Der Isenheimer Altar
und seine Botschaft
Sakristei und Krankensaal
"Nach einer im späten Mittelalter häufig belegten Bildtradition empfängt Maria die Verkündigung, daß sie als Mutter des Heilands auserwählt sei (Lukas 1,26-38) in einem kirchenartigen Sakralraum. Vermutlich war hierbei eine alte Symbolvorstellung wirksam, die die Gottesmutter mit der Ecclesia, der Kirche des neuen Bundes gleichsetzte." ⋅1⋅
Auf diese Weise wird der Raum der "Verkündigungstafel" in der Literatur wohl am häufigsten gedeutet. Zumindest für die Darstellung, die Meister Mathis auf den Flügeln des Isenheimer Altares gewählt hat, dürfte sie jedoch nicht ganz zutreffend sein. Um einen Kirchenraum handelt es sich zunächst einmal nicht, nicht einmal um eine Kapelle. Es fehlt der Altar und jegliche entsprechende Ausstattung.
Architektur von eigener Art
Die Architektur.
Den Kirchenraum deutet Meister Mathis nur an. Er liegt räumlich vor dem dargestellten Geschehen und ist durch den andersfarbigen Pfeiler, der - vom Betrachter aus gesehen - am linken Bildrand zu erkennen ist, gekennzeichnet. Deutlich erkennt man eine Rippe des Gewölbes in der linken oberen Ecke des Gemäldes, die erahnen lässt, dass der sich hier anschließende Raum weit über das Bildformat hinausgeht.
Das Geschehen der Verkündigung selbst spielt sich also in einem Nebenraum ab, der durch die Einrichtung letztlich als Sakristei gekennzeichnet wird.
Dieser durch Vorhänge vom Kirchenraum abgetrennte Vorbereitungsraum für den Gottesdienst gliedert sich in zwei Teile, wie man durch die Bögen des Gewölbes unschwer erkennen kann. Durch einen mittels Kreuzrippengewölbe überspannten Raum hindurch blickt man in eine Apsis mit Fünfachtelschluss - also einer Form, die im Grundriss fünf Seiten eines Achteckes umfasst.
Betrachtet man den sich so ergebenden Grundriss, so wird deutlich, dass neben den zwei offenen und dem vermauerten Fenster, wenigstens noch ein weiteres Fenster im Raum sein muss, das auf dem Bild nicht zu sehen ist. Ihm gegenüber müsste sich dann eine Wandfläche oder eine ebenfalls zugemauerte Fensternische befinden, die vom Betrachter auch nicht eingesehen werden kann. Der vordere Raumteil erhält zudem Licht von einer weiteren, nur zu erahnenden Öffnung. Dies könnte eine Türe sein, durch die der Engel dann den Raum betritt, oder - dem schwächeren Lichteinfall entsprechend - ein kleines Oberlicht.
Grundriss des "Sakristeiraumes"
Zeichnung: Jörg Sieger
Anlass zu vielfältigen Spekulationen gibt die unterschiedliche Gestaltung der Decke, die Farbe der Rippen und die andersartige Ausführung der Schlusssteine in diesem Raum. Auch eine Bedeutung der vier kreisrunden Medaillons im vorderen Raumteil wird immer wieder zu ergründen versucht.
Auffallend ist, dass bei den Rippen des weiter entfernter liegenden Raumteiles die grüne Farbe dominiert. Grün steht für die Hoffnung. Von ihr ist dieser Raum gekennzeichnet: von der Hoffnung auf den Erlöser.
Henri Schreck geht noch einen Schritt weiter. Er weist darauf hin, dass die Decke in sechs Gewölbefelder eingeteilt ist - für ihn ein Hinweis auf das Sechs-Tage-Werk der Schöpfung. Dieser Teil des Gebäudes stehe deshalb symbolisch für die Welt in der Erwartung eines gemeinsamen Retters. ⋅2⋅
Im näher liegenden Raumteil dominiert die Farbe Rot - Farbe der Liebe. Die Hoffnung ist an ihr Ziel gelangt. Gott greift in seiner liebenden Zuwendung zu den Menschen durch die Verheißung der Geburt seines Sohnes in das Geschehen ein.
Auch hier weist Schreck auf weitere Details hin. Die vier bemalten Kreise an der in vier Felder geteilten Decke sollen die vier Adventswochen anzeigen. Die hauchzarten, goldfarbenen Ranken und Verzierungen seien ein Symbol der freudvollen Erwartung. ⋅3⋅
Schreck meint darüber hinaus, dass diese vier kreisförmigen Medaillons violett seien - entsprechend der liturgischen Farbe des Advents. Das ist nicht richtig. Ein Vergleich vor Ort macht deutlich, dass die Felder sicher nicht violett sind, sondern eher eine bläuliche Färbung aufweisen. Spath spricht etwa von "vier dunkelblauen bis grünen" Kreisgebilden ⋅4⋅.
Dies macht einmal mehr deutlich, wie schwer es ist, die Farben auf den Altartafeln richtig zu erkennen und dementsprechend auch zu interpretieren. Zwar ist der Isenheimer Altar längst nicht in solch einem schlechten Zustand, wie etwa die Tafel der Tauberbischofsheimer "Kreuztragung", viele Stellen sind dennoch so nachgedunkelt oder - etwa vom Ruß der Kerzen - geschwärzt, dass eine Entscheidung, welche Farbe an welcher Stelle genau zu sehen ist, nicht immer ganz leicht fällt. Die Erfahrung mit den konservatorischen Arbeiten an der Tauberbischofsheimer Tafel lässt wohl mit Recht vermuten, dass bei einer gründlichen Reinigung und Restaurierung manches Detail - im wahrsten Sinne des Wortes - in einem neuen Licht erscheinen würde. ⋅5⋅
Der Schlussstein der Apsis.
Nicht unwichtig ist der Hinweis von Emil Spath auf die beiden Schlusssteine. Sie sind zweifelsohne Christussymbole, wie es beispielsweise der Epheserbrief zum Ausdruck bringt:
"Ihr seid auf das Fundament der Apostel und Propheten gebaut; der Schlussstein ist Christus Jesus selbst."
(Epheserbrief 2,20)
Spaths Deutung der beiden Raumteile setzt bei der Lichtführung auf diesem Bild an. Vor allem die Fenster spielen in diesem Zusammenhang eine große Rolle, wie an anderer Stelle dargelegt wird. Für die beiden Raumteile als solches ergibt sich daraus, dass sie auch nach der Deutung Emil Spaths Symbole unterschiedlicher Epochen der Heilsgeschichte seien: Der entferntere - er nennt ihn "Zeit-Raum der Verheißung" - ist für ihn geprägt vom Offenbarungslicht. Die Säulen und tragenden Gewölbeteile würden durch ihre grüne Farbe Lebenskraft und Hoffnung anzeigen. Hier ginge es letztlich um den Weg zur "Fülle der Zeit". Deshalb sei der Schlussstein zur Erde hin auch noch fest verschlossen. Die Erlösergestalt des Messias wird erwartet, er ist noch nicht offenbar geworden. ⋅6⋅
Der "offene" Schlussstein.
Den anderen, weit dunkleren Raumteil nennt Spath "Zeit-Raum der Bereitung". Hier ist ein Schlussstein gemalt, der in der Mitte ein Loch aufweist. Dies sei ein Hinweis darauf, dass nun die Fülle der Zeit gekommen sei. Die Zeit der Erwartung ist zu Ende, der Messias, Christus macht sich auf den Weg, um auf der Erde zu erscheinen, um Mensch zu werden.
In das Gewölbe sei deshalb der ...
"messianische Schlußstein eingefügt, vom Himmel her, nun sich zur Erde hinab öffnend." ⋅7⋅
Wenn Emil Spath in diesem Zusammenhang anmerkt, dass gerade in diesem vorderen Teil des von Meister Mathis gemalten Raumes, die rote Farbe dominiert - im Einband des Prophetenbuches, im Futter des Mantels der jungen Frau, dem roten Gewand des Engels, in den tragenden Gewölbeteilen, im den Raum abtrennenden Vorhang bis hin zum roten Schimmer im weiter hinten dargestellten grünen Vorhang dieser Bildtafel ⋅8⋅, dann ist dies vielleicht der wichtigste Hinweis zum Verständnis des Bildes.
Der rote Vorhang
Auch auf der Kreuzigungstafel spielte die rote Farbe bereits eine entscheidende Rolle. Und im Zusammenhang mittelalterlicher Spitäler prägt sie - wie der Blick auf das Hôtel-Dieu in Beaune heute noch zeigt - Einrichtung und oft auch die Architektur. Rot ist die Farbe des Blutes und des Martyriums. Sie wird daher auch zur Farbe der unheilbar Kranken, die man - wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde - "Märtyrer der Liebe Gottes" nannte. Nach mittelalterlicher Vorstellung galten unheilbar Kranke als von Gott besonders geliebt, da ihnen bereits die Möglichkeit gegeben wurde, in diesem Leben die Strafe für ihre Sünden abzuleisten. So würden sie unmittelbar ins Paradies eingehen.
Deshalb sind in Beaune Bettbezüge rot, genauso wie die Vorhänge und die Trennwände und deshalb hängt in Isenheim - quer über die Verkündigungstafel hinweg - der rote Vorhang. Die rote Stange, an der er aufgehängt ist, lässt sich mit der gemalten Architektur nur schwer in Übereinstimmung bringen. Sie ist nicht, wie man eigentlich erwarten würde, an den Pfeilern des Bogens befestigt, um den Sakristeiraum vom Kirchenraum zu trennen. Im Gegensatz zur hinteren Stange mit dem grünen Vorhang, die unterhalb der Kapitelle am Pfeilern festgemacht zu sein scheint, schwebt sie im Grunde frei im Raum.
Solche Stangen und diese Vorhänge kannte der Kranke im Isenheimer Spital. Mit ihnen waren, wie damals üblich, die Betten im Krankensaal voneinander getrennt. Auch der zweite Vorhang auf diesem Bild müsste deshalb eigentlich rot sein. Meister Mathis deutet es auch durch den roten Schimmer an. Seine grüne Färbung hängt mit dem Geschehen der Verkündigung zusammen, wie an anderer Stelle ausgeführt werden wird.
Die Verkündigung - Detail.
Krankenbett im "Hôtel-Dieu" in Beaune.
Foto: Jörg Sieger, August 2006
Mathis verlegt das Geschehen der Verkündigung also nicht nur aus seinem biblischen Umfeld der Stadt Nazareth in einen gotischen Sakristeiraum. Er stellt die Szene letztlich in den Krankensaal hinein und damit in die Lebenswirklichkeit des Betrachters. Dadurch bringt er zum Ausdruck, dass es hier nicht um einen Vorgang geht, der einfach Geschichte ist, nicht Erzählung aus einer fernen Zeit. Es handelt sich um ein Ereignis, das in der Gegenwart und vor allem in und für die Lebensumstände des Betrachters seine Bedeutung hat. Es geht um die Geburt des Erlösers und damit um den Beginn der eigenen Erlösung.
Literaturhinweise
Vergleiche vor allem:
Heinrich Geissler, Der Altar - Daten und Fakten im Überblick, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 38-216,
Henri Schreck, Die Botschaft es Isenheimer Altars (Colmar 1977),
Emil Spath, Geheimnis der Liebe - Matthias Grünewald - Der Isenheimer Altar (Freiburg 6. Auflage 1991) 41, 44, 104-108.
Von besonderer Bedeutung ist auch das leider nie veröffentlichte Werk des Sasbacher Pfarrers Josef Hermann Maier. Einzig greifbar ist folgende, ungedruckte Schrift
Josef Hermann Maier, Der Isenheimer Altar und seine Botschaft, Vortrag gehalten am 1. Juli 1985 in Badenweiler - Abschrift vom Juni 1987.
Weiterführende Literatur:
Karin Achenbach-Stolz, Die "Kreuztragung" von Matthias Grünewald aus restauratorischer Sicht, in: Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Grünewald und seine Zeit (München - Berlin 2007) 104-115.
Anmerkungen