Weckruf - Wegruf
Mit dem Propheten Amos auf dem Weg
Begleitheft zum Amos-Prozess
Freitag, 17. Juli (Amos 9,7-10)
Erwählung und Gericht
Wieso? Weshalb? Warum? ...
Vermutlich stand vor diesen Sätzen die Frage eines Zuhörers, ob Jahwe sein Volk der Vernichtung preisgeben könnte, da er doch Israel aus Ägypten herausgeführt und ihm dieses Land gegeben hat. "Jahwe hat Israel aus Ägypten herausgeführt" war der wichtigste Glaubenssatz. Damit bekannte man sich zu einem Gott, der aus der Knechtschaft befreit und wusste sich von allen Völkern bevorzugt und unterschieden.
Darauf kontert Amos damit, dass Jahwe auch an den Todfeinden Israels so gehandelt hat. Amos will damit nicht die Erwählung Israels leugnen (Amos 3,2), aber sehr wohl die Auffassung zurückweisen, dass der Auszug aus Ägypten nicht alles ist. Erwählung durch Jahwe bedeutet weit mehr. Israel hatte einen Auftrag und den verkannte es völlig. Darum wird Israel für Jahwe ein fernes Volk.
Die Philister und Aramäer waren die Erzfeinde Israels. Sie kamen aus dem Mittelmeerraum (Kaftor ist vielleicht Kreta) und aus dem Zweistromland. Die Wege dieser Völker hat Jahwe aber genauso gebahnt. Amos setzt also die grundlegende Heilstat an Israel mit der Geschichte der Feindvölker gleich und versetzt damit dem Vorzugsbewusstsein Israels einen Schlag ins Gesicht. Amos sagt Israel, dass Gott der Befreier, Führer und Richter aller Menschen ist.
Wenn Israel mit den Philistern und Aramäern verglichen wird, mochte das für Israel vielleicht noch angehen: die Philister und Aramäer waren Israel hoch überlegen. Die Kuschiter hingegen lebten ganz im Süden von Ägypten, was damals so etwas wie das Ende der Welt war.
Israel wähnt sich an der Spitze der Völker und muss sich mit den Hintersten gleichstellen lassen.
Was hier gesagt wird, geht schon aus den Sprüchen gegen die Völker hervor (Amos 1,2-2,16). Jahwe ist auch als Bundesgott Israels keine Nationalgottheit, sondern der Gott der ganzen Völkerwelt.
In den Versen 8-10 reagiert Amos auf die Einrede, dass solch ein totaler Vernichtungskrieg Schuldige und Unschuldige gleichermaßen treffen würde. Die allgemeine Gerichtsansage von 9,4b wird dabei insofern relativiert, dass sie auf das "sündige Königreich" bezogen wird, also auf das Staatswesen. Das "Haus Jakob" meint das Staatsvolk Nordisraels (vgl. 7,2.5). Das Volk wird also nicht völlig untergehen. Das entspricht Amos 5,14-15 und macht die dort erwähnte Chance auf Rettung realistisch. Das Gericht wird wie ein Sieb wirken (vgl. Sir 27,4; im Neuen Testament Lukas 22,31). Die Sünder, die mit dem Gericht rechnen müssen, werden in Vers 10b genauer benannt: Es sind diejenigen, die die Unheilsbotschaft des Amos nicht hören wollen, diese Botschaft ablehnen und den Schuldaufweis des Propheten nicht anerkennen (Psalm 10,11; 64,6 und Jesaja 28,15).
Amos 9,8-10 enthält bereits die Botschaft, dass Jahwe um die Gerechten besorgt ist. Im allerletzten Gericht wird jedem gegenüber die göttliche Gerechtigkeit walten, wie sie bei Maleachi in 3,13-20 beschrieben wird: "Was ihr über mich sagt, ist kühn, spricht der Herr. / Doch ihr fragt: Was sagen wir denn über dich? Ihr sagt: Es hat keinen Sinn, Gott zu dienen. / Was haben wir davon, wenn wir auf seine Anordnungen achten / und vor dem Herrn der Heere in Trauergewändern umhergehen? Darum preisen wir die Überheblichen glücklich, denn die Frevler haben Erfolg; sie stellen Gott auf die Probe / und kommen doch straflos davon. Darüber redeten die miteinander, / die den Herrn fürchten. Der Herr horchte auf und hörte hin / und man schrieb vor ihm ein Buch, das alle in Erinnerung hält, / die den Herrn fürchten und seinen Namen achten. Sie werden an dem Tag, den ich herbeiführe / - spricht der Herr der Heere -, / mein besonderes Eigentum sein. Ich werde gut zu ihnen sein, / wie ein Mann gut ist zu seinem Sohn, der ihm dient. Dann werdet ihr wieder den Unterschied sehen / zwischen dem Gerechten und dem, der Unrecht tut, zwischen dem, der Gott dient, / und dem, der ihm nicht dient. Denn seht, der Tag kommt, er brennt wie ein Ofen: / Da werden alle Überheblichen und Frevler zu Spreu und der Tag, der kommt, wird sie verbrennen, / spricht der Herr der Heere. / Weder Wurzel noch Zweig wird ihnen bleiben. Für euch aber, die ihr meinen Namen fürchtet, / wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen / und ihre Flügel bringen Heilung. Ihr werdet hinausgehen und Freudensprünge machen, / wie Kälber, die aus dem Stall kommen." (Vgl. Mt 25,31-46: Schafe zur Rechten und Böcke zur Linken).
Vor- und nachgedacht...
Wann fühlen wir uns auserwählt,
als die besseren Christen,
die besseren Menschen?
Blick von Masada
Foto: Erika Gerken
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Zu Jesaja 19,18-25
Einen der imposantesten Texte der Bibel kennen die wenigsten - im Gottesdienst wird er nie vorgetragen. Er findet sich im 19. Kapitel des Jesajabuches:
Es geht um Israel und um Ägypten, den alten Todfeind, das Land der Bedrückung, und um Assur, den schrecklichen Aggressor, der im 8. Jahrhundert vor Christus ganz Palästina verwüstet hatte. Und es geht um eine Vision, um das, was Gott offenbar mit diesen drei Nationen vorhat - Nationen die für viel mehr stehen als für Israel, Ägypten und Assur: Eigentlich sind es Symbole - Symbole für die miteinander verfeindeten Völker und Religionen schlechthin.
Israel stellte sich die Zukunft ja bekanntlich so vor: Am Ende der Tage werden alle zum Zion kommen, sich alle zu Israel bekehren und mit Israel zusammen Gott auf dem Zion anbeten. So wie es ganz ähnlich - nur unter anderen Vorzeichen natürlich - die Christen erhofften und erhoffen: dass sich am Ende nämlich alle zum Christentum bekehren, und - am besten den Papst an der Spitze - Gott entgegenmarschieren würden; dann wäre ja alles in Ordnung.
Stellt es sich Gott aber auch so vor? Jesaja 19 belehrt mich eines Besseren:
"An jenem Tag werden fünf Städte in Ägypten die Sprache Kanaans sprechen und beim Herrn der Heere schwören. (...) An jenem Tag wird es für den Herrn mitten in Ägypten einen Altar geben, und an Ägyptens Grenze wird ein Steinmal für den Herrn aufgestellt."
Mitten in Ägypten - nicht auf dem Zion, ohne Vermittlung Israels - in Ägypten selbst beginnt man auf seine eigene Weise, Gott zu erkennen und ihn zu verehren. Israel würde sagen: Das ist ganz unmöglich. Die anderen müssen zuerst zu uns kommen. Und die Christen würden sagen: Das geht nicht! Sie müssen doch zuerst getauft werden. Und dann muss das Ganze ja auch noch kirchenrechtlich abgesichert sein.
Aber die biblische Vision kümmert sich wenig um solche Einwände. Sie geht sogar noch viel weiter. Der biblische Bericht fährt fort: "Wenn sie" - die Ägypter - "beim Herrn gegen ihre Unterdrücker Klage erheben, wird er ihnen einen Retter schicken, der für sie kämpft und sie befreit."
Da wird Ägypten - nicht Israel! - ein Retter, wir würden sagen, ein Messias verheißen: eine messianische Verheißung für Ägypten!
Und als ob das alles noch nicht reichen würde, fährt der Text fort: "An jenem Tag wird eine Straße von Ägypten nach" - nein nicht nach Israel -, "nach Assur führen, so dass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assur ziehen können."
Die Todfeinde versöhnen sich und das ohne Vermittlung des auserwählten Volkes.
Und dann kommt das ungeheuerliche: "Und Ägypten wird zusammen mit Assur (dem Herrn) dienen."
Unabhängig vom Judentum, unabhängig vom Christentum, die anderen Völker, die ehemaligen Feinde, erkennen den Herrn und verehren ihn auf ihre Weise. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. Das muss man hören auf dem Hintergrund all der Vorstellungen, die wir uns normalerweise von Gott und von den Religionen machen. Da kommen die beiden Feindvölker über alle Grenzen von Nation und Religion zum Glauben an den einen Gott und verehren ihn ganz einfach auf ihre Weise - und Gott ist das recht!
Und dann setzt der Prophet sogar noch einmal eins drauf: "An jenem Tag wird Israel" - nicht als erster - "als drittes dem Bund von Ägypten und Assur beitreten, zum Segen für die ganze Erde."
Das auserwählte Volk stößt als letztes dazu! Und wenn wir das Ganze in die heutige Zeit übertragen, dann müssen wir uns darüber hinaus sogar die Frage gefallen lassen, wann die alleinseligmachende Kirche begreifen würde, was der Herr da unter den Völkern wirkt, wann wir uns aufraffen würden, solch einem weltumspannenden Friedensbund die Hand zu reichen.
Und beim abschließenden Satz, habe ich mich, schon seit ich die Stelle kenne, gefragt, warum nicht bereits die Theologen Alt-Israels diesen Teil aus der Bibel gestrichen haben. Denn jetzt muss man ganz bewusst hören, was Gott hier, durch den Propheten uns Menschen sagen lässt:
"Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk," - nicht mein Volk Israel: mein Volk Ägypten! - "und Assur", "gesegnet ist Assur, das Werk meiner Hände," "und Israel," - ganz am Ende - "Israel mein Erbbesitz."
Das ist die Vorstellung, eines weltumspannenden Friedens, wie Gott sie hat. Jeder findet auf seine Weise zu ihm, und alle sind ihm am Ende genau auf diese Weise lieb und teuer: sein Volk, Werk seiner Hände und sein Erbbesitz. Alle Rechthaberei, alle Streitigkeiten, wer denn jetzt Gott richtig erkannt und recht verehrt habe, sind in den Augen Gottes offensichtlich nichtig und klein.
Jörg Sieger, aus der Weihnachtspredigt 2001
Noch mehr Infos
In Amos 9,7-10 liegt uns - nach dem Alttestamentler H. W. Wolff - eine Sammlung von Worten vor, die aus einer späteren Diskussion über die 5. Vision stammt. Autoren der Sammlung sind Amos-Schüler. Die 5. Vision mit ihrer unerträglichen Zuspitzung des Gerichtes - keiner entrinnt, auch nicht der tüchtigste Flüchtling! - musste zu einer Diskussion führen. In der Vision des Amos waren die Betroffenen pauschal angeklagt worden. Nun kann differenziert werden: Das Königshaus wird vernichtet werden. Die Sünder des Jahwevolkes werden vernichtet. Aber in Nordisrael gibt es nicht nur Verbrecher, es gibt auch Gerechte. Sie sind das "Haus Jakob" - und sie werden nicht vernichtet werden.
Amos hatte das Gericht uneingeschränkt verkündet. Die Amos-Schule reflektiert und begrenzt die Ankündigung des Propheten. Zeitlich können die Verse 7-10 nach dem Untergang des "Hauses Jerobeam" angesiedelt werden. Mit der Ermordung des Jerobeam-Sohnes Sacharja, 747 v. Chr., war die 100-jährige Herrschaft des Hauses Jehu für immer zu Ende gegangen.
Die Amos-Schule wiederholt damit das Prophetenwort in der nächsten Generation. Aber sie modifiziert auch das ursprüngliche Prophetenwort.