Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Die Aufnahme in das Spital - Ankunft und Prüfung
Im Scheitel des Chorhauptes der Antoniterkirche in Isenheim gab es, wie die alten Pläne zeigen, eine Pforte. Dies ist eigenartig. Dr. Hermann Gombert, ehemaliger Direktor des Freiburger Augustiner-Museums, erklärte, dass er in Jahrzehnten etwa dreihundert alte bedeutsame Kirchen auf ihre Architektur hin studiert habe, sich aber nicht daran erinnere, ein zweites Mal etwas von einer solchen Ostpforte gehört zu haben. ⋅1⋅
Die Isenheimer Antoniterpräzeptorei
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Für Emil Spath ist diese Pforte in Verbindung mit dem heute noch erhaltenen Eingangsgebäude der Antoniterpräzeptorei der Schlüssel zur Rekonstruktion des Aufnahmeritus, der für alle Kranken, die nach Isenheim gebracht wurden, obligatorisch war.
Um diesen Ritus zu verstehen, versucht Spath die Grundidee hinter der alten Anlage zu erheben, denn die ganze Anlage - Eingangsgebäude, Innenhof, Kirche, Friedhof - bildete nach seiner Überzeugung ein zusammenhängendes und durchdachtes Gefüge. Die Friedhofmauern in der Verlängerung der Kirchenschiffe, wie auch die ostwärts von der Kirchenbreite her bis an die Eingangsgebäude hin gebauten Mauern zeigen für Spath die Verbindung all dieser Gebäude an. ⋅2⋅
Hinzu kommt ein seltsamer Brunnen nahe der Ostpforte der Kirche, unmittelbar an der Mauer des Chorhauptes, der etwa vier Meter in die Tiefe reichte. Von diesem Brunnen führte ein Kanal nach Süden.
In der Ost-Westache der Kirche wurde bei Ausgrabungen darüber hinaus ein niedriges Gemäuer im Boden gefunden, das 0,90 x 0,90 m groß war und 2,10 m von der Innenwand des Chorschlusses entfernt lag. Auf diesem Gemäuer stand vermutlich der Choraltar der Kirche - also etwa zwei Meter von der Wand entfernt.
Das "Inventaire estimatif" von 1793 erwähnt hinter dem Choraltar im übrigen ein Bronzebecken.
Emil Spath ist bisher der einzige, der all diese Details einer Deutung nahezubringen vermag, wobei er sich auf die Arbeiten Adalbert Mischlewskis über die Aufnahme von Kranken im Mutterkloster der Antoniter, in Saint-Antoine, und Josef Andreas Jungmanns Forschungen über die im Mittelalter praktizierten Bußriten stützen kann. ⋅3⋅
Gleichsam ein Eintritt in den Orden
Wenn jemand in ein allgemeines Spital aufgenommen werden wollte, hatte schon dies für den Kranken nach der mittelalterlichen Ordnung große Auswirkungen auf sein weiteres Leben. Die Aufnahme in ein Antoniterspital war noch einmal mehr. Sie war gleichbedeutend mit dem Eintritt in diesen Orden. Die Kranken, Männer wie Frauen, wurden in Ordensdokumenten unmittelbar nach den Chorherren, noch vor den Laienbrüdern genannt.
Das bedeutet, dass die ins Hospital aufgenommenen auf Lebenszeit in dieser Gemeinschaft versorgt wurden. Andererseits gehörte dazu, dass sie ein Versprechen ablegten, welches den Ordensgelübden - Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam - nachgebildet war. Jeder Kranke musste vor der Aufnahme dem Glauben und dem Orden Treue und Gehorsam schwören, verpflichtete sich in geschlechtlicher Enthaltsamkeit zu leben und überließ seine irdischen Besitzungen ganz oder teilweise den Antonitern. ⋅4⋅
Auch in der Kleidung, die der Kranke fortan trug, wurde dies deutlich: Sie war für alle gleich geschnitten, bestand aus billigem Tuch und sollte von dunkler Farbe sein; außer der schwarzen Kapuze durfte keine Kopfbedeckung verwendet werden. Wie alle anderen Ordensangehörigen trugen auch die Spitalinsassen auf dem Obergewand deutlich sichtbar die hellblaue "potentia", das Tau-Kreuz der Antoniter. ⋅5⋅
Die Ankunft im Spital
Das innere Tor der "Porterie".
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Wollte jemand, etwa ein Bauer aus dem Sundgau, eine Bürgerin, ein Landsknecht, eine Viehmagd, ein Landadeliger - oft Menschen, die von der Mutterkornkrankheit nicht nur befallen sondern schon verstümmelt waren, - einen der begehrten Antoniterspitalplätze erhalten, wurde er, in der Regel wohl von seinen Angehörigen, dorthin gebracht. In Isenheim fand er sich zunächst vor dem Eingangsgebäude wieder.
Es handelt sich dabei um ein hohes, nicht unterkellertes Gebäude, das in den Außenmaßen und der inneren Aufteilung nach - zumindest im Erdgeschoss - etwa so erhalten ist wie es im 15. Jahrhundert gebaut worden war ⋅6⋅. Lediglich das in den Innenhof hineinragende Wendeltreppenhaus ist neueren Datums und größer als das ursprüngliche, das eher kreisförmigen Grundriss hatte.
Vermutlich war es ein Laienbruder, der Pförtner, der Neuankömmlingen öffnete und den Präzeptor, dessen Stellvertreter oder die Leiterin des Pflegepersonals, die sogenannte "Magistra", informierte.
Blick vom Wendeltreppenhaus der Porterie auf den Anbau -
links unten ist die Ostpforte der Kirche zu erkennen
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Man wird Neuankömmlinge kaum in das große Hospital im Innern der Anlage gebracht haben. Das Eingangsgebäude, die "Porterie" lässt heute noch erkennen, dass sie früher einmal zwei Tore aufwies. Das innere Tor schützte Hospital und Wohnbereich der Antoniter.
Emil Spath vermutet, dass es für neuangekommene Kranke einen eigenen Raum gab. Darauf lässt der Plan von 1668 schließen. Auf ihm ist rechts neben der Tür, die vom Eingangsgebäude in den kleinen Innenhof führt, ein eigenartiger Raum eingezeichnet, der an das Eingangsgebäude sowie innen an die Außenmauer angebaut war. Er war etwa neun Ellen lang und sieben Ellen breit. Dass er nicht unbedeutend gewesen sein kann, zeigt der Plan ebenfalls: Er war gewölbt.
Für Spath spricht alles dafür, dass der noch nicht aufgenommene Neuankömmling zunächst in diesen Außenraum des Eingangsgebäudes gebracht wurde. Er sieht in diesem Raum die "Crota", die in erhaltenen Texten des Antoniterorden Erwähnung findet.
In genannten Texten ist die "Crota" ein Raum, in der die Prüfung der Neuankömmlinge vollzogen wurde. Ein Text spricht davon, dass 1597 in Saint-Antoine ein Neuerkrankter zur Diagnose
"dans le bardat dudit hospital dudit monastere" ⋅7⋅
getragen wurde. "Bardatum" aber bedeutet, wie Adalbert Mischlewski angibt, "Geräteraum". ⋅8⋅ Vielleicht ist der Hinweis von Gandulf Korte hilfreich, der über einen Brauch im westfälischen Nottuln berichtet. Das plötzliche Ende von Pestepidemien der Jahre 1609, 1623 und 1636 schrieb man der Fürbitte des Einsiedlers Antonius zu.
"Bis heute blieb man dem Heiligen dafür dankbar. An seinem Festtage (bzw. am Sonntag darauf) wird seine Statue vom Nebenaltar in eine auf dem Chor der Kirche aufgebaute und mit Blumen geschmückte Grotte getragen, wo während der ganzen Oktav viele vom Volk gestiftete Kerzen brennen." ⋅9⋅
Diese Grotte könnte symbolisch für die höhlenartige Zelle stehen, in der der Einsiedlermönch der Legende nach die letzten fünfzig Jahre seines Lebens verbracht hatte.
Es ist durchaus möglich, dass die in den Texten erwähnte "Crota" ebenfalls diese Grotte symbolisiert. Da die Zelle des Antonius ursprünglich eine Kammer zum Aufbewahren von Getreide und Früchten und dann auch Raum zum Pressen des Öles und Keltern des Weines war, ließe sich selbst der Begriff "Bardatum" von daher erklären. Die ersten Stunden im Spital - bis zum Einbruch der ersten Nacht - wäre der Kranke demnach gleichsam in die Lebenswelt des Mönchsvaters eingetaucht.
Die erste Nacht
Die erste Nacht im Isenheimer Antoniterspital selbst verbrachte der Neuankömmling möglicherweise im benachbarten Erdgeschoss des Eingangsgebäudes.
Der dort noch heute zu sehende Raum ist von ganz eigener Art. In allem - im Grundriss, in seinen zwei sehr unterschiedlichen Höhen und in der Gliederung durch zwei Säulen, je eine Elle und eine Handbreit stark - wirkt er sonderbar.
Grundriss der Porterie und des Chores der Kirche.
Auf der Grundlage eines Planes von Emil Spath nachgezeichnet von Jörg Sieger
Der höhere, durch ein asymmetrisches Sterngewölbe überspannte Teil hat fast genau den Grundriss und die Maße des halben Altarraumes der Kirche. Der Grundriss ist lediglich leicht verschoben, weil sich die Stirnseite des Raumes dem Verlauf der Straße anpassen musste. Die Tiefe des Raumes vergrößert sich so von ca. vierzehn auf fünfzehn Ellen. Die Breite des hohen Raumteiles entspricht aber mit zehn Ellen genau der Hälfte des Oberen Chores der Antoniterkirche. ⋅10⋅
Mit dem Pfortenraum war dieser Raum durch eine Tür und eine Öffnung, eine Art Durchreiche, verbunden.
Der niedere Teil des Porterie-Raumes.
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Der niedere Teil des Raumes ist etwa fünfzehn Ellen tief und von den Säulen bis zur Wand etwa sechs Ellen breit. Heute ist er durch eine dünne Wand abgetrennt und wirkt deshalb wie ein Gang. Ursprünglich war er zum höheren Raumteil hin offen.
Die drei symmetrischen, flachen Kreuzgewölbe mit ihren Schlußsteinen sind erhalten. Sie zeigen in dem vom Pfortenraum her gesehen ersten Joch das Tau-Kreuz, im Joch über der Tür, die in den kleinen Innenhof führt, ein Antonius-Relief und im dritten Joch mit dem niederen querformatigen Fenster zur Straße hin das Wappen des Präzeptors Guido Guersi. Hier findet sich in der Wand zur Kirche hin zudem eine gewölbte Nische.
Emil Spath vermutet, dass in dieser Nische im dritten Joch dieses seitenschiffartigen Oratoriumteils einmal eine Antonius-Statue gestanden habe. ⋅11⋅
In den Reformstatuten von 1478 heißt es für das Mutterkloster Saint-Antoine:
".. et dicta nocte debet eis dare in hospicio domini abbatis de pane et vino et in crastino debet dictus infirmus recipere de vinagio beati Antonii..." ⋅12⋅
Schlussstein im
vom Pfortenraum her gesehen
ersten Joch des niedrigen Raumteiles.
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Adalbert Mischlewski schließt daraus, dass dem Kranken vor der Nachtwache Brot und Wein gereicht wurde. In Isenheim könnte ein Neuankömmling genau dort, wo das Oratorium durch eine Durchreiche mit dem Pforten-Eingangsraum verbunden ist, diese Gaben als Zeichen der Gastfreundschaft wie auch des Liebesdienstes an dem Kranken aus der Hand des Präzeptors oder eines seiner Stellvertreter erhalten haben. ⋅13⋅
Möglicherweise verbirgt sich in den Worten "Brot und Wein" aber auch ein Hinweis auf die Eucharistie. Dann kann man mit Emil Spath darauf schließen, dass das ganze Geschehen dieser Nacht auf den Empfang der Eucharistie, der Wegzehrung, am anderen Morgen ausgerichtet war. Die Nachtwache, die nun, möglicherweise vor dem vermuteten Antoniusbild im dritten Joch des niedrigen seitenschiffartigen Raumteil begann, wäre dann vor allem von Jesu Wachen am Ölberg her zu verstehen.
Der Kranke lag hier, dieser Antoniusstatue zugewandt, während eine Frau aus dem Hospital bei ihm wachte und betete ⋅14⋅. Emil Spath vermutet, dass es unter anderem der Rosenkranz war, der in diesen Stunden gebetet wurde. Auch von dieser Seite wären dann die Geheimnisse der Menschwerdung, des Todesleidens und der Auferstehung Christi, in dieser ersten Nacht im Spital prägend gewesen - für viele Kranke war es die letzte Nacht ihres Lebens ⋅15⋅.
Schlussstein im
vom Pfortenraum her gesehen
zweiten Joch des niedrigen Raumteiles.
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Schlussstein im
vom Pfortenraum her gesehen
dritten Joch des niedrigen Raumteiles.
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Die Prüfung
Am anderen Morgen wurde der Kranke zurückgebracht in die "Crota", den Raum, in dem er die ersten Stunden verbracht hatte. Dort fand die für die Aufnahme entscheidende Prüfung statt.
Der Anbau der Porterie
Rekonstruktion: Jörg Sieger
Alle Neuankömmlinge mussten sich solch einer Prüfung unterziehen. An ihr nahmen alle Kranken der Präzeptorei, die dazu imstande waren, teil - ganz gleich welchen Geschlechts. Adalbert Mischlewski berichtet, dass in Saint-Antoine darüber hinaus drei Frauen an der Prüfung zugegen waren: diejenige, die mit dem Neuankömmling gewacht und gebetet hatte, dazu die "Magistra mulierum", etwa gleichbedeutend mit der Leiterin des Pflegepersonales, sowie die "Magistra" des "hospitale frecherii", also die Leiterin des Hospitals für die Schwerstkranken. Ganz ähnlich dürfte dies auch für die deutlich kleinere Einrichtung in Isenheim zu denken sein. Möglicherweise nahm dort ein und dieselbe allerdings Frau mehrere Aufgaben gleichzeitig wahr. ⋅16⋅
Anstelle des "Magister pilloni", den Mischlewski als weiteren Teilnehmer der Prüfung in Saint-Antoine nennt, und den es dort als eigenes Amt gab, könnte in Isenheim der Prokurator als Stellvertreter des Präzeptors teilgenommen haben. ⋅17⋅
Unklar ist, ob auch ein Arzt oder ein in medizinischen Fragen kundiger Laienbruder hinzugezogen wurde. Auffallend ist nämlich, dass es in Saint-Antoine zur Zeit der Statutenredaktion im Jahre 1478 schon längst einen eigenen Wundarzt gab, derselbe aber bei der Krankheitsschau offenbar nicht hinzugezogen wurde. ⋅18⋅
Das macht schon deutlich, dass es bei dieser Prüfung nicht so sehr um medizinische Fragen ging. Ob es sich beim Neuangekommen tatsächlich um einen von der Mutterkornkrankheit bzw. einer anderen kaum heilbaren Erkrankung Befallenen oder etwa um einen Betrüger, der lediglich Unterschlupf bei den Antonitern suchte, handelte, konnten die Kranken aufgrund ihrer eigenen Leidensgeschichte durchaus einschätzen. Weit wichtiger aber war die Frage, ob sie bereit waren, mit diesem Menschen, der hier um Aufnahme bat, ihr eigenes Leben - und zwar auf Dauer - zu teilen. Jemanden ins Spital aufzunehmen, bedeutete ja nicht zuletzt, ihm für den Rest seines Lebens die fürsorgliche Hilfe zukommen zu lassen, die er brauchte.
Dies beinhaltete aber nicht, dass man je nach Belieben hätte auswählen können, ob man jemanden aufnahm oder nicht. Das Ordensstatut gebot in aller Deutlichkeit, dass alle am Antoniusfeuer Erkrankten - ganz gleich ob Mann oder Frau und ganz gleich welchen Standes - in die Gemeinschaft aufzunehmen waren.
Wenn die Entscheidung zugunsten des Neuen feststand, wurde er vermutlich noch in der "Crota" mit dem dunklen, sackartigen Gewand der Kranken des Antoniterordens bekleidet. Dieses Gewand trug das azurblaue Antoniterkreuz - erstes Zeichen der Aufnahme und der bleibenden Zugehörigkeit.
Literaturhinweise
Unabhängig davon, dass Männer wie Frauen ohne Unterschied aufgenommen wurden, spreche ich der Einfachheit halber normalerweise von "der Kranke". Damit sind allerdings grundsätzlich auch die Frauen gemeint, die im Spital Aufnahme gefunden haben.
Die Rekonstruktion der Aufnahmeliturgie stützt sich auf
Andreas Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Innsbruck 1932)
sowie
Adalbert Mischlewski, Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (Unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Wirken des Petrus Mitte de Capraris). (= Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 8) (Köln, Wien 1976)
und
Gandulf Korte, Antonius der Einsiedler in Kult, Kunst und Brauchtums Westfalens (Werl 1952).
Ausführlich dargestellt ist sie bei
Emil Spath, Isenheim - Der Kern des Altarretabels - Die Antoniterkirche (Freiburg 1997) Band I, 337-365, 397).
Anmerkungen
Adalbert Mischlewski, Die Frau im Alltag des Spitals, aufgezeigt am Beispiel des Antoniterordens, in: Veröffentlichungen des Instituts für mittelalterliche Realienkunde Österreichs (Wien 1986) 606), zitiert nach: Emil Spath, Isenheim - Der Kern des Altarretabels - Die Antoniterkirche (Freiburg 1997) Band I, 341.