Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Das himmlische Elsass
Im Gegensatz zum düsteren und kleinen Fenster auf dem Standflügel mit der Darstellung des Heiligen Antonius, öffnet sich hinter Sebastian der Blick in eine weite Landschaft.
Ein Blick in die Landschaft
Der Blick durch das Fenster.
In den wenigsten Fällen wird für diese Ebene und den dahinterliegenden Bergrücken ein Vorbild gesucht. Meist geht man von einer Phantasielandschaft aus. Wo für den Blick aus dem Fenster ein Bezug in der Realität gesucht wird, gehen die Deutungen allerdings auseinander. Wilhelm Nyssen vermutet beispielsweise - ohne nähere Angabe von Gründen - die Darstellung einer mainfränkischen Landschaft. ⋅1⋅
Emil Spaths Lokalisierungsversuch hat da schon weit mehr Wahrscheinlichkeit für sich. Spath schreibt:
"... Über dem Rheintal mit seinen Hainbuchenbäumen und -sträuchern und den ostwärts, dem Sonnenaufgang zu gelegenen Schwarzwalbergen ..." ⋅2⋅,
zeige Meister Mathis die lichte, hohe Weite des Himmels.
Für Spaths Deutung scheint die Blickrichtung nach Osten maßgebend zu sein. Der Altar stand im Chorraum der Antoniterkirche und der Betrachter vor dem Altar blickte in Richtung der aufgehenden Sonne.
Auch scheint für ihn entscheidend zu sein, dass die Engel, die auf diesem Bildausschnitt dem Märtyrer die Krone bringen, als Heilsboten auftreten. In der mittelalterlichen Symbolik ist die Richtung, aus der das Heil kommt, aber stets die Ostrichtung, die Richtung aus der die Sonne - als Sinnbild des wiederkehrenden Christus - auf den Menschen zukommt.
Für die nähere Bestimmung der Landschaft muss dies aber noch nicht ausschlaggebend sein. Wären es tatsächlich die Schwarzwaldberge, die der Maler hier ins Bild gebracht hätte, dann könnte man höchstens von einer sehr stilisierten Wiedergabe sprechen, wie ein Blick aus dem Elsaß hinüber zur Silhouette des Schwarzwaldes auch heute noch unschwer erkennen lässt. Von Isenheim aus hat man diesen Blick auf jeden Fall nicht.
Hügel bei Isenheim
Josef Hermann Maier scheint der erste gewesen zu sein, der auf einen anderen Zusammenhang hingewiesen hat. ⋅3⋅ Wenn man am Ort der ehemaligen Antoniter-Präzeptorei in Isenheim steht und nach Westen blickt, zeichnet sich noch heute eine Hügelkette ab, die durchaus Ähnlichkeit mit dem Bergrücken auf dem Sebastiansbild aufweist.
Blick von Isenheim nach Westen.
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Auf einer mittlerweile schon historischen Aufnahme aus dem Jahre 1987 wird das noch deutlicher.
Blick von Isenheim nach Westen - Aufnahme aus dem Jahre 1987.
Foto: Jörg Sieger, September 1987
Die ganze Weite der Landschaft lässt sich - im Gegensatz zur heutigen Situation - hier noch ermessen. Nimmt man hinzu, dass der Maler beim Blick aus dem Fenster offenbar von einem deutlich erhöhten Standpunkt auf das Gelände blickt, dann zeichnen sich tatsächlich - bei allen Unterschieden die sicherlich bleiben - ein Reihe von Ähnlichkeiten ab, die es durchaus sinnvoll machen, hinter der Hügelkette auf der Sebastianstafel des Isenheimer Altares das Vorbild der Vogesen oder zumindest einer der Vogesen vorgelagerten Hügelkette zu sehen - so wie sie sich dem Betrachter von der Antoniterpräzeptorei in Isenheim aus darbot.
Es wäre demnach keine fiktive Landschaft, auch nicht eine mainfränkische, sondern das Elsaß, das Meister Mathis hier wiedergibt. Ganz unabhängig davon, ob es sich jetzt tatsächlich um einen Blick auf die Hügel und Berge bei Isenheim oder um einen - dann eher stilisierten - Ausblick auf den Schwarzwald im Osten handelt: es wäre auf jeden Fall ein Blick in die Heimat.
Aus dieser Landschaft stammt der Kranke, der sich nun in der Obhut der Antoniter befand. Es sind Bäume und Berge, wie er sie kennt, es ist die weite Ebene des Elsaß, in der er aufgewachsen ist und in die er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr heimkehren wird.
Die meisten Kranken, die ins Spital eingeliefert wurden, haben die ersten Tage, die in der Regel mit Amputation der kranken Gliedmaße einhergingen, nicht überlebt. Und wenn sich tatsächlich eine Besserung einstellte, blieben sie in der Antoniterpräzeptorei weiter wohnen, teilten mit der Gemeinschaft das Leben und wurden - von der Krankheit gezeichnet - von den Antonitern und dem Personal der Präzeptorei bis zu ihrem Lebensende gepflegt.
Der Blick durch die Fenster des Spitalgebäudes war ein Blick auf einen Alltag, Familien, eine gewohnte Weise zu Leben - sprich: eine Heimat -, die für den Kranken in unerreichbare Ferne gerückt war.
Der Blick durch das Fenster.
Himmlische Heimat
Auf den Tafeln des Isenheimer Altares wird aber auch der ansonsten wehmütige Blick in die Heimat zu einer Verheißung. Vordergründig gelten die Engel, die sich im weiten Himmel tummeln natürlich dem Heiligen Sebastian, der sein Martyrium durchgestanden hat und nun den Lohn für seine Treue im Glauben erhält.
Engel mit Bogen und Pfeilen sowie der Märtyrerkrone.
Mindestens sieben Engel sind zu zählen, die in emsige Geschäftigkeit verfallen sind. Bei den beiden untersten ist deutlich zu erkennen, wie sie den Bogen und die Pfeile aufsammeln und davontragen, mit denen der Märtyrer hingerichtet worden war. Es sind die Marterwerkzeuge. Wie erbeutete Waffen der Gegner nach gewonnener Schlacht tragen die Engel die Hinrichtungswerkzeuge himmelwärts. Dadurch, dass der Heilige treu zum Glauben gestanden ist, hat er den Sieg errungen. Die Marterwerkzeuge sind zu Trophäen dieses Sieges, zu Siegeszeichen, geworden.
Die beiden größten Engelfiguren schweben mit der Märtyrerkrone zum Heiligen herab. Diese Krone ist das eigentliche Zeichen dafür, dass Sebastian nun in die himmlische Wirklichkeit Eingang erhält.
Aber diese Krone gilt nicht nur dem Heiligen Sebastian. Sebastian hat hier typische Bedeutung.
Sein Märtyrertod wurde im Sinne der mittelalterlichen Theologie so gedeutet: Sebastian hat die Verwundungen durch die Pfeile ertragen und angenommen. Und er hat durch sie sein Leben Gott gleichsam als Opfer angeboten. Gott aber hat seine Lebenshingabe angenommen und nimmt ihn nun hinein in sein Reich.
Dadurch wird aber dem Kranken, der den Altar betrachtet klar zu machen versucht: Es hat keinen Zweck mehr, sich gegen die Krankheit aufzulehnen. Sie ist übermächtig geworden. Sie führt vermutlich sogar zum Tod. Die Zeit des Kämpfens hat irgendwann einmal ein Ende.
Dies wäre ganz analog zum berühmten Gebet der Gelassenheit zu verstehen:
"Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden." ⋅4⋅
Nun gelte es - so wie Sebastian seinen Tod - die Krankheit aus Gottes Hand annehmen zu lernen, sich nicht nur mit ihr abzufinden, sondern sie sogar Gott als Opfer zurückzugeben. Die Engel Gottes werden sie wie Trophäen davontragen und dem Kranken im Gegenzug die Siegeskrone überreichen. Und der Weg in die Heimat - nicht die irdische Heimat, aus der der Kranke kommt, sondern die verwandelte, die himmlische Heimat - wird ihm offen stehen.
Dass diese himmlische Wirklichkeit nichts Fremdes, sondern wirklich Heimat ist, macht der Maler dadurch deutlich, dass er ihr das vertraute Aussehen des Elsaß gibt. Aber er zeigt durch die herumschwirrenden Engel auch, dass es ein verwandeltes Elsaß, eine verwandelte Heimat ist: eine, die keine Not und kein Leid - und vor allem nicht diese grausame Krankheit - kennt.
Und doch bleibt auch der Himmel eine dem Menschen vertraute Wirklichkeit. Meister Mathis könnte es besser. Er könnte schöne, ebenmäßige Engel malen. Er malt aber Engel mit derben Bauerngesichtern, mit Doppelkinn und tiefen Tränensäcken. Er malt Gesichter, die der damalige Betrachter des Altares kennt. Selbst die Engel sehen aus, wie Menschen von nebenan. Es wird eine Welt sein, in der ich mich zurechtfinden und in der ich mich auskennen werde - Heimat eben. Und für den Elsässer ist diese Heimat dementsprechend wie das Elsaß - ein "himmlisches Elsaß"...
Kopf eines der Engel mit der Märtyrerkrone aus der Sebastianstafel.
Literaturhinweise
Deutungsversuche bieten
Wilhelm Nyssen, Choral des Glaubens - Meditationen zum Isenheimer Altar (Freiburg 1984)
und
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 82-83.
Von besonderer Bedeutung ist das leider nie veröffentlichte Werk des Sasbacher Pfarrers Josef Hermann Maier. Einzig greifbar ist folgende, ungedruckte Schrift
Josef Hermann Maier, Der Isenheimer Altar und seine Botschaft, Vortrag gehalten am 1. Juli 1985 in Badenweiler - Abschrift vom Juni 1987.
Anmerkungen