Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Zur Geschichte des Isenheimer Altares
- Ein Tabernakel und ein Reliquiar
- Niclas Hagenauers Altarschrein
- Die Bekrönung des Altares
- Zwanzig Jahre unvollendet
- Die Flügel des Meister Mathis
- Die Zerstörung
Die Geschichte des Isenheimer Altares darstellen zu wollen, grenzt beinahe an Vermessenheit. So unterschiedlich und widersprüchlich sind die einzelnen Theorien. Wenn hier dennoch der Versuch unternommen wird, dann bedarf dies einiger Vorbemerkungen.
Der Kirchenraum, in dem der Altar ursprünglich stand ist nicht mehr vorhanden. 1831 ist er einem Brand zum Opfer gefallen. Glück im Unglück, dass der Altar während der Französischen Revolution in den Jahren 1793-1794 nach Colmar transportiert worden war. Aber auch so sind weite Teile des Gehäuses durch das Auseinandersägen, den Transport oder auch unsachgemäßes Lagern verloren gegangen. Lediglich die Flügel, die Figuren und einige Fragmente des Retabels sind im Original erhalten. Alles andere kann nur aus recht spärlichen Überlieferungen erschlossen werden und bleibt dementsprechend äußerst hypothetisch. Weder das ursprüngliche Aussehen noch die Wirkung im Raum, die dieses gewaltige Werk gehabt haben, sind sicher überliefert.
Um sich jedoch einen vagen Eindruck zu verschaffen, sei ein möglicher - und meines Erachtens der wahrscheinlichste - Ablauf der Ereignisse wiedergegeben. Ich folge hierbei in aller Regel den Ergebnissen der Forschung Emil Spaths.
Ein Tabernakel und ein Reliquiar
Ausgangspunkt dieser Hypothese sind zwei Aktenvermerke. Ein Visitationsprotokoll aus dem Jahre 1628 erwähnt einen kostbaren Tabernakel - der Ort, an dem die Eucharistie, das im Abendmahl gewandelte Brot, aufbewahrt wurde - und ein Kreuz, das Reliquien-Partikel des Kreuzes Christi, mehrerer Apostel, des Heiligen Stephanus und des Heiligen Antonius enthalten habe .
Mögliche Ansicht des Altares der Isenheimer Kirche vor 1490.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Dieser wertvolle Tabernakel wurde mit großer Wahrscheinlichkeit schon zur Zeit jener Visitation nicht mehr zur Aufbewahrung der Eucharistie verwandt. Im "Inventaire estimatif" des Jahres 1793 wird nämlich erwähnt, das im Choraltar ein eigener Tabernakel eingebaut war. Auch wenn derselbe möglicherweise nicht von Anfang an vorhanden war, dürfte er weit vor 1628 - nach liturgischer Praxis der Zeit - eingefügt worden sein.
Der alte Tabernakel war aber weiter vorhanden. Das "Inventaire estimatif" erwähnt nämlich zusätzlich ein
"reliquiaire en forme des piramide d'argent d'ore en partie" ⋅1⋅
das durchaus identisch mit dem 1628 erwähnten Tabernakel sein könnte. Angeregt durch die Fragen, wo dieser wertvolle alte Tabernakel, all die Jahrhunderte aufbewahrt wurde und wo er ursprünglich wohl einmal gestanden haben mag, kommt Emil Spath zu folgendem Ergebnis:
Möglicherweise stand auf dem Altar der Antoniterkirche in Isenheim ursprünglich - neben den üblichen sechs Kerzenleuchtern - genau dieser wertvolle Tabernakel, gemeinsam mit dem Reliquiar, das die hochverehrten und wertvollen Reliquien enthielt und in der Form des T-förmigen Antoniuskreuzes aus vergoldetem Silber gefertigt war.
Dies könnte der Zustand bis etwa zum letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts gewesen sein.
Niclas Hagenauers Altarschrein
Bereits Hugues de Beaumont, der von 1423-1433 Präzeptor Isenheims war, hatte den Chor der Kirche mit farbigen Glasfenstern ausstatten lassen. Im Kirchenschiff waren die Nebenaltäre mit Figuren versehen worden. Der Marienaltar auf der "Evangelienseite" hatte eine Marienstatue mit dem Christuskind erhalten,
"une grosse et antique statue de la vierge en bois" ⋅2⋅
wie das "Inventaire estimatif" des Jahres 1793 ausführt. Martin Schongauer hatte bald nach 1470 die Flügel bemalt: Außen die "Verkündigung der Geburt Christi", innen die Anbetung des Kindes durch Maria und Antonius. Für den südlichen Seitenaltar hatte man vermutlich die Statuen einer Heiligen Katharina und eines Heiligen Laurentius herstellen lassen,
"deux statues antiques de bois représentant des figures de saints, grossierement Sculptées" ⋅3⋅.
Der Schrein mit den Figuren.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts scheint man auch für den Hochaltar eine repräsentative Ausstattung in Angriff genommen zu haben. Möglicherweise hat noch Jean d'Orlier, der als Präzeptor im Jahre 1490 resignierte, an den Plänen für diesen Altar mitgewirkt. Sicher aber hat sein Nachfolger Guido Guersi, der bereits zuvor als Sakristan eine wichtige Rolle in der Präzeptorei gespielt hatte, großen Einfluss auf die theologische Konzeption dieses Werkes genommen.
Die künstlerischen Entwürfe selbst scheinen auf keinen geringeren als Martin Schongauer zurückzugehen. Eine Reihe von Stichen haben sich erhalten, die als Vorlagen für die Schnitzereien gedeutet werden können.
Ausgeführt wurde die Schnitzerei vermutlich vom Straßburger Bildhauer Niclas Hagenauer, der zu den führenden oberrheinischen Meistern seiner Zeit gehörte. Um 1445 soll er geboren worden sein. Zwischen 1493 und 1526 sind die Ausführungen größerer Aufträge in Straßburg von ihm belegt. Nach dieser Zeit verliert sich seine Spur.
Hagenauers kraftvolles Werk muss aus stilistischen Gründen kurz vor 1500 entstanden sein. Man geht davon aus, dass die Figuren des sitzenden Antonius mit den Begleitfiguren, das Bildnis des Heiligen Augustinus mit der Gestalt des Jean d'Orlier zu seinen Füßen und die Figur des Hieronymus mit dem Löwen sowie die Christusfigur in der Predella, auf diesen Meister zurückgehen. Auch das Schnitzwerk am Schrein habe er geschaffen. ⋅4⋅
Umstritten ist, ob auch die Apostelfiguren der Predella ihren Ursprung Niclas Hagenauer verdanken. Eine der Figuren ist auf der Rückseite mit "des beychel" gekennzeichnet, woraus für diese Figurengruppen meist auf einen Meister "Desiderius Beychel" geschlossen wird.
Die Bekrönung des Altares
Die mögliche Bekrönung des Schreines.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Auffallend ist die Form des Altares. Während die beiden seitlichen Drittel eine äußerst geringe Tiefe aufweisen - die Figuren sind hier fast reliefartig gestaltet -, ist der mittlere Teil von beträchtlichen Ausmaßen, so dass die vollplastische thronende Antoniusfigur darin Platz findet.
Emil Spath vermutet, dass dies seinen Grund im bereits erwähnten Tabernakel hat. Den altehrwürdigen Tabernakel habe man nicht einfach beiseite geräumt, sondern ihm auf dem Altarschrein einen neuen, herausragenden Platz gegeben. Reste des kronenartigen Baldachins, der ihn umgeben haben könnte, haben sich erhalten.
Die heute noch vorhandenen geschnitzten, stilisierten Schnüre am Rahmen des Schreines lassen sich mit Spath als Halterung deuten, mittels derer ein etwa 15 cm großes Kreuz in T-Form befestigt wurde. Dass es solch ein Kreuz gab, ist belegt. An ihm war mit einer Kette, das alte kreuzförmige Reliquiar befestigt.
So rekonstruiert Emil Spath den ursprünglichen oberen Abschluss des Isenheimer Altares. Dieser Theorie zufolge wäre der Altar nicht mit einem Gesprenge versehen gewesen. Auf den bislang veröffentlichten Rekonstruktionszeichnungen wird der Schrein stets mit einem solchen Gesprenge gezeigt.
Blick durch den Isenheimer Kirchenraum nach Osten.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Es ist allerdings nirgendwo belegt und keinerlei Reste - auch keine figürlichen - die zu einem solchen Altarabschluss passen könnten, haben sich erhalten.
Die hier vermutete Bekrönung des Altares könnte durch ein besonderes Anliegen motiviert gewesen sein:
Die Antoniterkirche in Isenheim lag an einem der großen Pilgerwege - Jean d'Orlier hat 1480 eine eigene Pilgermesse gestiftet.
Für den mittelalterlichen Menschen - und in besonderem Maße natürlich für die große Zahl der Pilger - war das Schauen der Heiltümer, vor allem der Reliquien, etwas ganz besonderes. Die mittelalterliche Schau-Frömmigkeit ist ein ganz typisches Phänomen dieser Zeit. Der Blick in den Chorraum war den Menschen aber durch den Lettner der Kirche versperrt.
Nun lässt sich zeigen, dass der Altar der Isenheimer Antoniterkirche genau so hoch ist, dass das Reliquienkreuz, wenn es auf die von Spath vermutete Art angebracht war, von weiten Teilen des Mittelschiffes aus - über den Lettner hinweg - gesehen werden konnte. ⋅5⋅
Zwanzig Jahre unvollendet
Das Reliquienkreuz vom Mittelschiff aus gesehen.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Fünfzehn bis zwanzig Jahre lang muss dieser Altarschrein unfertig im Chor der Antoniterkirche gestanden haben. Dies hat zu mancherlei Vermutungen und Spekulationen Anlass gegeben.
Meines Erachtens lässt sich dieser Umstand am ehesten mit einem tragischen Ereignis erklären:
Martin Schongauer hat nämlich nicht nur Entwürfe für den Schrein und die Figuren gezeichnet, er scheint auch Vorarbeiten für die übrige Gestaltung des Altares geliefert zu haben. Es könnte demnach durchaus sein, das von vorneherein ein Meister für die Ausführung der Flügelgemälde vorgesehen und dementsprechend auch von Anfang an in die Gesamtplanung des Projektes mit eingebunden war: Martin Schongauer nämlich.
Die Schnitzarbeiten wurden nach dessen Plänen durch Niclaus Hagenauer auch ausgeführt. Die Arbeit an den Flügeln blieb vorerst jedoch liegen, denn der vorgesehene Meister war verhindert. Er arbeitete 1490 am großen Wandgemälde des "Jüngsten Gerichtes" im nahegelegenen Breisacher Münster. Als Martin Schongauer - vermutlich im Februar 1491 - dort verstarb, war an die Fertigstellung des großangelegten Altarwerkes nicht mehr zu denken. Es blieb auf Jahre hinweg ein Torso.
"Wo war für den Isenheimer Präzeptor Guido Guers nach Schongauers Tod (Februar 1491) in der Nähe, weitherum ein Maler zu sehen, dem Meister Niclas Hagnower, dem Schnitzer, wenigstens ebenbürtig? Albrecht Dürer (* 1471) war noch kein Meister, Lucas Cranach (* 1472) nicht, erst recht nicht Hans Burgkmair (* 1473); Albrecht Altdorfer (* 1480) und Hans Baldung (1484/85) lernten damals gerade erst lesen und schreiben. Etwa Bernhard Strigel aus Memmingen (* 1460) hätte das Alter gehabt, galt aber doch wohl nicht als Meister ersten Ranges." ⋅6⋅
Vielleicht wäre Hans Holbein der Ältere in Frage gekommen, der ebenfalls 1460 geboren worden war. Er hat um 1517 tatsächlich eine Zeit lang in Isenheim an der Ausstattung der Antoniterkirche gewirkt. Zu dieser Zeit war der Altar allerdings vermutlich schon vollendet. Zwischenzeitlich war Guido Guersi auf nicht mehr nachvollziehbaren Wegen mit Meister Mathis in Kontakt gekommen. Und dieser schien nach langen Jahren wohl als erster geeignet, das begonnene Werk zu vollenden.
Es spricht manches dafür, dass dabei die ursprüngliche Konzeption wieder aufgegriffen und weitergeführt wurde. Nichtsdestoweniger lag nahezu eine ganze Generation zwischen der Planung, den ersten Arbeiten und der Vollendung des Isenheimer Altarwerkes. Während dieser Zeit sind die ursprünglichen Pläne sicher gereift, gewachsen und dann auch mit den Mitteln einer veränderten Zeit weitergeführt und neu umgesetzt worden.
Die Flügel des Meister Mathis
Der geöffnete Altar im Chor der Isenheimer Antoniterkirche.
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Vermutlich zwischen 1512 und 1515/16 ⋅7⋅ hat Meister Mathis vier Flügel - also zwei Flügelpaare - sowie zwei zusätzliche Standflügel für den schon existierenden Schrein geschaffen. Dadurch erhält der Altar drei verschiedene Ansichten.
Hinzu kommt das Gemälde der Beweinung Christi, das in der Predella Platz fand.
Einiges spricht dafür, dass die beiden Flügelgemälde mit den Szenen aus dem Leben des Heiligen Antonius als erste geschaffen wurden.
Die Darstellungen der Verkündigung, der Geburt Christi und der Auferstehung wären dann in einem zweiten Schritt gemalt worden, bevor mit dem Kreuzigungsbild, der Beweinung Christi und den Standflügeln die Folge vollendet worden wäre.
Die Zerstörung
Gut zweihundertfünfzig Jahre stand der Altar in dieser Form in der Antoniterkirche zu Isenheim - bis zur Französischen Revolution. Der Beschluss der Französischen Nationalversammlung in Paris zur Enteignung des Kirchengutes und zur Aufhebung der Orden am 2. November 1789 bzw. 13. Februar 1790, besiegelte allerdings auch das Ende des Altarwerkes.
1793 wurde die ehemalige Antoniterpräzeptorei von den Bevollmächtigen "du Directoire du District de Colmar" inventarisiert. Mit der Erfassung des Hauptaltares wurde am 5. Februar begonnen, nachdem bei einem ersten Versuch tags zuvor keine Schlüssel aufzutreiben gewesen waren. In der Folge wurden die Gemäldetafeln ausgehängt und die Figuren aus dem Schrein genommen. Wohl in Tücher eingepackt und auf Heu gelagert, schaffte man sie mit Fuhrwerken nach Colmar.
Am 15. Oktober 1794 waren Kirchenschiff und Chor voll Staub, Scherben und Herbstlaub. Die Fenster waren zerschlagen. Der leere Altarschrein stand offenbar noch in der Kirche. Vermutlich wurde er danach zerlegt, ebenfalls nach Colmar gebracht und mit den übrigen Teilen im "Collège", das bis 1765 Jesuitenkolleg gewesen war, gelagert. Die Nutzung des "Collège" als Kerker trug sicher nicht dazu bei, die Reste des Altares sicher zu bewahren.
Was diese Zeiten überdauert hat, ist heute im Unterlinden Museum in Colmar zusammengetragen.
Weiterführende Informationen zu folgenden Themen:
[Unterschiedlichste Theorien] - Das Visitationsprotokoll aus dem Jahre 1628 - [Schongauers Vorarbeiten] - [Gab es einen Desiderius Beychel?] - [Gesprenge oder nicht] - [Französische Revolution].
[] = In Vorbereitung.
Anmerkungen