Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Bücher, Schränke und eine Truhe
Die Verkündigung spielt sich in einem ganz eigenen Raum ab. Die gotische Architektur lässt nur auf den ersten Blick an eine Kapelle denken; vor allem die Einrichtung und die aufgereihten Bücher im rückwärtigen Bereich kennzeichnen den Raum nämlich als Sakristei - jenen Nebenraum eines Kirchengebäudes, in dem die liturgischen Gewänder, Gerätschaften und Bücher aufbewahrt werden und die Zelebranten sich für den Gottesdienst ankleiden. Es ist der Raum der Vorbereitung.
Ein Raum der Vorbereitung und seine Einrichtung
Einrichtung einer Sakristei.
Meister Mathis wählt für seine Darstellung der Verkündigung nicht den Hintergrund der Stadt Nazareth oder eines Hauses dort. Er verlegt die Ankündigung der Geburt des Erlösers in eine Sakristei; das Thema der Adventszeit - der Vorbereitungszeit auf das Weihnachtsfest - breitet er im Vorbereitungsraum einer Kirche aus.
Emil Spath weist auf die Fülle der Details hin, die von den Fähigkeiten des Malers zeugen: Unterhalb der Fenster sind selbst die Spuren angedeutet, wie sie eingedrungenes Wasser auf solchen Fensterschrägen hinterlässt und am oberen Schnitt des geöffnet vor Maria liegenden Buches erkennt man sogar einen Staubrand ⋅1⋅.
Spath meint im übrigen die Bücher, die im hinteren Teil des Raumes im Regal stehen, identifizieren zu können. Seiner Meinung nach stehen sie stellvertretend für die Schriften des alten Testamentes. Auch die dargestellten Bücher würden demnach den Zeitraum der "Vorbereitung", also die Zeit von Anbeginn der Welt bis hin zur Ankunft des Erlösers, beschreiben. Das größte der Bücher in diesem Regal, soll für die Torah, das "Gesetz des Mose", stehen. Daneben erkenne man - stellvertretend für die übrigen Schriften - die Bücher der großen Propheten Jeremia, Ezechiel und Daniel. Das Buch des Propheten Jesaja, das in dieser Reihe dann noch fehlt, läge oben auf. Auch damit sei angedeutet, dass es bei der Verkündigung der Geburt des Gottessohnes um die Verheißung des Jesaja geht. ⋅2⋅
Genauso sinnvoll dürfte es aber sein, hier ganz einfach Bücher dargestellt zu sehen, wie sie eben in jeder Sakristei vorhanden sind: jene Bücher nämlich, die für den Gottesdienst benötigt werden.
Texte an der Wende vom Alten zum Neuen Bund
Zwei Bücher in diesem Raum spielen jedoch eine ganz eigene Rolle. Es sind die beiden Folianten, die vor Maria auf der Truhe liegen - eines geschlossen, eines geöffnet. Wieso Heinrich Geissler davon spricht, dass Maria bei der Lektüre des Breviers, des monastischen Stundengebetes, sei ⋅3⋅, bleibt unklar. Im geöffneten Buch begegnet zunächst einmal einfach die Verheißung des Propheten Jesaja in der lateinischen Übersetzung:
"Ecce virgo concipiet et pariet filium et vocabitur nomen ejus emanuel. But(y)rum et mel comedet, ut sciat reprobare malum et eligere bonum."
zu Deutsch:
"Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, sie wird einen Sohn gebären, und sie wird ihm den Namen Immanuel [Gott mit uns] geben. Er wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen."
(Jesaja 7,14-15)
Emil Spath deutet das Buch als "Buch der Propheten", das mit dem aufgeschlagenen Jesajazitat deutlich mache, dass genau jene Verheißung nun Wirklichkeit werde. Das Lesezeichen liegt seiner Meinung nach sogar ganz bewusst in irgend einer weiteren messianischen Stelle des Propheten, etwa Jesaja 11,10, wo davon gehandelt wird, dass der Spross aus der Wurzel Jesse als Zeichen für die Völker dastehen wird. ⋅4⋅
Unter dem Prophetenbuch läge das Buch des Gesetzes, auf jener Truhe, die Spath an die Bundeslade erinnert. ⋅5⋅ Das Gesetz sei nun geschlossen, denn ...
"Als (...) die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen."
(Gal 4,4-5) ⋅6⋅
Eigenartigerweise geht Spath - wie die meisten Autoren, nicht darauf ein, dass der Text im hier dargestellten, aufgeschlagenen Buch ja gar nicht der Folge des Jesajabuches entsprechend wiedergegeben ist. Nach dem bereits erwähnten Zitat von Jesaja 7,14-15 beginnt der Text in der Darstellung des Meister Mathis schließlich noch einmal von vorne. Genau genommen ist auf dem Bild zu lesen:
"Ecce virgo concipiet et pariet filium et vocabitur nomen ejus emanuel. But(y)rum et mel comedet, ut sciat reprobare malum et eligere bonum. Ecce virgo concipiet et pariet filium et vocabitur nomen ejus emanuel."
Geöffnetes und geschlossenes Buch.
Henri Schreck ist einer der wenigen, der diesen Umstand erwähnt. Für ihn heißt die Wiederholung, dass Maria diesen Satz des Propheten betrachtet. Er wird wiederholt, also erwogen, wie Schreck schreibt. ⋅7⋅ Andernorts bietet die teilweise Wiederholung des Textes Anlass zu allerlei esoterischen Spekulationen.
Vielleicht kommt man der Bedeutung dieser Szene näher, wenn man das Ensemble der beiden Bücher mit dem Gewand Marias zusammen betrachtet. Auffallen muss schließlich, dass der Mantel ehrfurchtsvoll unter das heilige Buch - wie Heinrich Geissler es ausdrückt - geschoben ist ⋅8⋅. So wird das geschlossene dunkelgrüne Buch vom blauen Mantel der jungen Frau nahezu bedeckt. Die Verbindung zwischen den beiden Büchern wird demnach durch die den Glauben symbolisierende blaue Farbe gebildet.
Maria liest in der Heiligen Schrift - und das heißt für sie und ihre Zeit: in den Büchern des Alten Bundes, im Alten Testament. Der Text, den sie betrachtet, spricht von der Liebe und Zuwendung Gottes zu uns Menschen, was schon die rote Farbe des Einbandes zum Ausdruck bringt. Das Hoffnungsbuch mit seinem grünen Einband, das Neue Testament, ist noch fest geschlossen. Das Geschehen, wovon es künden will, soll nun beginnen. Durch das im Glauben gesprochene "Ja-Wort" Marias, durch ihre Antwort - "Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast." (Lukas 1,38) - wird dieses Geschehen nun ermöglicht.
Die Annahme, dass hier der Übergang von Altem zu Neuem Testament ins Bild gebracht wird, hat einiges für sich. In diesen Zusammenhang passt auch die scheinbare Doppelung des Jesajazitates. Diese Worte finden sich schließlich auch in der Heiligen Schrift zweimal: Einmal in der längeren Form - wie bereits angeführt - im siebten Kapitel des Jesajabuches, zum anderen aber auch als Hinweis auf die Erfüllung dieser alttestamentlichen Verheißung im ersten Kapitel des Matthäusevangeliums (1,23). Bei der neutestamentlichen Stelle fehlt der Satz "Er wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen." Bei Matthäus wird der Jesajatext lediglich in der Form zitiert, wie er auch auf dem Verkündigungsbild zu lesen ist. Im Matthäusevangelium folgt zusätzlich nur noch der Hinweis, dass "Immanuel" übersetzt "Gott mit uns" bedeute.
Dies könnte die Erklärung für die eigenartige Form des Textes sein. Es würde sich dann nämlich um eine gleichzeitige Wiedergabe beider Stellen handeln: der altestamentlichen Jesaja-Verheißung gemeinsam mit dem Erfüllungszitat des Matthäusevangeliums. Durch die Antwort Marias geht das prophetische Wort des Jesaja in Erfüllung - veranschaulicht durch das geöffnete Buch und das Zitat aus dem siebten Kapitel - und die Zeit des Neuen Bundes beginnt - dargestellt durch das vom Mantel der Gottesmutter halb verdeckte, geschlossene Buch und das Zitat aus dem allerersten Kapitel des Neuen Testamentes überhaupt: Das erste und grundlegende "Wort" des Neuen Bundes wird als Erfüllung der messianischen Verheißung gleichsam in diesem Augenblick geschrieben.
Literaturhinweise
Vergleiche vor allem:
Heinrich Geissler, Der Altar - Daten und Fakten im Überblick, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 38-216,
Henri Schreck, Die Botschaft es Isenheimer Altars (Colmar 1977).
Umfassend, aber auch sehr spekulativ:
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 41, 44, 104-108.
Anmerkungen