Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Otto Dix und der Isenheimer Altar

Die erste große Ausstellung, die das Unterlindenmuseum in Colmar in seinen neuen Ausstellungsräumen durchführte, widmete es vom 8.Oktober 2016 bis 30. Januar 2017 dem Maler Otto Dix. Damit unterstrich auch die Leitung des Colmarer Museums, dass wohl kein anderer Künstler der Neuzeit so sehr vom Isenheimer Altar beeinflusst und ohne das Werk des Meister Mathis letztlich nicht denkbar ist wie gerade der aus Untermhaus - einem heutigen Stadtteil von Gera - stammende Otto Dix. In einem großartigen Katalog wurden die vielfältigen Beziehungen herausgearbeitet und dokumentiert ⋅1⋅.

Unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges

Es soll hier nicht darum gehen, allzu Bekanntes noch einmal zu wiederholen. Über Otto Dix gibt es zahlreiche Veröffentlichungen. An dieser Stelle geht es vor allem um den Einfluss, den Meister Mathis auf Dix ausübte. Deshalb hier nur einige wenige Hinweise zum Leben des Künstlers - Zusammenhänge, die notwendig sind, um diese Nähe zu den Tafeln des Altares von Isenheim zu verstehen. ⋅2⋅

Wilhelm Heinrich Otto Dix, am 2. Dezember 1891 geboren, machte zunächst eine Lehre als Dekorations­maler, um dann 1910 in Dresden mit seiner Ausbildung an der dortigen Kunstgewerbeschule zu beginnen. Für das Studium der alten Meister bot allein schon die Dresdner Gemäldegalerie beste Voraussetzungen. Den Expressi­onisten kam er nicht zuletzt 1914 durch den Besuch der entsprechenden Ausstellung in der Galerie Arnold nahe. Neben biblischen Texten prägten ihn vor allem die Schriften Friedrich Nietzsches, den er 1911 erstmals las.

Schon damals haben Otto Dix die Werke des frühen 15. Jahrhunderts gepackt. Später sagte er in Bezug auf sein "Selbstbildnis mit Nelke" aus dem Jahr 1912 beispielsweise:

"Es war mein Ideal, so zu malen, wie die Meister der Frührenaissance." ⋅3⋅

Die nachhaltigsten Spuren aber hinterließen die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, zu dem er bereits im August 1914 - er hatte sich freiweillig gemeldet - eingezogen wurde. Etwa 100 Gouachen und 5.000 Zeichnungen entstehen an der Front. In ihnen verarbeitet der Künstler, der mehrfach verwundet wurde, seine Erlebnisse. 1917 nimmt er an der Ausstellung mit dem Titel "Zweite Ausstellung Dresdner Künstler, die im Heeresdienst stehen" in der Galerie Arnold mit 16 Zeichnungen teil, bevor er im Dezember 1918 nach Gera zurückkehrt. Im Januar 1919 nimmt er sein Studium in Dresden wieder auf.

Zu dieser Zeit befand sich der Isenheimer Altar noch in München. Er war am 13. Februar 1917, unter dem Vorwand, ihn sicher verwahren und restaurieren zu wollen, von Colmar dorthin überführt worden. Ab dem 24. November 1918 war der Altar in der Alten Pinakothek der Öffentlichkeit zugänglich. ⋅4⋅

Otto Dix hat die Tafeln des Altares in München damals vermutlich nicht selbst gesehen. Der Isenheimer Altar war ihm nichtsdestoweniger mit Sicherheit ein Begriff. Gerade unter den Vorzeichen des Versailler Vertrages war das Werk des Meister Mathis gleichsam zum Inbegriff "deutscher Kunst" geworden.

"Das Publikum drängt sich vor der Ikone aus vergangenen Zeiten, die nunmehr brennend aktuell, als "... höchster geistiger und künstlerischer Besitz des deutschen Volkes" gehandelt wird: Es werden Messen abgehalten, spezielle Führungen für Arbeiter und Kiregsversehrte organisiert ... Denn die Soldaten, die sich wie Christus in Golgatha an der Front aufopfern, erkennen in Grünewalds Darstellung ihr eigenes Leid wieder. So heißt es bei Ernst Toller: "[...] vor dem Altar des Matthias Grünewald sehe ich durch das Bild den Hexenkessel im Priesterwald, die zerschossenen, zerfetzten Kameraden [...]."" ⋅5⋅

Als der Altar nach Ende des Ersten Weltkrieges am 28. September 1919 in das jetzt französisch gewordene Colmar zurückgebracht werden musste, steigerte sich die Bedeutung der Isenheimer Altartafeln nur noch einmal. Der Protest der Münchner Neuesten Nachrichten vom 18. September 1919 steht stellvertretend für die Klagen über den Verlust des jetzt zu einem wahren Nationalkulturgut gewordenen Kunstwerkes.

"Es wird ein Stück Deutschland weggeschnitten, der edelsten eins: [...] Gründewald." ⋅6⋅

Die Fülle der Publikationen, die schon infolge der Ausstellung erschien, ist Otto Dix sicher nicht verborgen geblieben. Schon in den Werken "Der Streichholzhändler I" und "Prager Straße", die beide im Jahre 1920 entstanden sind, sieht Aude Briau mehr oder weniger ironische Anspielungen auf verschiedene Elemente der Isenheimer "Kreuzigung" und den "Besuch des Heiligen Antonius beim Eremiten Paulus". ⋅7⋅

"Schützengraben"

Schwarzweißfoto

Otto Dix, Schützengraben, 1920-23, verschollen,

© VG Bild-Kunst, Bonn 2019,
Rheinisches Bildarchiv Köln, Bilddatenbank RBA

1923 werden solche Bezüge noch deutlicher. Es entsteht das Gemälde "Schützengraben" - und ein Skandal. Dix schildert in diesem Werk das Geschehen an der vordersten Kriegslinie. Dieser Schützengraben bietet keinen Schutz. Penibel beschreibt Dix die Gräuel des Krieges.

Ausführliche Studien gingen der Arbeit voraus.

"Eines Tages ging ich in die Anatomie und erklärte: Ich muß Leichen malen! - Man führte mich vor zwei sezierte weibliche Leichen, die mit groben Stichen zusammengeflickt waren. Ich setzte mich hin und malte [...]. Ich kam wieder und verlangte Eingeweide und Gehirn. Man gab mir eine Schüssel mit Gehirn, die ich aquarellierte." ⋅8⋅

Die Reaktionen auf das fertige Gemälde waren außergewöhnlich. Es wurde, um den Charakter der Sensation zu steigern, hinter einem Vorhang präsentiert. Und immer wieder wurden Vergleiche zu "Grünewald" gezogen. Übereinstimmend wurde betont, dass Otto Dix die Radikalität der Darstellung des Sterbens "wie bei Grünewald" schildern würde. ⋅9⋅

Genau diese Radikalität der Todesdarstellung besiegelte letztlich aber auch das Schicksal des Bildes. Die als unpassend angesehene Wirklichkeitsnähe wurde als Verhöhnung deutscher Soldaten betrachtet. Willi Wolfradt urteilte 1924:

"[W]ahrlich zum Kotzen und nicht zum Komfort ist das gemalt [...]. Wie halt so ein Frontschwein malt, meine Herren; es ist direkt unästhetisch!" ⋅10⋅

Das Bild verschwand in der Folge im Depot und wurde 1937 zu einem der bekanntesten Werke der Wanderausstellung "Entartete Kunst", wobei im Katalog zur Ausstellung ein Ausschnitt des Gemäldes unter der Überschrift "Gemalte Wehrsabotage des Malers Otto Dix" abgedruckt wurde. ⋅11⋅

Die aufsehenerregende Farbgebung des Bildes kann man heute nur noch aus den Aquarellstudien und zugehörigen Notizen erahnen. Das Bild selbst ist verschollen. Es existieren nur noch Schwarzweiß-Aufnahmen. Einiges deutet darauf hin, dass der "Schützengraben" am 20. März 1939 von den Nationalsozialisten verbrannt worden ist. ⋅12⋅

Die erwähnten zeitgenössischen Vergleiche zwischen Otto Dix und Meister Mathis waren übrigens selten mehr als allgemeine Verweise auf die radikale Darstellungsweise des Todes. Wenn auf Details des Isenheimer Altares eingegangen wurde, dann waren es vor allem Hinweise auf die Kreuzigung. Die neuere Forschung weist allerdings auf eine viel deutlichere Nähe zur Darstellung der "Versuchung des Heiligen Antonius" hin. ⋅13⋅

"Mit Grünewalds Versuchung des hl. Antonius "vergleichbar ist vor allem die Gesamtanlage. Beide Kompositionen entwickeln sich kreisförmig um ein 'negatives' Zentrum - ein formales 'Loch' der Mantel des Heiligen bei Grünewald, ein reales Loch der Sprengtrichter bei Dix. Wo bei Grünewald die Ungeheuer den Einsiedler in einem Wirbel des Bösen umkreisen, da umgeben bei Dix die Toten und Halbtoten den Sprengtrichter. Wo bei Grünewald die Balken der verwüsteten Einsiedelei in den Himmel ragen und Flechten von den abgestorbenen Bäumen hängen, da ragen bei Dix geborstene Eisenträger, von denen hängt blutig zerrissenes Fleisch. Neu war bei Grünewald die Radikalität, mit der er die Natur in die Aussage des Bildes mit einbezog. Hier fand Dix ein Vorbild für die Erfahrung des Ersten Weltkrieges, der die Natur in einem noch nie gekannten Ausmaße geschunden hatte". Abgesehen vom Isenheimer Altar ist wohl kaum ein stärkerer Ausdruck des Leides und des Schreckens in der Malerei zu finden." ⋅14⋅

Das Triptychon "Der Krieg"

"1928 fühlte ich mich reif, das große Thema anzupacken, dessen Gestaltung mich mehrere Jahre beschäftigt hat. In dieser Zeit übrigens propagierten viele Bücher ungehindert in der Weimarer Republik erneut ein Heldentum und einen Heldenbegriff, die in den Schützengräben des ersten Weltkriegs längst ad absurdum geführt worden waren. Die Menschen begannen schon zu vergessen, was für entsetzliches Leid der Krieg ihnen gebracht hatte. Aus dieser Situation heraus entstand das Triptychon. Ich wollte ganz einfach - fast reportagemäßig - meine Erlebnisse der Jahre 1914 bis 1918 zusammenfassend sachlich schildern und zeigen, dass echtes menschliches Heldentum in der Überwindung des sinnlosen Sterbens besteht. Ich wollte also nicht Angst und Panik auslösen, sondern Wissen um die Furchtbarkeit eines Krieges vermitteln und damit Kräfte der Abwehr wecken." ⋅15⋅

So schildert Otto Dix aus der Rückschau des Jahres 1964 das Anliegen, das er mit dem Triptychon "Der Krieg" - heute in der "Galerie Neue Meister" in Dresden - verband. Inhalt des wie ein mittelalterlicher Altar aufgebauten Werkes ist letztlich ein Tag im Leben eines deutschen Soldaten: Es beginnt mit dem Aufbruch im Morgengrauen, findet seinen drastischen Höhepunkt in den Verheerungen nach der Schlacht gegen Mittag, wird fortgesetzt im abendlichen Rückzug und endet in der nächtlichen Ruhe im Schützengraben, der weniger an einen Schlafplatz als an ein Grab erinnert.

Schon Form, Technik und Konzeption des Triptychons lassen den Einfluss, den die Isenheimer Altartafeln auf dieses Werk hatten, erahnen. Für die Mitteltafel gilt der gleiche, an die "Versuchung des Heiligen Antonius" erinnernde Aufbau wie beim "Schützengraben" aus dem Jahre 1923. Darüber hinaus lässt hier aber vor allem die Bildsprache, die auf die Passion verweist, den Einfluss der Isenheimer Kreuzigung erkennen. ⋅16⋅

Möglicherweise hat Dix die Tafeln des Meister Mathis während der Vorarbeiten zu diesem Triptychon auch mit eigenen Augen gesehen. 1928 war er ins Elsass gereist. Ein Besuch in Colmar wäre in diesem Zusammenhang durchaus möglich gewesen. ⋅17⋅

Triptychon

Otto Dix, Der Krieg (Triptychon), 1929-1932.

Lizenz: Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister;  © www.skd.museum

Deutliche Bezüge gibt es - wie erwähnt - vor allem zum geschlos­senen Zu­stand des Isen­hei­mer Altares. Es ist die Passion, die im Mittelpunkt steht. So finden sich beim Triptychon "Der Krieg" auch eine Reihe von mehr oder minder deutlichen Verweisen auf die Kreuzes­darstellung des Isen­heimer Alta­res. Schon die Gestalt des toten Soldaten, die auf der Mitteltafel, vom Betrachter aus gesehen, links vom Graben erkennbar ist - vom aufragenden Eisenträger etwas verdeckt -, erinnert an die Schmerzensmutter der Isenheimer Kreuzigung. Am erwähnten Eisen, das wie ein Galgen in das Bild hineinragt, hängt ein verwester Körper, in Stofffetzen gehüllt, welch letztere eine Parallele zum Lendentuch des Gekreuzigten auf der Isenheimer Altartafel darstellen. Der lange Finger dieses Gerippes ist eine Anspielung auf den Finger Johannes des Täufers, der bei Meister Mathis auf den toten Christus weist. Bei Dix verweist dieser Finger auf einen Leichnam, der mit dem Kopf nach unten und ausgebreiteten Armen dargestellt ist - wie ein verkehrt herum Gekreuzigter. Wo bei Mathis von Dornen oder Rutenspitzen verursachte Wundmale den toten Christus übersäen, sind es bei Dix die Durchschüsse der Maschinengewehre, die nicht nur die Beine, sondern den gesamten Körper gezeichnet haben. Neben dem Haupt des Dargestellten - unweit des Bajonettes - liegt eine Dornenkrone: eine weitere Anspielung auf die Passion Christi. Und die geöffnete Handfläche streckt dieser Leichnam auf eine Art zur Bildmitte hin, die es schwer macht, hier nicht an die Hand des Gekreuzigten auf den Colmarer Bildtafeln zu denken. Alles auf diesem Bild macht deutlich: In diesem getöteten Soldaten ist Christus erneut gekreuzigt worden. Wie Christus am Kreuz auf grausamste Weise hingerichtet wurde, so sind diese Soldaten dem Krieg geopfert worden. ⋅18⋅

Glücklicherweise hat Dix bald nach der Herbstausstellung der Preußischen Akademie der Künste des Jahres 1932 in Berlin, auf der "Der Krieg" gezeigt wurde, veranlasst, dass die Tafeln in Kisten verpackt wurden. Eingelagert bei seinem Freund Friedrich Bienert konnten sie, zusammen mit weiteren wichtigen Werken, auf diese Weise vor der Vernichtung durch die Nazis genauso bewahrt werden wie vor der Zerstörung durch den Krieg. ⋅19⋅

Entarteter Künstler

Nach der Machter­greifung der National­sozia­listen im Jahre 1933 verliert Otto Dix als "entarteter Künstler" seine Profes­sorenstelle an der Kunstakademie Dresden. Mittels der in dieser Zeit entstehenden Bilder analysiert er gleichsam seine Situa­tion und greift dabei erneut auf Elemente des Isen­heimer Altarbildes zurück.

1933 entsteht die "Sieben Todsünden", die sich heute in der Kunsthalle Karlsruhe befinden. Die Personi­fikationen der Sünden treten dem Betrachter und damit auch dem Maler Otto Dix "wie die bedrohliche Meute auf Grünewalds Altarflügel der Versuchung des Heiligen Antonius als Horde aus lauter bedrohlichen Gestalten" ⋅20⋅ entgegen: Eine politische Allegorie auf das Naziregime.

Ein Jahr später tritt der Künstler selbst mitten ins Bild hinein. Im "Triumph des Todes" - heute im Kunstmuseum Stuttgart - malt sich Dix als Soldat. Ihm gegenüber kauert eine Gestalt, die die Züge des Schauspielers Heinrich George trägt. Zentral beherrscht der gekrönte Tod die Szene. Dabei bedroht dieser den Künstler Otto Dix mit seiner Sense. ⋅21⋅

In den Vordergrund und direkt ins Zentrum des Bildes - zwischen die Füße des dominierenden Todes -, setzt Otto Dix eine Fülle von Pflanzen, die in ihrer naturalistischen Gestaltung an Gemälde der alten Meister erinnern. Insbesondere die zentrale Pflanzengruppe greift dabei eine ganze Reihe von Details aus den Kräuterdarstellungen der Tafel "Besuch des Heiligen Antonius beim Einsiedler Paulus" auf. Die Nähe zu den Heilkräutern des Isenheimer Altares - heilende Kräuter gegen den drohenden Tod - ist kaum zu übersehen.

Der Zweite Weltkrieg und die Kriegsgefangenschaft in Colmar

Triumph des Todes

Otto Dix, Triumph des Todes (Detail), 1934.

Lizenz: Kunstmuseum Stuttgart, © VG Bild-Kunst, Bonn 2007.

Noch einmal musste der Künstler in den Krieg ziehen. 53 Jahre war er alt, als er am 15. März 1945 in den Volkssturm eingezogen wurde. ⋅22⋅

Am 18. April wird er gefangen genommen. Er kommt in das kurz zuvor eingerichtete Gefangenenlager in Colmar-Logelbach. Das Lager, obschon in der ehemaligen Manufaktur Haussmann - einem Gebäude von beträchtlicher Größe - untergebracht, platzte aus allen Nähten. Es war mit 7.000 bis 10.000 Gefangenen vollkommen überbelegt. ⋅23⋅

Als Otto Dix einer Minenentschärfungs-Mission zugeteilt wurde, meldete er sich beim Kommandanten des Lagers, um von diesem Einsatz freigestellt zu werden. Der Lagerarzt Dr. Gerhard Wippern erinnert sich später:

"Da erschien eines Tages ein französischer Offizier mit dem letzten Band der Propyläen-Kunstgeschichte unter dem Arm, um festzustellen, ob der Kriegsgefangene Dix mit dem bekannten Maler identisch sei. Dix wurde in die Künstlergruppe versetzt und bekam besseres Essen." ⋅24⋅

So konnte der Maler arbeiten und genoss eine Reihe von Freiheiten. Der Colmarer Künstler Robert Gall stellte ihm sein Atelier in der Rue Charles Grad 12 zur Verfügung und machte mit Otto Dix sogar Ausflüge in die Umgebung. Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft zwischen den beiden Künstlern. ⋅25⋅

Während seiner Gefangenschaft in Colmar hatte Otto Dix auch die Gelegenheit, die Altartafeln des Meister Mathis eingehend zu betrachten. An seine Frau Martha schreibt er am 15. September 1945:

"Den Isenheimer Altar sah ich 2x, ein gewaltiges Werk von unerhörter Kühnheit und Freiheit abseits aller 'Komposition' oder Konstruktion und unerklärlich geheimnisvoll in seinen Zusammenhängen." ⋅26⋅

In dieser Zeit entsteht eine Reihe von Werken. Colmarer Bürger ließen sich gegen Mahlzeiten von dem berühmten Maler porträtieren. Für die Kapelle des Lagers malte er den Altar. Im Dezember 1945 wurde ihm - aufgrund gesundheitlicher Probleme - gestattet, das Lager zu verlassen und privat zu wohnen. Offiziell war er dabei als Autolackierer - er war immer noch Gefangener - bei "Carrosserie Gangloff Colmar" tätig. Im darauffolgenden Februar 1946 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. ⋅27⋅

Auch auf den vielen Bildern, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen, lassen sich immer wieder Beziehungen zu den Colmarer Altartafeln erkennen. Etwa in den beiden 1950 entstandenen "Verkündigungen", in denen Otto Dix das Geschehen nach mittelalterlicher Manier in die Gegenwart verlegt, die Jungfrau - ähnlich wie bei Meister Mathis - mit Erschrecken reagieren lässt und sich beim Zeigegestus des Engels augenscheinlich am Isenheimer Altar orientiert. Oder bei seinem Wandbild "Krieg und Frieden" im Rathaus Singen aus dem Jahre 1960, bei dem nicht nur die Hände des gekreuzigten Christus deutlich auf die Isenheimer Kreuzigung verweisen. ⋅28⋅

Otto Dix ist nur ein Beispiel für die Wirkungsgeschichte der Colmarer Altartafeln bis in unsere Gegenwart hinein. Er ist aber eines der eindrücklichsten Beispiele dafür, wie zeitlos gültig Mathis Gothart Nithart die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Leid ins Bild gebracht hat.

Zurück-Button Literaturhinweise

Vergleiche im Blick auf die Beziehungen zwischen Otto Dix und dem Isenheimer Altar vor allem:
Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016),
Brigitte Schad und Thomas Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne (Köln 2003) 53.

Anmerkungen

1 Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016).Zur Anmerkung Button

2 Eine ausführliche Zusammenstellung der Lebensdaten findet sich auch in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 244-253. Im Artikel bei Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Dix - abgerufen am 1. November 2019) wird interessanterweise auf Einflüsse durch den Isenheimer Altar mit keinem Wort eingegangen. Zur Anmerkung Button

3 Otto Dix im Gespräch mit Hans Kinkel (1961), zit. nach: Frédérique Goerig-Hergott, Einleitung - Otto Dix (1891-1969) und der Isenheimer Altar (1512-1516), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 15. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Aude Briau, Otto Dix im Angesicht des "größten Heiligtums deutscher Kunst", 1900-1924, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 32-33. Zur Anmerkung Button

5 Aude Briau, Otto Dix im Angesicht des "größten Heiligtums deutscher Kunst", 1900-1924, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 33. Zur Anmerkung Button

6 Münchner Neueste Nachrichten vom 18.9.1919, zit. nach: Aude Briau, Otto Dix im Angesicht des "größten Heiligtums deutscher Kunst", 1900-1924, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 33. Zur Anmerkung Button

7 Vgl.: Aude Briau, Otto Dix im Angesicht des "größten Heiligtums deutscher Kunst", 1900-1924, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 33. Zur Anmerkung Button

8 Otto Dix, zit. nach: Gitta Ho, "... schwingt sich hier zum neuen Grünewald auf." Otto Dix' Schützengraben (1923) in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 38. Zur Anmerkung Button

9 Vgl.: Gitta Ho, "... schwingt sich hier zum neuen Grünewald auf." Otto Dix' Schützengraben (1923), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 40. Zur Anmerkung Button

10 Willi Wofradt, zit. nach: Gitta Ho, "... schwingt sich hier zum neuen Grünewald auf." Otto Dix' Schützengraben (1923), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 40. Zur Anmerkung Button

11 Vgl.: Gitta Ho, "... schwingt sich hier zum neuen Grünewald auf." Otto Dix' Schützengraben (1923), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 40. Zur Anmerkung Button

12 Vgl.: Thomas Ratzka, Dix, Grünewald und die Neue Sachlichkeit, in: Brigitte Schad und Thomas Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne (Köln 2003) 53. Zur Anmerkung Button

13 Vgl.: Gitta Ho, "... schwingt sich hier zum neuen Grünewald auf." Otto Dix' Schützengraben (1923), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 41. Zur Anmerkung Button

14 Thomas Ratzka, Dix, Grünewald und die Neue Sachlichkeit, in: Brigitte Schad und Thomas Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne (Köln 2003) 53. Ratzka zitiert an dieser Stelle Birgit Schwarz, "'Kunsthistoriker sagen Grünewald ...' - Das Altdeutsche bei Otto Dix in den 20er Jahren", in: Jahrbuch der staatlichen Kunstammlungen in Baden-Württemberg, (28/1991) 153. Zur Anmerkung Button

15 Otto Dix in einem Gespräch mit Karl-Heinz Haben, 1964, zit. nach: Frédérique Goerig-Hergott, Vier Jahrhunderte nach Grünewalds Meisterwerk: das Triptychon Der Krieg, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 43. Zur Anmerkung Button

16 Vgl.: Frédérique Goerig-Hergott, Vier Jahrhunderte nach Grünewalds Meisterwerk: das Triptychon Der Krieg, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 44. Zur Anmerkung Button

17 Vom Aufenthalt im Elsaß berichtet Fritz Löffler in seiner Biographie aus dem Jahre 1977, vgl.: Frédérique Goerig-Hergott, Vier Jahrhunderte nach Grünewalds Meisterwerk: das Triptychon Der Krieg, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 44. Zur Anmerkung Button

18 Ausführlich beschrieben wird das Bild und die unterschiedlichen Bezüge bei Katharina Heinemann, Entdeckung und Vereinnahmung - Zur Grünewald-Rezeption in Deutschland bis 1945, in: Brigitte Schad und Thomas Ratzka (Hrsg.), Grünewald in der Moderne (Köln 2003) 14 und Frédérique Goerig-Hergott, Vier Jahrhunderte nach Grünewalds Meisterwerk: das Triptychon Der Krieg, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 44-54. Letzterer Aufsatz ist mit einer Fülle von hervorragenden Aufnahmen und Bildausschnitten illustriert, die die Bezüge anschaulich nachvollziehen lassen. Zur Anmerkung Button

19 Vgl.: Frédérique Goerig-Hergott, Vier Jahrhunderte nach Grünewalds Meisterwerk: das Triptychon Der Krieg, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 54. Zur Anmerkung Button

20 Frédérique Goerig-Hergott, Einleitung - Otto Dix (1891-1969) und der Isenheimer Altar (1512-1516), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 19. Zur Anmerkung Button

21 Frédérique Goerig-Hergott, Einleitung - Otto Dix (1891-1969) und der Isenheimer Altar (1512-1516), in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 19. Zur Anmerkung Button

22 Angelika Bohn, Otto Dix - Gemälde für Brot, Wein und Wärme, Artikel vom 15.10.2016, Förderverein Museum Haus Dix Hemmenhofen e. V. = https://foerderverein-museum-haus-dix.de/otto-dix-gemaelde-fuer-brot-wein-und-waerme/ (abgerufen am 8. November 2019); Christoph Bauer, Otto Dix malt Christus. Welchen Christus? in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 75. Zur Anmerkung Button

23 Vgl.: Erdmuthe Mouchet, Otto Dix als Kriegsgefangener in Colmar 1945-1946, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 69. Zur Anmerkung Button

24 Dr. Gerhard Wippern, zit. nach: Erdmuthe Mouchet, Otto Dix als Kriegsgefangener in Colmar 1945-1946, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 70. Zur Anmerkung Button

25 Erdmuthe Mouchet, Otto Dix als Kriegsgefangener in Colmar 1945-1946, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 70-71. Zur Anmerkung Button

26 Otto Dix an Martha, 15. September 1945, zit. nach: Christoph Bauer, Otto Dix malt Christus. Welchen Christus?, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 75. Zur Anmerkung Button

27 Vgl.: Erdmuthe Mouchet, Otto Dix als Kriegsgefangener in Colmar 1945-1946, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 71-72. Zur Anmerkung Button

28 Vgl.: Christoph Bauer, Otto Dix malt Christus. Welchen Christus?, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 75-81 und Aude Briau, Otto Dix, Verkündigungen, 1950, in: Frédérique Goerig-Hergott (Hrsg.), Otto Dix - Isenheimer Altar (Paris 2016) 234-237. Zur Anmerkung Button