Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Das Breisacher Portal
- Vom Lesen einer Bildergeschichte
- Die Wahl des Stephanus
- Die Sendung des Stephanus - seine Predigt
- Säulen und Arkaden
- Von tauben Ohren und einer seltsamen Gestalt
- Die Steinigung des Stephanus
- Ein Blick in den Himmel
Das Tympanon des Breisacher Westportals.
Foto: Jörg Sieger, August 2003
Vom "Breisacher Portal" zu sprechen ist sehr verkürzend. Es handelt sich hier um das Westportal des Münsters, das aber aufgrund der baulichen Situation nicht den Hauptzugang darstellt.
Das spätgotische Tympanon des Westportals wurde von einem unbekannten Künstler um 1330 geschaffen ⋅1⋅. Dieses Sandsteinrelief schildert die Geschichte des Hauptpatrons des Münsters, des Heiligen Stephanus, so wie sie das Neue Testament überliefert.
Vom Lesen einer Bildergeschichte
Im Gegensatz zum "Kreuzigungsbild" , das sich im Inneren, an einem Pfeiler des Langhauses findest, ist diese Darstellung am Westportal eine regelrechte Bildergeschichte, in der eine Handlung in mehreren Abschnitten erzählt wird. Vergleichbar mit neuzeitlichen Comics werden einzelne Szenen nacheinander beschrieben, wobei die handelnden Figuren dem Verlauf der Handlung entsprechend in unterschiedlichen Situationen gezeigt werden. Stephanus ist auf diesem Tympanon dementsprechend auch viermal dargestellt.
Gelesen wird dieses Bild von links nach rechts und von unten nach oben.
Die Wahl des Stephanus
Die Wahl des Stephanus.
Foto: Jörg Sieger, August 2003
Wiedergegeben wird zunächst die Szene, die im 6. Kapitel der Apostelgeschichte geschildert wird:
"In diesen Tagen, als die Zahl der Jünger zunahm, begehrten die Hellenisten gegen die Hebräer auf, weil ihre Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen wurden. Da riefen die Zwölf die ganze Schar der Jünger zusammen und erklärten: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und uns dem Dienst an den Tischen widmen. Brüder, wählt aus eurer Mitte sieben Männer von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit; ihnen werden wir diese Aufgabe übertragen. Wir aber wollen beim Gebet und beim Dienst am Wort bleiben. Der Vorschlag fand den Beifall der ganzen Gemeinde, und sie wählten Stephanus, einen Mann, erfüllt vom Glauben und vom Heiligen Geist, ferner Philippus und Prochorus, Nikanor und Timon, Parmenas und Nikolaus, einen Proselyten aus Antiochia. Sie ließen sie vor die Apostel hintreten, und diese beteten und legten ihnen die Hände auf."
(Apg 6,1-6)
Ein Wesenszug dieser Darstellungen sticht gleich ins Auge. Die sechs übrigen Diakone werden nicht gezeigt. Um sie geht es ja auch nicht. Es wird auf das Nötigste reduziert. Lediglich Stephanus steht hier in der Mitte einer Gruppe von Menschen. Dass es sich um eine Gruppe handelt wird durch die Dreizahl deutlich gemacht. Drei ist nämlich die Anzahl von Menschen, die das "ich" und "du" ins "wir" steigert. Drei Menschen stellen demnach die kleinste wirkliche Gruppe dar. Und um was für eine Gruppe von Menschen es sich handelt, machen Buch und Schriftband deutlich: Schriftrolle und Bücher stehen immer für das Evangelium. Hier haben wir also Menschen vor uns, die das Evangelium verkündet haben.
Damit konnte der mittelalterliche Mensch unschwer auf die Apostel schließen. Die Apostel wählen hier also jemanden aus, dem man die Hand auflegt. Es ist aber nicht nur eine Handauflegung. Eigentlich bekommt der Stephanus einen regelrechten Schubs. Er wird geschickt, gesandt. Er wird ausgewählt und erhält eine regelrechte Sendung.
Die Sendung des Stephanus - seine Predigt
Wozu Stephanus gesandt wird, macht die nächste Szene deutlich. Während die Apostelgeschichte ja zunächst den Eindruck erweckt, als wären die Diakone für den Tischdienst bestimmt, ist davon im weiteren Bericht absolut nicht mehr die Rede. Stephanus tut sich im Neuen Testament dadurch hervor, dass er predigt. Dies streicht auch das Tympanon des Breisacher Münsters als eigentliche Bestimmung des Stephanus heraus. Er steht erhöht und hält den Menschen ein aufgeschlagenes Buch hin, auf das er zudem mit dem Finger deutet - er verkündigt das Evangelium Jesu Christi.
Dabei wird die Gestalt des Stephanus nicht nur durch den Nimbus, den sogenannten Heiligenschein, aus der Menge der anderen Personen herausgehoben, über seinem Haupt findet sich auch eine kleine Arkade.
Säulen und Arkaden
Die Predigt des Stephanus.
Foto: Jörg Sieger, August 2003
Eine Arkade ist ein sprechendes Zeichen. Sie hat sich als Symbol aus der Säule entwickelt.
Eine Säule steht aufrecht, fest verwurzelt auf der Erde und sie reicht mit einem Ende in die Höhe. So ist die Säule in allen Kulturen ein Symbol der Verbindung von unten und oben. Sie gründet im Bezirk des Menschen und reicht in die Sphäre des Göttlichen hinein. Sie verbindet damit beide Bereiche.
Deshalb stehen im frühen Griechenland Säulen vereinzelt und frei in der Landschaft. Sie sagen ganz einfach: Hier ist ein heiliger Ort, ein Ort, an dem sich Himmel und Erde berühren, an dem gebetet werden kann.
Wenn ich nun zwei Säulen mit einem Bogen - jener Form, in der mir der Himmel von der Erde aus erscheint - verbinde, dann entsteht eine Arkade. Und nicht umsonst sind Arkaden von Alters her Himmelszeichen.
Unter solchen Arkaden wurden schon bei den Römern nur Götter, Halbgötter oder Kaiser dargestellt. Bei den Christen wird diese Symbolik übernommen. Christus wird unter einer Arkade sitzend dargestellt. Und Heilige stellt man unter eine Arkade. Diese kleinen Baldachine, unter die man die Heiligenfiguren postierte, erhalten vor allem in der Gotik dann immer mehr die Form von Türmen und Stadtgebilden. Und sie heißen fortan auch "Hierosolymene", "Jerusalemchen". Sie sind zu Symbolen des himmlischen Jerusalems geworden und machen deutlich, dass die Heiligen bereits in diesem himmlischen Jerusalem angelangt sind.
Stephanus steht nun unter solch einer Arkade, die in die Wolken hineinreicht. Und er selbst hat, auf dem Sockel stehend, die Gestalt einer Säule. Der Heilige, der das Evangelium verkündet, wird selbst zu einer Verbindung von unten und oben, von Himmel und Erde. Er weist den Menschen den Weg in die himmlische Wirklichkeit.
Von Tauben Ohren und einer seltsamen Gestalt
Saulus bei der
Predigt des Stephanus.
Foto: Jörg Sieger, August 2003
Aber die Menschen wollen nicht hören. Das wird auf diesem Bild auch deutlich. Sie halten sich die Ohren zu und verschließen sie vor der Botschaft des Stephanus.
Durch ihre seltsamen Hüte sind die verstockten Hörer des Stephanus auch zu identifizieren. Sie tragen den Judenhut und sind dadurch als Juden gekennzeichnet.
Hier klingt die mittelalterliche Zeitgeschichte an. Durch alle Jahrhunderte hindurch ist eine latente Judenfeindlichkeit in den christlichen Gemeinden festzustellen und immer wieder flackerte ein regelrechter Judenhass auf. Nicht nur die Kreuzigung Christi, auch die Verfolgungserzählungen des Neuen Testamentes mussten dafür stets als Rechtfertigung herhalten.
Auffallend in dieser Darstellung ist eine Gestalt, die zu Füßen des Stephanus sitzt und nicht als Jude gekennzeichnet ist. Diese Gestalt hält zudem ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, das sie dem Betrachter entgegenhält und auf das sie mit der Linken verweist. Damit ist diese Gestalt als jemand ausgewiesen, der das Evangelium verkündet hat und bei der Predigt des Stephanus zugegen war.
Es handelt sich hier um die Figur des Saulus-Paulus, der - vor seiner Bekehrung - die Verkündigung des Stephanus beargwöhnt.
Und dieser Saulus-Paulus, der erst in der Folge einer von denen wurde, die das Evangelium Jesu Christi verkündeten, taucht auch im nächsten Abschnitt der Bildfolge wieder auf.
Die Steinigung des Stephanus
Die Steinigung des Stephanus.
Foto: Jörg Sieger, August 2003
Saulus-Paulus wirft nämlich einen Stein - etwas, was im Bericht des Neuen Testamentes so nicht gesagt wird. Aber Saulus hat anfangs die Christen verfolgt und er wird hier deshalb ausdrücklich unter die Verfolger der Christen eingereiht. Auch Saulus-Paulus gehörte zu denen, die die Christen anfangs zu vernichten suchten.
Was die Bibel mit den Worten...
"Saulus aber war mit dem Mord einverstanden."
(Apostelgeschichte 8,1a)
... zum Ausdruck bringt, wird durch diese Darstellung ungeschminkt und ungeschönt verdeutlicht.
Stephanus aber bricht unter dem Steinhagel nicht einfach zusammen. Er kniet vielmehr und betet. Fest im Glauben stehend und für seinen Glauben eintretend hat er sein Leben gelassen. Das bringt der Künstler mit dieser Darstellung dem Betrachter nahe.
Ein Blick in den Himmel
Die Aufnahme des Stephanus in den Himmel.
Foto: Jörg Sieger, August 2003
Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende. Über den Wolken, menschlichen Augen im Normalfall verborgen, vollendet sich das Geschehen erst wirklich.
Der Leichnam des Stephanus liegt aufgebahrt auf einem Hochgrab. Und die Engel kommen herbei, um sich seiner sterblichen Überreste anzunehmen. Im Zentrum steht ein großer Engel. Seine Größe macht bereits deutlich, dass er dem Betrachter die eigentlich wichtige Aussage mitteilt. Er hält eine Gestalt auf dem Arm, die nur auf den ersten Blick an ein Kind erinnert. Der Kopf ist nämlich keineswegs der eines Kindes. Es ist der des Stephanus.
Diese Gestalt stellt die "anima", die Seele des Stephanus dar, die nun von diesem großen Engel in die himmlische Wirklichkeit getragen wird.
Du bist gerufen zur Nachfolge Christi, du bist erwählt, sein Evangelium den Menschen weiterzusagen. Damit kannst du anderen den Weg zum Himmel zeigen. Und selbst wenn es niemand hören möchte, selbst wenn du deshalb dein Leben verlierst, genau auf diesem Weg gelangst du selbst in die himmlische Wirklichkeit, die dir als Ziel verheißen ist. Das wird dem Betrachter des Tympanon am Beispiel des Münsterpatrons vor Augen geführt.
Literaturhinweise
Grundlegendes zum Breisacher Münster ist zusammengestellt in:
Gebhard Klein, Das Breisacher Sankt Stephansmünster (Breisach, 3. Auflage 2002).
Zum Westportal und seinem Tympanon besonders: Seite 69.
Zur Symbolik im Allgemeinen:
Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole - Bilder und Zeichen der christlichen Kunst (Köln 8. Auflage 1984)
sowie
Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster (Freiburg 4. Auflage 1985).
Anmerkung