Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Das "Jüngste Gericht" - Fortsetzung
Die Südwand des jüngsten Gerichtes.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
- Der Zug der Seligen zum Paradies
- (K)ein Bild vom Himmel
- Einen Vorgeschmack auf den Himmel
- Die kleine und die große Pforte
- Schongauers Höllendarstellung
- Ein Mönch in der Hölle
An der Südwand der Westhalle im Breisacher Münster findet das Bild des "Jüngsten Gerichtes" seine Fortsetzung. Die Seligen reihen sich ein, in eine große Prozession, die zum Paradies führt.
Der Zug der Seligen zum Paradies
Das 14,4 x 7,3 m große Bild ist stark beschädigt und manche Details nur noch erahnbar. Schwach erkennbar ist eine große Engelsgestalt, die den Zug der Menschen empfängt. Sie steht ganz links und trägt ein langes weißes Gewand. An der Spitze der Menschen stehen Papst und Bischöfe, gefolgt vom Kaiser und adligen Frauen. Dann - unterbrochen vom großen Fenster - führt ein weiterer Engel Bürger und Bauern.
Der moderne Mensch ist gleich geneigt zu sagen: 'Alles wie gehabt. Zuerst kommen die Reichen, dann die Armen.' Für den mittelalterlichen Menschen war die Aussage aber eine andere: Der Klerus - der sogenannte erste Stand -, der Adel - der zweite Stand - und alle übrigen Menschen, die sich im sogenannten dritten Stand wiederfanden, zogen hier zum Paradies. Also erster, zweiter und dritter Stand gemeinsam - die ganze mittelalterliche Gesellschaft, alle Menschen überhaupt, waren hier auf dem Zug in jene neue Dimension von Leben, die wir mit dem Wort Paradies umschreiben.
Papst und Kaiser auf dem Weg ins Paradies.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Bauern und Bürger auf dem Weg ins Paradies.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
(K)ein Bild vom Himmel
Wohin all diese Menschen unterwegs sind, bleibt unserem Blick jedoch verborgen. Zu sehen ist lediglich das große Tor. Ein stark gewundenes Schriftband über den schon nahe an der Paradiesespforte stehenden Seligen zitiert abgewandelt einen Text aus der "Philosophiae Consolatio" des Boethius (480-546 n. Chr.) . Dieser - nicht nur für uns heute - schwer verständliche Text, erschließt uns die himmlische Wirklichkeit in keiner Weise. Er ändert nichts daran, dass der Blick hinein durch eine Balustrade verstellt bleibt.
Engel mit Musikinstrument.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Engel mit Noten.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Es gibt aber einen Hinweis darauf, was uns Menschen hinter dieser Wand erwartet. Und diesen Hinweis geben uns die Engel, die auf der Balustrade zu sehen sind. Sie musizieren nämlich. Deutlich zu erkennen ist ein Engel, der Laute spielt, und ein regelrechter Engelchor mit einem Notenblatt. Hier herrscht Musik - das schönste, was sich der mittelalterliche Mensch überhaupt vorstellen konnte.
Der Lettner im Breisacher Münster.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Um dies zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, wann der Mensch in der damaligen Zeit überhaupt Musik erleben konnte. Der Gottesdienst war noch ganz dem gregorianischen Choral vorbehalten. Musik mit Instrumenten gab es eigentlich nur bei den Festen, den Jahrmärkten und ausgelassenen Feiern, die den Alltag durchbrachen und auf die man sich dementsprechend auch jedes Mal voller Erwartung freute. Wie solch ein Fest, mit Musik und ausgelassener Freude, das ist die einzige Kategorie, mit der diese jenseitige Wirklichkeit zu beschreiben ist.
Eine Inschrift an der Südwand - fast ein Plakat - bringt dies noch einmal ins Wort .
Einen Vorgeschmack auf den Himmel
Wenn uns Menschen aber auch der Blick in den Himmel derzeit noch versperrt bleibt, einen Vorgeschmack davon haben wir schon jetzt - auch das möchte das Bild dem Betrachter deutlich machen.
Die Balustrade, die den Blick verstellt, gibt es schließlich noch einmal in Breisach, nämlich in Form des Lettners, der den Chorraum vom Schiff des Münsters trennt.
Dort aber, hinter jener Wand, die zur Zeit eines Martin Schongauers noch weit geschlossener war, als sie sich heute darbietet, steht der Hochaltar: Symbol der Gegenwart Christi, auf dem dieser, nicht zuletzt im Sakrament der Eucharistie, mitten unter den Menschen weilt - ein Stück dieses Himmels, dieser jenseitigen Dimension der Wirklichkeit, schon jetzt erlebbar und spürbar.
Und die Mitfeier dieses Geheimnisses ist auch Hilfestellung und Orientierung, so etwas wie eine Anleitung, um am Ende selbst bei diesem Zug der Seligen ins Paradies eingereiht zu sein.
Denn ganz so einfach ist es nicht. Ganz ohne den persönlichen Einsatz geht es nicht - auch das möchte das Bild Schongauers den Menschen vor Augen führen.
Die kleine und die große Pforte
Die Südwand des Breisachers Münsters weist nämlich eine kleine Tür auf, durch die kaum jemand geht. Sie führt lediglich zu einem Treppentürmchen und ist so niedrig, dass man nicht hindurchgehen kann, ohne sich zu bücken.
Eine kleine Pforte.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Der eigentliche Haupteingang des Münsters.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Nicht umsonst trägt sie den Spitznamen "Nadelöhr", denn..
"... eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt."
(Matthäus 19,24)
oder
"Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit, und viele gehen auf ihm."
(Matthäus 7,13)
Die Hölle.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Und dieses breite Tor findet sich genau gegenüber: Es ist der eigentliche Haupteingang des Münsters, von dem die Menschen damals über den Friedhof her kamen und der auch heute noch den eigentliche Zugang zum Kirchenraum darstellt. Dieses Tor durchschneidet die Fortsetzung des Gemäldes vom "Jüngsten Gericht" an der Nordwand.
Schongauers Höllendarstellung
Auf der Nordseite, der Seite, auf der die Sonne nie scheint, wird nun das Schicksal der Verdammten in allen Farben und Formen ausgemalt, zu dem die Phantasie des Menschen überhaupt fähig ist. Große und kleine Teufel, die miteinander an Hässlichkeit und Grässlichkeit zu konkurrieren scheinen, quälen die Menschen, in einem die ganze Wand ausfüllenden Höllenfeuer.
Wenn die Gemeinschaft mit Gott die Erfüllung aller menschlichen Sehnsüchte darstellt, wenn der Himmel, das Erfüllendste ist, was Menschen zu denken in der Lage sind, dann kann das Gegenteil davon, die absolute Gottferne, nur das Schrecklichste sein, was man sich vorstellen kann. Und genau dies versucht Schongauer hier ins Bild zu bringen: das Furchtbarste, was man sich überhaupt ausmalen kann.
Um das Bild richtig einordnen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass zur Zeit als Schongauer hier arbeitete, in Breisach die Pest wütete. Dieses Gemälde entstand vermutlich unter dem Eindruck der Pest und bringt die ganzen Schrecken dieser Zeit ins Bild. Schongauer war möglicherweise selbst an der Pest infiziert und starb in Breisach vermutlich am 19. Mai 1491. Was er uns hier hinterlassen hat, ist gleichsam das Testament dieses großen Künstlers.
Ein Mönch in der Hölle
Ein Mönch in der Hölle.
Fotoz: Jörg Sieger, August 2003
Bleibt noch der Hinweis auf ein kleines Detail, links neben der Tür in der Höllendarstellung des Breisacher "Jüngsten Gerichtes". Hinter den nach oben gerissenen Händen eines Mannes ist nämlich ein nur halb zu erkennender Kopf zu sehen, der aber durch die Tonsur eindeutig als Haupt eines Mönches zu identifizieren ist.
Wie alle drei Stände - die ganze mittelalterliche Gesellschaft - auf dem Weg zum Paradies ist, so ist auch jeder Mensch in der Gefahr, am Ende in der absoluten Gottferne zu landen.
Wenn man das Breisacher Münster betritt, fällt als erstes der Blick auf den Zug der Menschen in das Paradies. Als ob uns das Bild sagen wollte: "Hier erfährst du von Gott und über den Weg, den du als Mensch gehen kannst, um selbst zu dieser Schar zu gehören." Und das letzte, was man sieht, bevor man das Münster wieder verlässt, ist die furchteinflößende Höllendarstellung - "Nichts ist jetzt zu Ende. Das was du hier gesehen und gehört hast, gilt es nun ins Leben umzusetzen; es muss sich bewähren. Denn denke daran, niemand ist davor gefeit: Selbst der Mönch, jeder - auch du - steht in der Gefahr, das Ziel seines Lebens zu verfehlen und am Ende zu den Verworfenen zu gehören."
Literaturhinweise
Grundlegendes zum Breisacher Münster ist zusammengestellt in:
Gebhard Klein, Das Breisacher Sankt Stephansmünster (Breisach, 3. Auflage 2002).
Zu Martin Schongauer und dem "Jüngsten Gericht" vergleiche vor allem:
Joseph Sauer, Der Freskenzyklus im Münster zu Breisach (Freiburg i. Br. 1934),
Bernd Mathias Kremer, Martin Schongauer und Breisach - Zu 500. Todestag des Malers und Kupferstechers, in: Badische Heimat (4/1991)
Hans-Jürgen Treppe, Restaurierung des St. Stephansmünsters zu Breisach a. Rh. - Vorbereitung - Planung - Ausführung, , in: Badische Heimat (4/1991)
Gebhard Klein, Martin Schongauer und das "Jüngste Gericht" im Breisacher St. Stephansmünster, Schriftenreihe des Münsterbauvereins Breisach e. V., Nr. 2, (Breisach 1998).
Vergleiche zu den Inschriften:
Mischa von Perger, Die Inschriften in Martin Schongauers "Jüngstem Gericht" im Breisacher Münster, (in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 63, Heft 2, 2000, 153ff).
Die Ergebnisse sind zusammengefasst in:
Erwin Grom, Was bedeuten die Inschriften in Martin Schongauers "Jüngstem Gericht"?, in: Hermann Metz, Erwin Grom, Unser Münster - Die Informationsschrift des Münsterbauvereins Breisach e. V. (2003/2) 3-5
Zur Symbolik im Allgemeinen:
Gerd Heinz-Mohr, Lexikon der Symbole - Bilder und Zeichen der christlichen Kunst (Köln 8. Auflage 1984)
sowie
Konrad Kunze, Himmel in Stein - Das Freiburger Münster (Freiburg 4. Auflage 1985).