Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Grünewalds Heilkräuterkunde
von Lottlisa Behling ⋅1⋅
Die ganz besondere eigene und neue Weise, mit der Mathis Gothart Nithart, genannt Grünewald, in seiner Malerei die großen mittelalterlichen Themen aufgreift und vorträgt, ist nun auch seinen Pflanzendarstellungen eigentümlich. Selten - mit Ausnahme bei Dürer - begegnete man bisher einem solchen Wohllaut pflanzlicher Form, solcher hingebungsvollen Einfühlung in das Wesen pflanzlicher Erscheinung, einer so tiefgründigen Verbindung von Pflanze und Mensch nach Gestalt und Symbol.
Besonders die Standflügel zu dem Hellerschen Altar Dürers im Staedel-Museum zu Frankfurt a. M. und in den Fürstlich-Fürstenbergischen Sammlungen zu Donaueschingen mit vier Heiligen sind reich an pflanzlichem Schmuck, der eben nicht nur Schmuck ist. Die Pflanzen sind wie die Figuren als Grisaillen gemalt, ohne leuchtende Farben, aber in dieser Grau-Weiß-Malerei, untermischt mit einem feinen gemischten Ton, wo hier und da ein Blatt im Lichte sich heller hervorhebt, entfaltet sich ein reiches Leben der Bewegung. Eine Hopfenranke legt sich geschmeidig mit wagerecht abstehenden oder in Auf- und Untersicht gemalten Blättern und zahlreichen Fruchtzapfenständen um das Haupt des heiligen Laurentius, dessen Dalmatica mit mächtiger Gebärde sich in den Sprossen des Rostes verfängt, und hinter seiner Schulter, sehr schön an den langen Kelchzähnen der Frucht zu erkennen, wachsen drei Zweige des Mispelbaumes (Mespilus germanica L. Über die Bedeutung des Hopfens (Humulus Lupulus L.) gehen allerdings die Meinungen der mittelalterlichen Autoren auseinander. Ad utilitatem hominis non multum utilis est, quia melancoliam in homine crescere facit, et mentem hominis tristem parat, et viscera ejus gravat, sagt Hildegard von Bingen ⋅451⋅. Sie weiß auch, daß durch Zusatz von Hopfen die Fäulnis von Getränken verhindert wird.
Was die Melancholie anbelangt, so ist der Kompilator des Gart anderer Ansicht: Ite hoppen genutzet drybet vß die melancoly das ist das swere geblůde vo dem menschen. Auch sonst ist er nützlich: vn ist auch vo natuer vfflósen zytegen vn vff zu thůn geswern am lybe welcherley die syn mögen. Ferner: Den safft vo hoppen warm in die oren gelaissen benympt den eyter darvß vn das sweren ⋅452⋅. Seine heiße und trockene Natur (calidus et aridus) ist wie eine adaequate Begleiterscheinung zu dem Feuermartyrium des heiligen Laurentius.
Eine vorzügliche Beschreibung von dem Habitus der Pflanze gibt Konrad von Megenberg: daz ist gar ain langez kraut und praitet sein arm auf die paum und auf die mauren, dâ pei ez wechset, sam ain prâmperstaud, die ze latein vepres haizent ⋅453⋅.
Hieronymus Bock ⋅454⋅ empfiehlt den Saft bei Vergiftung und Fieber: ... jungen Hopffen inn der Speiß / genossen / oder auch sonst die Hopffen blůme in Wein gesotten vnd getruncken / wúrt ein köstliche artzney sein für vergifft / vnd was der mensch schádlichs bey jhm hat ... Syrup auß Hopffen gemacht vnd eingenommen / ist treffenlich gůt für Feber / die vo der Gall vnd entzúndtem geblút entstahn. Im übrigen sind die Hopfenblumen für ihn hauptsächlich der Biersieder wurtz / dann ohn dise blůmen wúrt man nicht vil gůts Biers mógen machen.
Warum mag Grünewald dem Heiligen aber noch die Mispel (Mespilus germanica L.), den nespelbaum, beigegeben haben, von dem der Verfasser des Mainzer Gart erwähnt, daz disser baum habe bletter glich dem qwidden baum bletter und seine Frucht stärke den Magen ⋅455⋅. Die dúrren bletter zů Puluer gestossen vnnd eingestrewet / hefften Wunden zůsamen / vnd stellen das Blút, berichtet Hieronymus Bock ⋅456⋅.
Von der verwandten Quitte aber heißt es im Mainzer Gart: Eyn latwergen gemacht von quidden krefftiget alle glieder des menschen vn benympt vnnatuerlich hitz ... Ite das feucht vo den kernen gemischet mit zucker vn daz gehalten in der kelen oder in de mude heylet die verwute kele vn benympt die scherpffe der zugen vnd feuchtet den mudt vn verzeret den dorst ... ⋅457⋅.
An Stelle von Hopfen und Mispel wölbt ein Feigenbaum sein Schattendach über dem heiligen Cyriacus, der die von dem bösen Geist besessene Tochter Artemia des Kaisers Diokletian heilt. Der auch hinter dem Vorhang des Goldtempels auf dem Isenheimer Altar sich ausbreitende Baum spielt in der Malerei um die Wende zum 15. Jahrhundert eine bedeutende Rolle: Bei Hans Burgkmairs Maria mit dem Kinde von 1509 im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg, bei seinem Evangelisten Johannes auf Patmos von 1518 in München ist er zu finden, desgleichen auf mehreren Bildern von Holbein d. J. (Hl. Ursula, 1522, Karlsruhe, Darmstädter Madonna des Bürgermeisters Meyer) ⋅458⋅.
Nach alttestamentlicher Vorstellung versinnbildlicht der Feigenbaum den Frieden des messianischen Reiches (Micha 4, Vers 4; Macc. 14,11ff) ⋅459⋅, den wahren Frieden, der auch der armen, besessenen Königstochter Artemia zuteil werden soll. Hildegard von Bingen ⋅460⋅ empfiehlt die Frucht für den gesunden Menschen nicht, dagegen für den Kranken: Infirmo autem qui in corpore deficit, bonus est ad comedendum, quia mente et corpore deficit, et ille eum comedat usque dum melius habeat, et postea eum devitet.
Dem Kranken aber, der körperlich leidet, ist sie gut zur Speise, weil er an Geist und Körper schwach ist, und jener verzehre sie, bis es ihm besser geht, und später meide er sie.
Der besänftigende Charakter des Feigenbaums wird ferner von Konrad von Megenberg betont ⋅461⋅: Er (Isidorus) spricht auch, daz der veigenpaum sô grôzer kreft sei, pinde man ainen gar wilden grimmen ochsen dar an, er werd zam und sänftig. Das gleiche erzählt Hieronymus Bock.
Für Pestilenz und Epilepsie empfiehlt sie der Gart der Gesundheit: Die fygen gesotten mit ysop vn die deß morgens nuchtern genutzet synt fast gut für die pestilentz. Vnd also genutzet benemen sye die wassersucht. Vnd synt auch gůt epilenticis das ist die de fallenden siechtagen haben ... ⋅462⋅.
Aber gegen den Reichtum der Pflanzen, die sich neben der heiligen Elisabeth auf einer der beiden jüngst für die Fürstlich-Fürstenbergischen Sammlungen zu Donaueschingen angekauften Tafeln ausbreiten - diese Tafeln gehörten ebenfalls ursprünglich zum Heller Altar und waren bis dahin verschollen -, kommen die Frankfurter Tafeln nicht auf. Der Heiligen, deren vornehmstes Anliegen es war, sich den Armen und Kranken zu widmen, sind die heilenden Kräuter zugleich als Attribut, als Symbol ihres Dienstes an den Kranken beigegeben. Und half ihnen mit Arznei und trocknete sie mit dem Tuch ihres Hauptes und rührte sie an mit ihren Händen, das doch ihre Mägde nicht mochten tun, steht bei Jacobus de Voragine ⋅463⋅. Wieder ist es der Baum des Friedens, ein Zweig vom Feigenbaum, der die Nische mit der heiligen Elisabeth oben bekrönt. Er rankt sich um einen horizontalen Stab, aber sein Sproßende hängt noch in die Nischenwölbung herein und weist gleichsam mit der alten Gebärdensprache des Mittelalters auf die demütig dienende Herrin von Thüringen, die sich mit Speise und Trank auf den Weg zu den Armen aufgemacht hat. Vom Boden her steigen die Pflanzen in verschwenderischer Fülle auf, so daß der Saum ihres pelzbesetzten Gewandes sie streift und es aussieht, als ob einige der Blätter sich liebevoll zu der Heiligen herüberneigten. Vornehmlich drei Heilkräuter sind es, die sich hier unterscheiden lassen: Der blutstillende Odermennig (Agrimonia Eupatoria L.), von der Tafel des Meisters von Flémalle mit der heiligen Veronica her bekannt ⋅464⋅, legt sich mit feinzerteilten Fiederblättern quer über den Weg. Vor allem aber ist es die Wegmalve (Malva neglecta Wallroth), die sich in einer stattlichen Pflanze hier vor Elisabeth erhebt, indem sie ihre schönen tellerartigen, 5-7lappigen Blätter wie Fächer ausbreitet. In allen Stellungen, bald in Aufsicht oder tütenförmig zusammengerollt, entfalten sie sich, mit den kreisrunden Früchten in den Blattachseln, die der Außenkelch überragt. In großartiger Kraft und Pracht wächst die Pflanze aus dem Boden, ein altes heilkräftiges Volksmittel von lindernder, zerteilender Wirkung, dessen sich die heilige Elisabeth bei ihren Krankenbesuchen sicher bediente. Die Art, wie die Malve hier von Grünewald dargestellt ist, entspricht der Beobachtung ihrer Lichtempfindlichkeit (Phototropismus), von der die alten Schriftsteller immer wieder reden. Bei Hildegard von Bingen ist sie ein Heilmittel für den kranken Magen: Illis autem qui infirmum stomachum habent bonum est cocta et nova contesta ⋅465⋅. Albertus Magnus' glänzende Beschreibung erfaßt auch hier wiederum mit wenigen Worten die ganze Gestalt: Malva est herba Habens folia sicut luna, quae amphicircos est, et sicut superficies, quae est portio maior semicirculo, et circumferentia deficit ad cotyledonem folii; et habet crura sua longa super terram expansa. Florem autem albidum in modum pyramidis formatum, qui hoc habet proprium, quod inclinatur ad solem ubicunque fuerit, in mane quidem ad orientent, et in sero ad accidentent, et in meridie stat erectus. Et huius causa est, quod est subtilis, substantiae humidae, humore subtili, qui, cum extrahitur per solem, contrahitur et inclinatur ad eam, et alia pars inflectitur super partent contractant: et hoc est idem in pluribus floribus. Est autem frigida et humida, mollificans et laxans, et supposita, ut dicunt, statim eiicit foetum ⋅466⋅.
Die Malve ist ein Kraut, das Blätter hat wie der Mond, welcher nach beiden Seiten gekrümmt ist, und wie eine Oberfläche, die ein Teil größer ist als ein Halbkreis, und der Umkreis mangelt dem Keimblatt des Blattes; und sie hat ihre langen Schenkel über der Erde ausgebreitet. Sie hat aber (zu ergänzen ist "habet") eine weißliche Blüte, nach Art einer Pyramide geformt, die das Eigentümliche hat, daß sie sich zur Sonne neigt, wo immer sie sein wird, des Morgens nämlich gen Osten und am Abend gen Westen, und am Mittag steht sie aufrecht. Und der Grund davon ist, daß sie zart ist, von feuchter Substanz, von zarter Feuchtigkeit, die, wenn sie von der Sonne herausgezogen wird, sich zusammenzieht und sich zu ihr neigt, und der andere Teil krümmt sich über dem zusammengezogenen: und dies ist dasselbe in mehreren Blumen. Sie ist aber kalt und feucht, erweichend und erweiternd, und darunter gelegt, treibt sie sogleich, wie man sagt, die Geburt heraus.
Auch hier übernimmt Konrad von Megenberg wiederum von Albertus Magnus die Beschreibung, namentlich auch den Hinweis auf die phototropische Reaktion: daz kraut ist gemain und wol erkant und hat ain weiz pluomen, diu ist länkelot und naigt sich diu pluom alzeit gegen der sunnen: des morgens gegen der sunnen aufganch, des âbents gegen der sunnen underganch und in mittem tag stêt si aufgerecht. daz kraut ist kalt und fäuht und waicht und öffent den leip, und wenn man ainen undersatz dar auz macht ainer swangern frawen, sô wirft ez ir die gepurt zehant auz, als man spricht ⋅467⋅. Die lindernde und zerteilende Wirkung wird im Mainzer Gart der Gesundheit klar hervorgehoben: Der meister Auicenna spricht daz bappeln wůrtzel vnd auch der samen sy senfftiglichen weychen vn von eyn ander deylen. / Diascorides spricht daz diß krut mit der wůrtzel sal gesotten werden also daz das wasser gantz in syede so blybet dan klebericht materie in dem geschirre do inne eß gesotten hait. Diß selbe materie ist gar gut vff geswern geleyt. sye weychet vn deylet vo eyn ander gar balde. / Das wasser do mit bappeln gesotten wirt gemischet mit baum óle vnd eynwenig wachs ist gar eyn gůt salbe vmb die geswere gestrichen. / Der meister Diascorides spricht daz die frischen bletter gar gůt syn gesotten vn vff die frischen wonden geleyt sye heylen vff stundt. / Die blomen gekochet mit mulsa oder mit wyn vn darnach die gestoissen heylent scrofulen das synt hart bulen vnd auch ander bóse geswern. / Also genutzet benympt eß den wee in dem afftern ⋅468⋅.
Von den ebenfalls zu den Malvaceen gehörigen Herbst- oder Ernrosen sagt Hieronymus Bock: Dise grosse Winter Rosen ziehlet man vom samen / welcher zů rings vmb wie ein runds Káßlein inn eim grúnen wollechten húlsen zůsamen verfaßt ist ... Pappel kreutter vnd wurtzel / mit Fenchel vnd ánis gesotten in Wein vn gedruncken / bringt den Seugerin vil Milch. Hilfft auch den Frawen in der geburt ⋅469⋅.
Schon bei den antiken Schriftstellern, Hesiod, Dioskurides, Plinius, hochberühmt, wird sie auch dort wegen ihres großen Gehaltes an Schleim für Darmbeschwerden, zu Umschlägen gegen Brand und bei Gebärmutterleiden empfohlen. "In der heutigen Volksmedizin", so schreibt H. Marzell, "werden Blätter und Blüten der Roßpappel (M. silvestris L.) sowie der gemeinen Malve noch häufig verwendet, und zwar innerlich als schleimlösendes, reizmilderndes Mittel, äußerlich zu erweichenden Umschlägen" ⋅470⋅.
Sie spielt im Volksglauben eine bedeutende Rolle: Im Elsaß wird die gemeine Malve am Kreuzerhöhungstag (14. Sept.) vor Sonnenaufgang gegraben und um den Hals gehängt ⋅471⋅. Auch im Volksorakel, ob ein Weib Kinder bekommen werde, wird sie nach einer Breslauer Handschrift des 15. Jahrhunderts befragt ⋅472⋅. Wertvoll erscheint mir an dieser Stelle der Hinweis von Christian Altgraf Salm, "daß die Darstellung Mariae Himmelfahrt auf Dürers zerstörtem Mittelbild vielleicht mit der Feier der Kräuterweihe am Himmelfahrtstage (15. August) zusammenhängt" ⋅473⋅, woraus sich die zahlreichen Pflanzen auf den Standflügeln Grünewalds mit einer noch tieferen Begründung erklären ließen.
Nach der recht sorgfältigen Bestimmung der Pflanzen auf der Donaueschinger Elisabeth-Tafel, die Graf Salm zusammen mit Rektor Wacker, Donaueschingen, durchführte, sind dort noch zwei Heilkräuter dargestellt: Ein Labkraut (Galium sp.) - die genaue Bestimmung von Galium verum L., wie Salm meint, scheint mir nicht wahrscheinlich, da bei diesem die Blätter am Rande eingerollt sind ⋅474⋅ - und ganz rechts, etwa in Höhe der Kanne der heiligen Elisabeth, das gemeine Hornkraut (Cerastium caespitosum Gilibert). Das Labkraut, kenntlich an den in Etagen angeordneten Blattwirteln, wächst in 3-5 Exemplaren zwischen den Malvenblättern, leicht diagonal angeordnet. Megerkraut, Wálstro heißt es bei Hieronymus Bock. Auch er hebt sogleich das charakteristische Merkmal der Gestalt hervor, die Wirtelstellung der Blätter: Vil Kreutter seind mit den blettlein vmb die stengelein Sterns weiß gezieret / wie von gestirnten vnd gekrönten blumen gemelt ist / also wóllen wir nůn von den gestirnten kreuttern sagen / die vmb die stengel mit rádlein oder Sternlein geschmückt seind. Auch den Namen erklärt Bock, und diese Deutung fügt sich dem großen Thema der Kräuterweihe an Mariae Himmelfahrt wohl ein, insofern auch mit dem Labkraut eine Pflanze Unserer lieben Frau bezeichnet wird: Es heiß nun der weissen blúet halben / oder der Milch halben (welche / so dise kreutter darein gethan werden / gestehn soll) Gallion oder Galerion / da ligt nichts an / mag beyde vrsach war sein. Das erst mit den gláen blůmen nennen die Weiber Wálstro / vnser lieben Frawen Bettstro / das wóllen ettlich Aspergulam deutten / das ander mit den gálen blůmen hab ich nit hören nennen. Das mit den weissen blůmlein nennet man Megerkraut / brauchen die Weiber für die dúrre Raud vnd Grindt der jungen Kindlein in hadern gesotten ... ⋅475⋅.
Die Kräuter auf der anderen der beiden Donaueschinger Tafeln mit der unbekannten Heiligen wachsen sparsamer zu beiden Seiten am Rande der Bodenfläche, links eine nur in der Blattrosette gemalte Komposite, möglicherweise Pippau (Crépis tectorum L.), und dahinter, hochaufragend, ein grasartiges Gewächs von nicht näher bestimmbarer Gattung, rechts aber das schon von der Elisabeth-Tafel her bekannte Hornkraut (Cerastium caespitosum Gilibert). Der Ausschnitt läßt die wunderbare Kunst Grünewalds erkennen, wie er selbst der bescheidenen Pflanze einen Bewegungsreichtum vermittelt, eine Zartheit und Lieblichkeit, die um so bezaubernder ist, als sie sich hier gegen den kostbaren Stoff eines überaus reichen und strömenden Gewandes absetzt. Überhaupt scheint mir gerade bei dieser Tafel die Schönheit und sprühende Kraft der Bewegung auch in den übrigen Teilen entscheidend, ob die herrlichen, vom Wind bewegten Haare oder die Fiedern des Palmblattes oder die sich um den Stab rollende und überschlagende wilde Weinrebe (Parthenocissus vitacea Hitchcock) gemeint sind, alles ist gleich gesättigt an dem Feuer und der Intensität einer einmaligen Schöpfung.
Von hier aus betrachtet, verwundert es einen nicht, daß die vielen Pflanzen des Isenheimer Einsiedlerbildes, die sich dort zu Füßen des heiligen Antonius und Paulus ausbreiten, mehr sind als ein liebenswürdiges Pflanzenstilleben. Hier ist von medizinischer und naturwissenschaftlicher Seite schon lange darauf aufmerksam gemacht worden, daß man in ihnen Heilpflanzen gegen eine im Mittelalter umgehende, verheerende Seuche, ignis sacer, heiliges Feuer oder St. Antoniusfeuer geheißen, zu sehen habe. W. Kühn hat sich ausführlich mit diesem Phänomen beschäftigt ⋅476⋅. Ursache dieser furchtbaren Krankheit, bei welcher die davon befallenen Glieder der Kranken sich unnatürlich feuerrot und später blauschwarz bis zum Absterben verfärben, ist ein parasitischer Pilz, Claviceps purpurea Tulasne, der vornehmlich in den Ähren von Roggen lebt und dort die Erscheinung des sogenannten Mutterkorns hervorruft ⋅477⋅, eine Erkrankung des Roggenkorns, das durch Pilzbefall eine hornförmig gebogene Gestalt erhält. Da die Getreidearten damals die Hauptnahrungsquelle darstellten und man in teuren Zeiten auch das kranke Korn mitvermahlte, war der Ausbruch der Seuche unvermeidlich. Die Antoniter nahmen sich in ihren Spitälern der von der Brand- und Krampfseuche des ignis sacer Befallenen an. Fresken in der St. Antoniuskapelle in Waltalingen bei Stammheim im Kanton Zürich, wo der heilige Antonius die so Erkrankten segnet, die furchtbar entstellte Gestalt in der linken Ecke der Antoniusversuchung des Isenheimer Altars, an der die Symptome dieser Krankheit beobachtet wurden, lassen darauf schließen. In einer gründlichen Studie über "Gestalt und antike Vorbilder des Antonius Eremita" ⋅476⋅ ist es Wolfgang Kühn gelungen, glaubhaft zu machen, warum gerade der mönchisch zurückgezogene Einsiedler der Thebais, der heilige Antonius, das Heilspatronat dieser Krankheit übernahm. Der Autor zitiert eine Beschreibung der Pilgerfahrt des Bischofs Hugo von Lincoln nach St. Antoine im Jahre 1119, woraus hervorgeht, daß knapp vierzig Jahre nach der Überführung der Reliquien des Heiligen nach Frankreich St. Antonius als Herr des Feuers sowohl in schützendem wie in strafendem, rächendem Sinn angesehen wurde: Auf dem Wege sahen wir Festungen, Schlösser und Häuser, die der Blitz zerstört hatte, weil ihre Bewohner die vorbeiziehenden Pilger belästigt hatten; denn dieser große Nachfolger der Heiligkeit des Elias (sc. Antonius) hat, wie jener, die Gewalt, mit derselben Leichtigkeit diejenigen, die ihn beleidigen, mit dem Feuer zu strafen, wie die zu heilen, welche ihn anrufen. ⋅478⋅ Als kontemplativer Einsiedler vertritt der heilige .Antonius zugleich den Menschentyp, der zum grüblerischen Nachdenken, zur Melancholie, neigt. Der große Stich Dürers von 1514, Melencolia I, symbolisiert in gewaltiger Weise, wie Panofsky ⋅479⋅ gezeigt hat, was diese psychophysische Grundeigenschaft der Melancholie für den mittelalterlichen Menschen bedeutete und welcher Wandel in der Auffassung sich dabei vollzog. Der Melancholiker ist zugleich saturnischer Wesensart. Die Vorstellung des alten römischen Flur- und Saatengottes Saturn fließt hier mit ein. In der Zeichnung einer Handschrift aus der Universitätsbibliothek zu Tübingen, die Kühn abbildet, vom Ende des 15. Jahrhunderts, sieht man Saturn in der Tracht eines Antonitermönches mit Kutte und T-Kreuz, aber als Gott des Ackerbaues trägt er zugleich die Sichel, und eine Kornähre wächst ihm aus seiner Kapuze ⋅480⋅. Im mittelalterlichen Hausbuch liest man über das Gestirn des Saturn:
Saturnus pin ich genannt:
der höchst planet wol bekannt.
Naturlich pin ich, truckenn vnd kalt
Mit meinen wercken manigfalt...
Mein kint sein sich, pleich, dürr vnd kalt ... ⋅481⋅
Auch bei dem am ignis sacer Erkrankten machte sich im letzten Stadium ein Gefühl tödlicher Kälte bemerkbar, eine Kälte, wie sie dem Gestirn Saturn als Eigenschaft zukommt. Der mittelalterliche Mensch, dessen Denken sich mehr im Bereiche der Assoziationen und Analogien bewegte, benutzte in der Therapie des Antoniusfeuers dementsprechend solche Heilkräuter, die ebenfalls nach der Komplexionslehre der Zeit die Eigenschaften "kalt und trocken" verkörperten, also der saturninischen Gruppe angehörten, wie z. B. das Eisenkraut (Verbena officinalis L.), der Mohn (Papaver Rhoeas L.), der Nachtschatten, der Wegtritt (Polygonum) oder sogenannte Blitzkräuter, "die entweder wie Donnerbart oder Verbena den Blitz abwehren, oder unter keinen Umständen gepflückt ins Haus gebracht werden dürfen, weil sie sonst den Blitz anziehen, wie zum Beispiel Gamander-Ehrenpreis, Frühlingsenzian" ⋅482⋅. (Man vergleiche das erste Stadium der Krankheit, die feuerrote Farbe der befallenen Glieder, den Namen "ignis sacer").
Tafel CXIV. Mathis Gothart Nithart, gen. Grünewald:
Spitzwegerich (Plangago lanceolata L.), Eisenkraut (Verbena offinalis L.), Breitwegerich (Plantago major L.)
vom Einsiedlerbilde des Isenheimer Altars (1512-1516), Kolmar, Unterlindenmuseum.
Tafel ganz: 2,65 x 1,41 m
Verwendet in Absprache mit der Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte München.
Tafel CXV. Mathis Gothart Nithart, gen. Grünewald:
Pflanzen vom Einsiedlerbilde des Isenheimer Altars (1512-1516), Kolmar, Unterlinden-Museum:
1. Hahnenfuß, 2. Spelz, 3. Weiße Taubnessel,
4. Gamander-Ehrenpreis, 5. Weißklee, 6. Mohn, 7. Kreuzenzian
Tafel CXV mit aufgelegter, beigebundener Transparentfolie: 1. Hahnenfuß, 2. Spelz, 3. Weiße Taubnessel,
4. Gamander-Ehrenpreis, 5. Weißklee, 6. Mohn, 7. Kreuzenzian
Verwendet in Absprache mit der Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte München.
Tafel CXV die beigebundene Transparentfolie: 1. Hahnenfuß, 2. Spelz, 3. Weiße Taubnessel,
4. Gamander-Ehrenpreis, 5. Weißklee, 6. Mohn, 7. Kreuzenzian
Verwendet in Absprache mit der Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG und dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte München.
Einige dieser Pflanzen finden sich nun auch auf dem Einsiedlerbilde des Isenheimer Altars. Von den vierzehn Pflanzen, die Kühn auf diesem Flügel bestimmte und gesondert herauszeichnete ⋅483⋅, ist es mir allerdings nur möglich, folgende als einwandfrei bestimmbar zu nennen: Die drei Pflanzen neben dem Wappenschild: Spitzwegerich (Plantago lanceolata L.), Eisenkraut (Verbena officinalis L.), großer Wegerich (Plantago major L.) und neben St. Paulus: Weißklee (Trifolium repens L.), Klatschmohn (Papaver Rhoeas L.), weiße Taubnessel (Lamium album L.), Gamander-Ehrenpreis (Veronica Chamaedrys L.), Spelz (Triticum Spelta L.), Kreuz-Enzian (Gentiana cruciata L.) und die Blätter einer Hahnenfuß-Art. Da die Pflanzen nicht blühen, ist es recht schwer, selbst vor dem Original, alle genau zu identifizieren. Besonders anmutig und reich in der Vielfalt seines Blattmosaiks ist der Klee (Trifolium repens L.) im Vordergrunde gemalt, und dahinter erhebt sich der Klatschmohn (Papaver Rhoeas L.), mehrfach gegabelt und an den Kapseln deutlich zu erkennen. Auch der Spelz (Triticum Spelta L.) breitet sich in schönen, lockeren Ähren aus. Vor dem bleichen, wie schwelenden Holz eines modernden Baumstammes hat sich hier die in der Natur keineswegs so im Verband stehende Pflanzengesellschaft angesiedelt, Kräuter am Wege, die wahrscheinlich wesentliche Bestandteile eines Heilmittels waren, dessen sich ganz speziell die Antoniter in Isenheim bedienten. Sehr wichtig erscheint mir daher der Hinweis Kühns auf ein Manuskript des 15. Jahrhunderts, das aus der Isenheimer Klosterbibliothek stammt und den Titel trägt: Wie man das Antoniusfeuer heilen soll ... Es sei, wie Kühn schreibt, vor der Durcharbeitung infolge der Wirren des letzten Krieges vorläufig verschollen. Man hätte sich freilich hier noch einige genauere Angaben über Art und Beschaffenheit des Manuskripts gewünscht. Eines dieser Heilmittel, das die Antoniter anwandten und dessen Zusammensetzung sie geheim hielten, war der sogenannte "Saint-Vinage", "ein starker Weinessig, möglicherweise mit Kräuterzusatz, der durch die Berührung mit den Reliquien des Heiligen angeblich Wunderkräfte erhielt und den Kranken eingeflößt, resp. örtlich auf die erkrankten Glieder appliziert wurde" ⋅484⋅. Ein weiteres ist der Antonius-Balsam, von dem Kühn den Bericht des Ordensreformators Franziskus Beer an den Erzherzog Ferdinand von Österreich aus dem Mai 1601 abdruckt: Die geweihten Gefäße, die den gesegneten Sankt-Antonius-Wein enthielten, sind beim Durchzug der Truppen Wilhelms von Châtillon 1589 gestohlen und nicht wieder ersetzt worden. Der Sankt-Antonius-Balsam, den man in Seuchenzeiten in Froideval zu holen pflegte, ist seit langer Zeit nicht mehr hergestellt worden, und selbst sein Rezept, das man geheim hielt, ist verlorengegangen ⋅485⋅. Befragt man nun in Ergänzung zu der von Kühn aufgestellten Tabelle bei den sicher erkennbaren Pflanzen Grünewalds die mittelalterlichen Quellen, zu welchen Krankheiten die Kräuter empfohlen werden, so entsinne man sich etwa bei dem Eisenkraut auf dem Sebastiansmartyrium des Nürnberger Augustiner-Altars von 1487 der Stelle aus der Physica der heiligen Hildegard von Bingen ⋅486⋅, wo von den putridae carnes in homine die Rede ist, für die Ysena (Eisenkraut) gut zu brauchen wäre. Der Verfasser des Mainzer Hortus sanitatis von 1485 spricht von den füchten oder fliessenden Wunden, für die Verbena empfohlen wird. Hildegard von Bingen hebt ferner ihre mehr kalte als warme, der Gart ihre trockene Natur hervor. Eisenkraut ist die Herba sacra des Hieronymus Bock, der nun von seiner Heilwirkung direkt sagt: Eisenkraut mit Eßig zerstossen vn auff dz wildfewr gelegt / stillet vn leschet den brandt. Eisenkraut mit Honig oder Butter vermengt vnd auffgelegt / hefftet die wunde zusamen ⋅487⋅.
Auch bei dem Mohn, Papauer magsamen, heißt es im Mainzer Gart: Item magsamen bletter in eßig gesotten vnd vff das sant anthonie fuer geleyt ist eß verdryben ⋅488⋅. Desgleichen liest man von Plantago maior wegerich im Mainzer Hortus sanitatis von 1485: Der safft lange in de mude gehalten heylet die fuie dar in vnd die wunden vff der zunge. / Den safft in die fisteln gelaßen heylet sie. / Auch den safft gelaßen in die oren heylet das geswere vn drucket das. Auch leschet der safft das heylige fuer. mit hußwortz vermengt genat semperviua ... Item wegerich verstillet das blůt in den wunden den gestoßen vn dar vff geleyt mit eys wyß ... Sie heylet auch gebrant gliedt die gestoßen vn dar vff geleyt mit eyne eys wyße ⋅489⋅. Von Trifolium klee schreibt der Verfasser des Mainzer Hortus: Klee gesotten in waßer vnd das gedrucken ist gůt der eyn erkalten magen hette vn diß waßer ist auch gůt der da hait das derme gegicht. Diß waßer geleyt mit eyne duchlin da der tarant gebißen hait oder ander vergifft gediertz benympt ym den smertzen da vo. Der same der wilde klee ist besser vn stercker in der krafft dan das krut. / Der same gestoßen vn das puluer gestrauwet vf das verwunt oder verschronden gemicht hilfft fast wole ... / Diascorides spricht das des heymsche klee samen vnd syn bletter gesotten in waßer vnd das gedruncken hilft die eine geswer haben an der brüst vnd ist auch gut widder den blut ganck vnd widder sant veltins sucht vnd widder waßer suchtug ... ⋅490⋅.
In diesem Zusammenhang ist für die mittelalterliche Denkweise wie für die Beziehung zwischen der Natur des Heilkrautes und der Art der Krankheit höchst aufschlußreich, was der Verfasser des Mainzer Hortus über Barotus (bynßauge) schreibt: Die meister sprechen daz diß krut sy heysser natuer. Welcher mensch groiß hytze hette der neme diß krut vnd lege eß in essig vn slage das vff die stat do die hitze ist eß benympt die an zwyfel. / Wem die augen duckel werden vn yme feile dar inne wachsen der ziege diß krut mit der wůrtzeln vß der erden vn lege eß vber nacht inne wasser eyns springenden bornes vnd thu dar nach das wasser abe vnd sweyß das krut in eyner pannen mit baum ólen vnd lege eß also warm vber die augen vnd thu das drey nacht dir wirt baß. / Hie ist zů wissen daz etlich lerer dar widder synt daz hitz by hitz geleyt die ist ye mer hitz brengen. als feuer by feuer geleyt machet das feuer ye grosser. / Hie ist zů mercken in sunderheyt vn in eyner kurtz daz diß wól möglich ist daz eyn krut hitze beneme daz von natuer heyß sy. glicher wyse als wan sich eyner brennet an eyne fynger oder sust an eynem glidt wo das ist helt er das selbige gebrat gliedt by das feuer vnd leßet die hitze des feuers dar an gan also daz eyner das kume gelyden kan. die selbigs hitz des feuers zuhet yme den brant vß vnd auch den smertzen. / Item wirt eyner geletzet mit heyßem ivasser oder ander feuchtung helt er das gliedt in heyß wasser oder in heyssen wyn oder leget dar vff heyß óle als heyß er eß gelyden, mag eß zuhet die hitze vß vnd sejifftiget den smertzen. vnd diß ist die meynung des wirdigen meisters Galieni. vnd darvmb ist das wöl mogelich daz diß krut bynsaug hitz an sich zyehe vn die hitz des glits dar durch gemynnert werde. / Item Plinius spricht daz diß krut gestoissen vnd geleyt vff den gebresten herisipila genant das ist das roitlauffen oder freuschem an eynem gliedt wo das were an eynem menschen eß zuhet die hitze dar vß vnd heylet von stunt ⋅491⋅.
Auch Gamandria (Veronica Chamaedrys L.) ist ein solches heißes und trockenes Kraut, das den Blitz anzieht: Die wirdigen meister sprechen daz diß krut sy heyß vnd drucken an dem dritte grade. Etlich meister sprechen auch daz diß krut sy heysser natuer vnd feyst. vnd sy nyemants nutze wedder menschen noch vehe. vnd machet das geblůde in dem menschen fast dünne vnd mynert das vnd meret vnßedikeyt. / Wer den cleynen grynt hefte an synem lybe zwischen fei vn fleysch der stoiß diß krut mit altem smere vnd salbe sich do mit so heylet er. Vnd so er etlicher maißen heyl ist oder an hebet zů heylen so sal er sich darnach nit meer smeren. wan eß letzet yme syn hudt vnd geblůde in dem lybe. / Welcher zurbrochen were in dem lybe der mag von dissem krude drincken. Gamandria mit honig gestoissen vn vff eyn alten schaden geleyt wie der were eß heylet vnd subert fast wóle. / Den safft mit honig temperiert vnd in die äugen gethan benymmet die dunckelheyt der äugen vnd machet sye clare. / Gamandria gestoissen vnd getemperiert mit baumóle vnd den lyp do mit gesalbet verdrybet den bósen frust vnd brenget dem lybe gůt hitze. / Wer diß krut by yme dreyt den hassen die Iude ⋅492⋅.
Die unscheinbaren und doch im Dienste der Antoniter so hochwichtigen Kräuter auf der Tafel der beiden Einsiedler werden in ihrer Schönheit übertroffen von den Pflanzen des Menschwerdungsbildes, Feige und Rose. Während der Baum des Friedens, der Feigenbaum ⋅493⋅, hinter dem Vorhang des Tempels mit den Propheten auf den Säulen und der "Maria vor der Zeit" auf der Schwelle des Tempels zur Mitte hinüberweist, zu Christus als dem Friedensfürst - sicher ist diese Deutegebärde der Pflanze so zu werten -, sind rechts hinter Maria tiefdunkelrote Rosen aufgeblüht. Wie königlicher Purpur leuchten die drei Blüten. Auf das reiche Laub der gefiederten Blätter fällt ein Widerschein jenes überirdischen Lichtes aus der Höhe, in dem die Majestät Gottes erscheint. Einige dieser Blätter streifen fast das feine, wehende Haar der Gottesmutter, und über ihnen wird eine Kirche auf einem Berge sichtbar. Die Blüte rechts hebt sich von dem Spiegel eines blauen Bergsees ab, der sich zwischen Kirche und ummauertem Garten ausbreitet. Er bedeutet wohl den versiegelten Born des Hohen Liedes, und so wie alle Dinge des hortus conclusus Sinnbilder Mariens sind, so ist die Rose das schönste Symbol, über die wir nach der hier für Grünewald zuständigen Quelle aus den Offenbarungen der heiligen Birgitta von Schweden in der 1. Lesung am Freitag folgendes erfahren: Darum kann füglich die Jungfrau eine blühende Rose genannt werden. Wie diese unter Dornen sich entfaltet, so die ehrwürdige Jungfrau unter Trübsalen ... Als sie aber das Alter erreichte, da der Sohn Gottes auch ihr eigener Sohn wurde und von ihr in ihrem Schoße den Leib sich annahm, in welchem er alles erfüllen wollte, was die Propheten von ihm geweissagt, da schien die lieblichste Rose ihre Schönheit noch viel reicher zu entfalten und beständig in ihr zuzunehmen. Aber auch die Dornen der Trübsale, welche sie schmerzlich verwundeten, wurden mit jedem Tage stärker und schärfer. Denn wie groß und unaussprechlich die Freude war, welche sie in der Empfängnis ihres Sohnes empfunden, so groß und vielfältig war die Trübsal, die ihr Herz verwundete, so oft sie seines künftigen, bittersten Leidens gedachte. Sie freute sich in der Gewißheit, daß er vom Tode erstehen und um seines Leidens willen zur höchsten Verherrlichung für ewig werde erhöht werden; sie war aber voll Trauer, da sie mit derselben Gewißheit voraussah, welche Beschimpfungen, welche Widersprüche und welch' grausamste Martern er vor seiner Verherrlichung werde zu erdulden haben. Darum wird sie mit bestem Rechte mit einer blühenden Rose verglichen, d. i. mit der Rose von Jericho; denn wie diese an Schönheit alle ändern Rosen übertrifft, so ragt Maria über alle Menschenkinder, ihren hochgebenedeiten Sohn allein ausgenommen, an Schönheit des Wandels und aller Tugenden hervor ... ⋅494⋅.
Auch auf dem Gemälde der Stuppacher Maria sind beide Pflanzen deutlich vertreten. Vor den Bienenkörben - gleichfalls einem Mariensymbol - gewahrt man die Äste eines Feigenbaumes, deren bandförmig zerteilte Blätter so locker angeordnet sind, daß das lichte Grün der Wiesen hindurchschimmert, und in dem Kruge zur Rechten blühen Rosen. Herrlich aber steigen, sie überragend, zwei Lilienstengel mit zahlreichen Blüten und Knospen empor, so daß ihre schneeweiße Farbe vor dem königsblauen Marienmantel aufleuchtet, ein strahlendes Symbol, wie es unzählige Male von den mittelalterlichen Dichtern besungen wurde. In der Fassung des Grünewald bekannten Lobpreises der heiligen Birgitta von Schweden sei hier nochmals davon die Rede: Sie glich einer Bepflanzten Lilie, welche mit dreifacher Wurzel in das Erdreich dringt, dieses selbst noch fruchtbarer macht und drei lieblichste Blüten aus ihrem Stengel zur Freude aller Beschauer hervortreibtig ⋅495⋅.
Eine gelbblühende Komposite - ich möchte meinen, daß es sich um eine Verwandte der echten Kamille (Matricaria chamomilla L.), wenn nicht um diese selbst, handele, doch hat die echte Kamille weiße Strahlenblüten - ist mit Rose und Lilie zusammen in dem Kruge gemalt worden, ferner eine Pflanze mit grüner, orchideenartiger Blüte.
Die echte Kamille wäre in ihrer wunderbar heilkräftigen Art Marias Wesen vergleichbar. Im Mainzer Hortus sanitatis von 1485 liest man von ihr: ... Der wirdig meister Auicenna in synem andern bůch in de capitel Camomilla spricht daz die synt heyß vnd drucken an dem ersten grade. Vnd ir dogent ist iceych machen vnd senfftigen. / Camillen gesotten mit wasser vnd die geleyl vff harte geswern weychet vnd senfftiget den smertzen vn drybet vß den eyter. / Item camillen blomen geleyt in wyn vber nacht vnd des gedrucken stercket die gewsrbe vnd benympt die lemde. / Camillen blomen gestoissen vnd gemischet mit honig vnd das in genommen brenget stůllgeng vnd drybet do mit vß vil schlym vnd reyniget de menschen syn gederm. / Das heubt gezwagen mit camillen blome stercket das hyrn vnd benympt dem heubt vnd de hyrn die bóse feuchtuge die sich dar inné gesamelt hait von kelte. / Platearius Camillen gesotten in wasser vnd den mudt mit geweschen heylet die geschwern dar inne. / Item Auicenna spricht daz dryerley camillen synt vnd in den allen ist mitten eyn goltfarbe knopff vnd der vmbsatz deß knopffs ist mancherhande farbe, etliche mit wyssen bletteren. etlich mit swartzen. etlich mit pfeller farbe. vn synt glich in ir natuer ... Camillen gesotten vnd das gedrucken benympt das kychen vnd rumet die brust, vnd also genutzet ist fast gůt der siechen lebbern. / Welche frauwe in yr hette eyn doit kynt die drincke vo camillen blomen sye geneset vnd wirt deß ledig. / Item camillen blomen gesotten in wasser vnd die füße dar in gehalten benympt vill suchte des lybes / Welcher den steyn hette der bade mit camillen dry oder vier male er wirt des ledig senfftiglichen ⋅496⋅.
Auch bei Hieronymus Bock hat sie die lindernde, besänftigende Wirkung, namentlich bei Frauenleiden: Chamillen blůmen mit dem wolriechenden kraut inn Wein gesotten vnd getruncken / eróffnet die Leber / das Miltz / vnd treibet auß die Gilb / der Frawen blódigkeit / stillet jnnerliche schmertzen der Mutter / der Dárm / der Nieren vnd Blasen. Zertheilet vn heilet (inn gemelter massen gebraucht) das Lungen geschwár. Legt das Keichen / treibt de Lenden stein. Herwiderumb stopffen Chamillen den weissen Bauchfluß Lienteriam / erwerme den kalten Magen / mit hienlegung viler jnnerlichen schmertzen.
Obernente Wúrckung vnnd tugendt hat das gebrant wasser von Chamillen blůmen gebrant / furnemlich die erst gesetzte gehört für die Kindtbetterin / darumb das sie wol damit gereiniget werden. Denen so státs inn die groß Kranckheit fallen / soll man Chamillen blůmen inn Eßig vnd Honig sieden / vnd daruon zů drincken geben / die stehn gar bald auff / vnnd werden der Kranckheit ein Zeitlang ledig ⋅497⋅.
Dagegen ist es mir selbst vor dem Original in der kleinen Kapelle in Stuppach bei Mergentheim nicht möglich gewesen, die über den Krug nach rechts hinausragende, grünlich blühende Pflanze als Frauenschuh (Cypripedium Calceolus L.) mit Sicherheit zu bestimmen ⋅498⋅. Da sie weder im Gart der Gesundheit von 1485 noch bei Hieronymus Bock beschrieben, auch im Synonymenschlüssel von Fischer ⋅499⋅ nicht genannt wird, ist es fraglich, ob die Pflanze hier wirklich gemeint ist und ob sie zu Grünewalds Zeit schon bekannt war. Hieronymus Bock bezeichnet mit Frawen-Schůchlein einen Steinklee (Melilotus) ⋅500⋅. Das Knabenkraut Satirion knabenkrut oder Stendelkrut ist dagegen sowohl im Gart ⋅501⋅ wie bei Bock verzeichnet, der sogar 10 Arten unterscheidet. Eine Blüte des Frauenschuhs von so auffälliger Gestalt wäre sicher in den berühmten Kräuterbüchern der Grünewaldzeit abgebildet worden, selbst z. B. in Zwingers viel jüngerem Theatrum botanicum sucht man sie vergebens.
Doch des Nelkenstockes mit der roten Blüte in dem Topf hinter dem Kruge mit den Lilien ist noch zu gedenken, der hier ähnlich neben der Gottesmutter wächst wie in dem eingezäunten Beet des Frankfurter Paradiesgärtleins. Es handelt sich um die Vexiernelke (Lychnis Coronaria L.) ⋅502⋅. Auch diese Pflanze gehört zu den Nelkengewächsen (Caryophyllaceen). In italienischen Codices heißt sie auch Oculus Christi ⋅503⋅, und ihr Saft wird als Heilmittel gegen Augengeschwüre verwandt.
Von ihr deutlich zu unterscheiden ist die Gartennelke (Dianthus Caryophyllus L.), die zum Beispiel zusammen mit der Akelei das Bildnis der Margherita Gonzaga von Pisanello (Louvre) in zahlreichen Streublumen umgibt. Auch auf einigen Madonnenbildern, auf dem Hausbuchmeisterstich mit dem Liebespaar und auf zahlreichen Verlöbnisbildnissen kommt sie vor ⋅504⋅. Sie tritt an die Stelle der Betonica officinalis L.
Von beiden zu trennen sind die Gewürznelken des Nelkenbaumes (Eugenia caryophyllata Thunbg.), der auf den Molukken heimisch ist, auch als Caryophyllus aromaticus L. oder Jambosa Caryophyllus bezeichnet wird. Ihn meint Konrad von Megenberg: Garyophylon haizt ain nägelpaum. daz ist ain staud, diu wechset in India, sam Platearius spricht, des früht sind nägell, die sint gar nütz den, die si gern smeckent und ezzent, ob si siech sint an der sêl kraft, wan si mâchent ain guot sêl. die nägel sint haiz und trucken und sint gar scharpf auf der zungen und haizent ze latein caryophyli. die sint die pesten, die ain fäuht gebent, wenn man si under den vingern zereibt ⋅505⋅. Sie sind auch gemeint mit dem karioffelris (Reis vom Nelkenbaum) in Konrads von Würzburg Goldener Schmiede:
Du bist ein karioffelris
unde ein muschatbluome ⋅506⋅,
was auf Maria bezogen wird.
Literaturhinweise
Zitiert nach:
Lottlisa Behling, Die Pflanze in der mittelalterlichen Tafelmalerei, Kapitel IX: Grünewalds Heilkräuterkunde (Köln - Graz 2. Auflage 1967), 140-149.
Anmerkungen