalters: die Antoniter und ihr ganzheitlicher Therapieansatz, in Antoniter-Forum 7/1999 (München 1999) 7-35,
Paul Oberholzer, Gelebtes Ordensideal in Isenheim? In Antoniter-Forum 7/1999, (München, 1999), 42-50
sowie
Lottlisa Behling, Die Pflanzen in der mittelalterlichen Tafelmalerei, IX. Grünewalds Kräuterheilkunde, 2. Auflage (Köln-Graz 1967) 145-149.
Anmerkungen