Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Die Aufnahme in das Spital - In der "Porterie"
Beginn der Aufnahmeliturgie
Vermutlich begleiteten nach der erfolgten Prüfung des Kranken alle, die bei bei diesem Vorgang anwesend waren, den Neuangekommenen von der "Crota" wieder in das Eingangsgebäude. Emil Spath vermutet, dass im hochgewölbten Raum dieser Porterie, ganz in der Nähe des Platzes, an dem der Kranke die erste Nacht verbracht hatte, die Aufnahmeliturgie begann. ⋅1⋅
Der hohe Teil des Porterie-Raumes
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Je nach seinem Zustand wird der Kranke unter dem Schlussstein in der Mitte des Raumes gekniet oder gesessen haben, genau gegenüber des Vorstehers der Liturgie. Vermutlich war es der Sakristan, der diesen Gottesdienst leitete. Genau ihm war ja vom Präzeptor das Amt des Vorstehers und verantwortlichen Seelsorgers des Antonius-Hauses übertragen worden. Ihm war demnach auch den Dienst des Beichtvaters anvertraut. ⋅2⋅
Die Kanoniker der Präzeptorei hatten ihren Platz entsprechend der klösterlichen Ordnung bzw. ihres Dienstes bei der Bußliturgie an der Ost- und Nordostwand. Der erste Platz an der Ostwand war selbstredend der des Präzeptors, der Platz zu seiner Rechten gebührte dem Sakristan. Gemäß der Rang- und Altersordnung folgten die Plätze der übrigen Chorherren. Zur Linken des Präzeptors, an der Südwand, vermutet Emil Spath die Plätze der Kranken und - an sie anschließend - die der Laienbrüder und der Conversi. Alle hätten demnach freie Sicht auf die Antoniusstatue gehabt, die Emil Spath in der Nische der Westwand vermutet. ⋅3⋅
Wenn dem so ist, dann lassen sich viele Details der eigenartigen Architektur der Porterie erklären. Der Kranke, der sich bei der Zeremonie in der Mitte des Raumes befand, konnte zum Vorsteher der Liturgie aufblicken, ohne von der flach hereinscheinenden Morgensonne geblendet zu werden. Die Ostwand hatte wohl genau aus diesem Grund keine Fenster. Durch die beiden Fenster in der Nordostwand fiel andererseits genügend Licht, damit der Kranke gut gesehen werden konnte. Der Platz des Präzeptors, der die Hausgemeinschaft leitete, befand sich in einer Ecke des Raumes, so wie Christus nach biblischem Bild den Eckstein der Kirche darstellt. Genau entgegensetzt, am anderen Ende der großen Raumdiagonalen aber befand sich die Figur des Antonius, Gründer und Patron des ganze Ordens.
Die Lebensbeichte
Der hohe Teil des Porterie-Raumes
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
In den 1478 reformierten Ordensstatuten sind viele Einzelheiten der Aufnahme eines Kranken minutiös geregelt,
"nur vom Besuch der Messe ist in den Statuten eigenartigerweise nicht die Rede". ⋅4⋅
Darauf zu schließen, dass die Kranken das Sakrament der Eucharistie nicht empfingen, würde allerdings zu kurz greifen.
"Ist das Wichtigste das Selbstverständlichste und allbekannt, weil immerzu getan, bedarf es dazu keiner Anordnung und Erwähnung, nicht mit einer Silbe." ⋅5⋅
Emil Spath verweist auf das Zeugnis des Arztes Hans von Gersdorff, der in seinem in seinem 1517 erschienen "Feldtbuch der wundtartzney" im Kapitel "Von der Abschneydung" den Ärzten, Feldschern folgendes ans Herz legt:
"So soltu den krancken heyssen vor allenn dingen beychten und das heylig sacrament entphahen am anderen tag ee du jn schneydest. und soll der chirurgicus vor messz hören so gibt jm got glück zu seiner würkung." ⋅6⋅
Was der berühmte Chirurg hier als dringenden Rat an jeden "chirurgus" weitergab, war "in sanct Anthonien hoff zu Straßburg und ußwendig des hoffs" - also demnach sicher auch in der Isenheimer Generalpräzeptorei - selbstverständliche Praxis. ⋅7⋅
Emil Spath geht mit Grund davon aus, dass der Empfang dieser Sakramente mit der Aufnahmeliturgie verbunden war und dementsprechend am am ersten Morgen auch gemeinsam gefeiert wurde. Ausgehend von den üblichen Riten der mittelalterlichen Liturgie lässt sich diese Feier dann recht gut rekonstruieren ⋅8⋅:
Mit den Worten "In nomine Patris et Filii et Spritus Sancti" - "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes" - und dem Kreuzzeichen begann der Vorsteher den Gottesdienst, worauf alle mit "Amen!" - "So sei es!" - antworteten.
Gemäß der mittelalterlichen Liturgie der Krankenbuße sprach der Priester dann zuerst ein Gebet für den Kranken und besprengte ihn dann mit Weihwasser. Dieses Erinnerungs-Zeichen an die Taufe, das christliche Initiationssakrament, hatte an dieser Stelle besondere Bedeutung, verwies es doch auf die grundlegende Versöhnung mit Gott, die dem Menschen nach christlichem Verständnis mit der Taufe zuteil wird.
Danach wurde ihm das Aschenkreuz aufs Haupt gestreut. Dieser Brauch hat sich bis heute in der Liturgie des Aschermittwochs erhalten. In Erinnerung an den Bericht der Genesis - des ersten Buches der Bibel -, der davon spricht, dass der Mensch aus dem Erdboden gleichsam getöpfert wurde, wird dem Menschen ein Kreuz aus Asche auf die Stirn gezeichnet bzw. aufs Haupt gestreut. Dies geschieht mit den Worten: "Bedenke Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückehren wirst." In Isenheim wurde dieser Satz entsprechend der damaligen Liturgie natürlich auf Latein gesprochen: "Recordare quia cinis es et in cinerem reverteris".
Gemeinsam mit dem einfachen, sackartigen Gewand, das der Kranke bereits in der "Crota" erhalten hatte, war das Aufstreuen der Asche Inbegriff der Zeichen für Umkehr und Buße. Schon in vorchristlicher Zeit war das Wort von "in Sack und Asche Buße tun" sprichwörtlich geworden. Im alttestamentlichen Buch Jona heißt es etwa:
"Jona begann, in die Stadt hineinzugehen; er ging einen Tag lang und rief: Noch vierzig Tage, und Ninive ist zerstört! Und die Leute von Ninive glaubten Gott. Sie riefen ein Fasten aus, und alle, groß und klein, zogen Bußgewänder an. Als die Nachricht davon den König von Ninive erreichte, stand er von seinem Thron auf, legte seinen Königsmantel ab, hüllte sich in ein Bußgewand und setzte sich in die Asche."
(Jona 3,4-6)
Als weiteres Zeichen kam vermutlich das Scheren der Haare hinzu. Diese "Tonsur" war Zeichen des enthaltsamen Lebens, wozu die Kranken des Antoniterordens als Ordensangehörige schließlich streng verpflichtet waren. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wurde dieser Ritus im Zusammenhang mit der Bußliturgie an dieser Stelle vollzogen. ⋅9⋅
Danach folgten Glaubensbekenntnis, Vaterunser und der Vers "Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, so auch jetzt und in Ewigkeit", das mit dem Kreuzzeichen auf Stirn, Mund und Herz begleitet wurde, dem "signaculum sanctae Trinitatis", besiegelte. Diese Gebete waren vom Kranken - möglicherweise unterstützt vom Priester zu sprechen. Alle beschlossen das Gebet gemeinsam mit "Amen". ⋅10⋅
Zur nun anschließenden Lebensbeichte des Kranken verließen alle, außer dem Beichtvater, den Raum. Vielleicht betete man währenddessen für den Neuaufzunehmenden, möglicherweise den "Schmerzensreichen Rosenkranz".
Zugangstür der Porterie zum kleinen
Verbindungshof zwischen Torgebäude und Kirche.
Foto: Jörg Sieger, Juli 2003
Nach Abschluss des persönlichen Bekenntnisses versammelten sich - gemäß mittelalterlicher Bußpraxis - wieder alle um den Kranken und der Beichtvater sprach sechs Orationen über den Pönitenten. Die dritte Oration, "Adesto, Domine...", lautete auf Deutsch:
"Sei nahe, Herr, unseren flehentlichen Bitten, und nicht fernab von diesem deinem Diener sei das Erbarmen deiner Güte. Heile seine Wunden und lasse ihm die Sünden nach, damit er, durch nichts Unrechtes von dir getrennt, dir als dem Herrn immer anzuhangen vermag. Durch Christus, unsern Herrn" ⋅11⋅
Alle bestärkten durch ihr "Amen".
Emil Spath erinnert an die Nähe dieses Gebets zu dem Zettel, der am rechten unteren Bildrand auf der Altartafel mit der Versuchung des Heiligen Antonius gegen ein Stück Holz gelehnt ist und in gotischen Buchstaben den Ausruf enthält:
"Ubi eras Jhesu bone ubi eras quare non affuisti ut sanares vulnera mea" - "Wo warst du, guter Jesus, wo warst du? Warum bist du nicht dagewesen, um meine Wunden zu heilen?"
Für ihn ist das mit ein Hinweis darauf, dass Meister Mathis in der Zeit, als er am Altar arbeitete, an solchen Aufnahmeliturgien teilgenommen haben mag. ⋅12⋅
Nach dem Bekenntnis und den Gebeten über den Kranken begleitete man denselben aus der Porterie hinaus, vorbei an der "Crota" über den kleinen Hof, hinüber zur Kirche. Durch die Ostpforte gelangte man in den Chor und befand sich nun hinter dem Hochaltar. Hier befand sich, wie das "Inventaire estimatif" von 1793 belegt ein großes Bronzebecken. Dieses hatte man bereits am frühen Morgen vor der Aufnahmeliturgie mit Wasser gefüllt; Wasser, das aus einem extra dafür angelegten Brunnen geschöpft worden war.
Literaturhinweise
Unabhängig davon, dass Männer wie Frauen ohne Unterschied aufgenommen wurden, spreche ich der Einfachheit halber normalerweise von "der Kranke". Damit sind allerdings grundsätzlich auch die Frauen gemeint, die im Spital Aufnahme gefunden haben.
Die Rekonstruktion der Aufnahmeliturgie stützt sich auf
Andreas Jungmann, Die lateinischen Bußriten in ihrer geschichtlichen Entwicklung (Innsbruck 1932)
sowie
Adalbert Mischlewski, Grundzüge der Geschichte des Antoniterordens bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts (Unter besonderer Berücksichtigung von Leben und Wirken des Petrus Mitte de Capraris). (= Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 8) (Köln, Wien 1976).
Ausführlich dargestellt ist sie bei
Emil Spath, Isenheim - Der Kern des Altarretabels - Die Antoniterkirche (Freiburg 1997) Band I, 337-365, 397).
Anmerkungen