Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Was bei Licht zu sehen ist...
Was ist links hinter dem in der Mitte des Auferstehungsbildes gleichsam schwebenden Felsen zu erkennen? Ist überhaupt etwas zu sehen? Die Szene ist in düsteren Farben gehalten. Auch scheint die Bildtafel an dieser Stelle nicht im besten Zustand zu sein.
So steht der heutige Betrachter des Isenheimer Altares in aller Regel recht ratlos vor jenem Detail - wenn es ihm überhaupt eines Blickes Wert ist. Mit normalen Lichtverhältnissen und dem üblichen Abstand zum Bild ist eigentlich nur auszumachen, dass der Hintergrund nicht einfach schwarz ist. Vielleicht ist es einfach die Struktur der Pinselstriche, die hier im Streiflicht das Auge verwirrt. Vielleicht hat Meister Mathis an dieser Stelle Korrekturen angebracht oder übermalt, wie an manch anderer Stelle des Altares auch. Hat er einfach den Hintergrund mit einigen Farbnuancen versehen und mit ein paar Pinselstrichen das Dunkel der Nacht akzentuiert?
Schon Heinrich Geissler meinte deutlich mehr zu erkennen:
"Links von dem mächtigen, quergelagerten Felsblock sitzt ein weiterer Wächter, dem man halb von hinten auf den Rücken sieht. Hinter ihm verläuft, schwer erkennbar, ein grüner Lattenzaun mit einem Tor. Hier befinden sich nahe dem linken Bildrand fünf weitere Wächter, die ebenfalls in allen Anzeichen der Verwirrung zu Boden stürzen. Am Horizont tauchen geisterhaft die Grate einer Bergkette aus dem Dunkel auf, die sich links in der bläulichen Kammlinie des Geburtsbildes fortsetzt." ⋅1⋅
Leider sagt Geissler nicht exakt, wo genau er was zu sehen glaubt. So lassen sich seine Entdeckungen nur schwer nachvollziehen. Für die fünf zu Boden gestürzten Wächter am linken Bildrand ließen sich demnach auch keinerlei Anhaltspunkte ausmachen.
Anders ist dies bei der Gestalt, die Geissler links des Felsens in Rückenansicht zu entdecken glaubt. Und auch das von ihm als Tor ausgemachte Detail und - mit Abstrichen - den Zaun kann man erahnen. Einige Details zeichnen sich nämlich tatsächlich ab, wenn man die entsprechende Stelle mit sehr viel Kontrast und an der Grenze zur Überbelichtung fotografiert.
So kommt auch Emil Spath zur Überzeugung, weit draußen im Dunkeln...
"... vier stürzende, entmachtete Krieger, am Ende den alles absperrenden Bretterzaun mit fest verrammeltem Tor..." ⋅2⋅
erkennen zu können. Wo Heinrich Geissler aber einen sitzenden Wächter, der dem Zuschauer den Rücken zuwende, sieht, erkennt Emil Spath...
"... das Bein und Oberteil einer zerschmetterten Kolossalstatue". ⋅3⋅
Bei eingehender Untersuchung des Bildes lässt sich tatsächlich so etwas wie ein Oberkörper in Rückenansicht ausmachen. Wenn dem so sein sollte, dann gehört derselbe aber kaum zu einer sitzenden Gestalt, wie Geissler es beschreibt. Spaths Theorie mit einer in Teile zerbrochenen Statue dürfte in diesem Fall zutreffender sein. Einen abgebrochenen Unterarm und ein daneben liegendes Bein zu sehen, ist ebenfalls nicht unmöglich.
Das von Heinrich Geissler wie von Emil Spath postulierte Tor gehört zu den Teilen dieses Bildausschnittes, die sich noch am deutlichsten abzeichnen. Allerdings wirkt der Körper für ein Tor recht massiv, mutet gar würfelförmig an. Ist hier wirklich ein Tor zu sehen? Wenn es sich im übrigen um die Reste eines gestürzten Standbildes handelt, könnte man in diesem Detail schon eher so etwas wie den Sockel der Statue entdecken.
Beim Klick ins Bild werden die von Emil Spath vermuteten Details hervorgehoben.
Ein Zaun, den sowohl Heinrich Geissler als auch Emil Spath in diesem Bildausschnitt sehen, lässt sich nur sehr vage ausmachen. Zu dem von beiden als Tor angenommenen Körper will derselbe allerdings kaum passen.
Eine weitere Person mag man noch am ehesten über dem kleinen Finger des ganz vorne im Bild dargestellten Wächters entdecken. Hier könnte ein vornübergestürzter Soldat dargestellt sein. Zwei weitere lassen sich vielleicht über dem Bein der zerschmetterten Statue erahnen.
Alles in allem bleiben die Versuche der Identifizierung an dieser Stelle des Bildes sehr spekulativ. Für eine abschließende Beurteilung reicht der bloße Augenschein bei weitem nicht mehr aus. Hier wären letztlich weitergehende und aufwändigere Verfahren nötig.
Literaturhinweise
Vergleiche vor allem:
Heinrich Geissler, Der Altar - Daten und Fakten im Überblick, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 38-216,
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 122-124.
Anmerkungen