Weckruf - Wegruf
Mit dem Propheten Amos auf dem Weg
"Was würde mir fehlen, wenn es unsere Gemeinde nicht mehr gäbe?"
Weckruf am Freitag, 22. Januar 2010, St. Anton
Predigt in der Antoniuskirche
Bevor ich es vergesse: Wir brauchen noch jemanden für den Abschluss heute Abend. Hat jemand Lust? Ja, und dann muss der Bernhardussaal noch aufgeräumt werden. Es werden auch noch Kandidaten für den Pfarrgemeinderat benötigt. Und für die Frauengemeinschaft St. Peter brauchen wir auch noch eine neue Vorsitzende. Dann braucht St. Anton noch jemanden, der die Frauengemeinschaft wieder aufbaut. Im Rahmen des Schulprojektes suchen wir dann noch Jugendliche, die sich in der Hausaufgabenbetreuung engagieren. Und für die Besuchskreise brauchen wir noch Mitarbeiterinnen. Was den Bereich Pfarrhaus St. Peter angeht, suchen wir noch jemanden fürs Schneeräumen. Und in St. Anton brauchen wir noch Menschen, die Spenden fürs Pfarrfest sammeln. Die Kegelbahn im Antoniushaus können wir übrigens wieder nutzbar machen. Wir brauchen nur jemanden, der sie betreut. Und zur Verlängerung der Büroöffnungszeiten suchen wir noch ehrenamtliche Ansprechpartner.
Die Nase voll
Haben Sie eigentlich nicht auch schon die Nase voll? Wäre es nicht wirklich gut, wenn das endlich aufhören würde? Ewig dieses "wir brauchen", "wir suchen", "sie sollten".
Wer alles ist heute Abend nur deshalb hier, weil ich jetzt fast täglich gesagt habe, es wäre schon schön, wenn Sie alle kommen würden? Gemeinde ist riesige Verpflichtung. Immer nur Pflicht, immer nur "schon wieder", immer nur "ach Gott ja, das müssen wir auch wieder tun!"
Und was für eine Erleichterung, ganz insgeheim, wenn dann mal wieder etwas eingeschlafen ist. Trauert denn jemand wirklich der Pfarrfasnacht in St. Paul hinterher? Wie viele sind Gott froh, dass es die Dankandacht am Erstkommuniontag schon längst nicht mehr gibt?
Tut denn Gemeinde wirklicht gut? Wäre es nicht einfacher, wenn der Kirchenchor bei der Belegung des Pfarrheimsaales keine Rücksicht auf die Firmanden nehmen müsste?
Und warum soll ich etwas mit Menschen zusammen unternehmen, die mir absolut unsympathisch sind? Und ich wette mit Ihnen, dass es Ihnen da nicht viel anders geht als mir. Ich könnte 'ne ganze Liste zusammenstellen mit Namen, bei denen ich am liebsten wieder rückwärts raus gehe, wenn die an Veranstaltungen teilnehmen. Wie oft spielen wir Freundlichkeit vor, weil sich das halt so gehört - und dabei ist der Abend schon fast gelaufen, wenn der oder die auch schon wieder da sind! Mit denen verbindet einen nicht wirklich etwas.
Was uns verbindet
Verbindet uns überhaupt etwas? Was ist es, das uns zu einer Gemeinde macht? Antworten Sie jetzt bitte nicht zu früh. Es lohnt sich durchaus, ein wenig genauer hinzuschauen. Was macht eigentlich das Gemeindegefühl aus? Nicht immer hat es nämlich sehr viel mit Religion zu tun.
Was höre ich immer wieder in St. Anton? Wir waren früher halt so eine gute Gemeinschaft! Das kann ich mir gut vorstellen! So viele von Ihnen haben schließlich eine ganz ähnliche Geschichte: Man hat den Krieg überlebt, musste flüchten, hat sich wiedergetroffen und hier miteinander einen neuen Anfang gemacht. Natürlich als Christen, als evangelische und katholische - nicht umsonst ist hier in der Südstadt Ökumene so stark ausgeprägt. Es ist hüben wie drüben die gleiche Geschichte, die Menschen miteinander haben. Für diese Zeit des Neuaufbaus steht vor allem die Siedlergemeinschaft. Dieser gemeinsame Aufbau verband hier Menschen untereinander, machte sie zu einer Gemeinschaft. Und für viele war und ist das auch gleichbedeutend mit Gemeinde.
Wie hieß es jahrelang bei unseren Pfarrfesten? Wer mitmacht, der erlebt Gemeinde. Man trifft sich, weil man sich kennt, weil man einander wichtig geworden ist, weil sich Freundschaften entwickelt haben. Wie einer unserer Ministranten letzthin sagte: Stimmt, deshalb bin ich immer noch bei den Ministranten, weil ich dort meine Freunde treffe. Andere sind deswegen in der Leichtathletik, im Musikverein, bei der Wipperparty...
Und ich bin eben nicht mehr dort, wenn die Freundschaften auseinandergehen, nicht mehr tragen, anderes wichtiger wird. Wenn eine andere Generation heranwächst, die diese gemeinsame Geschichte von Flucht und Vertreibung eben nicht mehr hat, für die es keine Zeit des gemeinsamen Aufbaus in der eigenen Biographie mehr gibt, diese gute Gemeinschaft, "die wir doch früher hier einmal hatten", die ist dann eben Geschichte.
Das ist traurig und schmerzhaft, das hat sehr viel mit veränderten Gegebenheiten zu tun, mit gesellschaftlichen Veränderungen - im Grunde genommen aber, recht wenig mit christlicher Gemeinde.
Was verbindet uns den eigentlich - als christliche Gemeinde? Was macht diesen amorphen Haufen hier, aus den unterschiedlichsten Altersschichten, Berufen und mit ganz unterschiedlichen Biographien - was macht uns hier denn zu einer Gemeinde?
Fast alles, was Menschen an dieser Stelle aufzählen, lässt sich genau so gut von jedem Verein, jeder Interessengemeinschaft, von politischen Parteien, anderen Religionsgemeinschaften oder caritativen Einrichtungen sagen. Für einander da sein können andere auch. Andere mittragen können andere auch. Sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen tun manch andere sogar viel besser. Zur Ruhe kommen und persönliche Orientierung suchen kann man auch anderswo.
Es gibt eigentlich nur eines, was uns untereinander verbindet und zu einer christlichen Gemeinde macht: Der Glaube an Jesus Christus nämlich. Mit jedem und jeder, die sich hier zusammen finden, verbindet mich in der Regel nicht mehr, absolut nicht mehr, aber auch kein bisschen weniger, als die Person Jesu Christi.
Unter ferner liefen....
Wie hat es Gotthard Fuchs formuliert? Christen sind Menschen, die eine Vorliebe für Jesus Christus haben. Vielleicht liegt die Ursache unserer Gemeinde- und Kirchenkrise genau an diesem Punkt, an dieser Vorliebe nämlich!
Man hat festgestellt, dass sich in unserer Gesellschaft etwas verschoben hat. Es gab immer schon Menschen, die aktiv waren und sich engagiert haben. Und die meisten davon waren vielseitig orientiert. Man engagierte sich da und dort. Von kirchlich orientierten Menschen konnte man früher hören: Ich bin aktiv in unserer Gemeinde und engagiere mich auch noch im Sportverein.
Die Zahl derer, die sich kirchlich engagieren, ist gar nicht so viel kleiner geworden. Jetzt aber heißt es vorwiegend: Ich engagiere mich im Sportverein und auch noch in der Kirche. Kirche ist wichtig, Gemeinde ist ein hohes Gut, aber mittlerweile eben ein Gut neben anderen. Diese Vorliebe für Jesus Christus, dieses vor allem anderem, ist nicht wirklich zu entdecken.
Machen wir uns nichts vor, das war früher auch nicht anders. Aber es gab eben diese anderen Faktoren, die wichtig waren: die gemeinsame Geschichte, das Miteinander Aufbauen nach dem Krieg, oder dann auch die langen Traditionen so nach dem Motto: Wie der Vater so der Sohn.
Das aber ist wirklich weggebrochen. Und dementsprechend ist uns in Vielem der Boden unter den Füßen weggebrochen. Denn - ganz ehrlich - um Jesus Christus, gar um eine Vorliebe für ihn, ging es doch nur am Rande.
Kinderkram
Um den Glauben mühte man sich in der Erziehung der Kinder, aber sonst spielte der in den meisten Fällen doch wirklich eine untergeordnete Rolle.
Wie viele Familienkreise können ein Lied davon singen, wenn es um die Jahresplanung geht und um die Frage, ob man nicht wieder einmal ein wirklich religiöses Thema auf den Jahresplan schreiben müsste. Wie viele Ehepaare haben die Frage nach Religion in ihrer Beziehung erst dann wirklich entdeckt, als letztlich Kinder da waren. Nicht umsonst ist die Erstkommunionvorbereitung der Kinder für so manchen und so manche auch wieder der Punkt gewesen, selbst in der Gemeinde neu durchzustarten. Glaubensunterweisung, Auseinandersetzung mit dem Glauben, das war etwas für Kinder, allerhöchstens noch für Jugendliche. Und man mühte sich darum, wenn es um die Kinder ging. Denn dass es halt irgendwie doch wichtig ist, und dass man das als Kind schon lernen sollte, das hatte man noch internalisiert.
Hatte! Denn auch diese Selbstverständlichkeit ist in den letzten Jahren weggebrochen. Sankt Anton hat dieses Jahr 9 Kommunionkinder. Waren es nicht mal an die fünfzig? Und das liegt nicht daran, dass es viel weniger Kinder gäbe - die Kindergartengruppen sind randvoll! Aber der Automatismus, mit dem wir uns in den letzten zwanzig Jahren noch über Wasser gehalten haben, der Automatismus, dass man Kinder eben taufen lässt, auch der ist weggebrochen.
Warum denn auch? Warum denn auch soll man ein Kind zur Taufe anmelden, wenn man selbst nicht in der Kirche beheimatet ist, wenn es andere doch auch nicht mehr machen, wenn das, was früher die Gemeinden geprägt und getragen hat, für einen selbst doch schon lange gar nicht mehr gilt. Es gibt bei uns eben nichts mehr, was einfach automatisch so läuft.
Und ganz ehrlich? Ich bin nicht böse darüber! Gedankenloser Automatismus und das über Jahrzehnte hinweg, vielleicht ist das mit einer der Gründe für den schleichenden Tod christlicher Gemeinde, wie wir ihn jetzt erleben.
Und wenn sich das Christentum nur dann eine Überlebenschance ausrechnet, wenn man möglichst alle Kinder, solange sie sich noch nicht wehren können, zur Taufe trägt, dann haben unsere Gemeinden nicht wirklich ein Recht auf dieses Überleben.
Entschiedenheit
Christsein hat etwas mit Überzeugung zu tun, mit überzeugen und überzeugend wirken. Nur so kann ich mich selbst für diesen Jesus Christus entscheiden. Und ohne diese Entschiedenheit wird es künftig kein Christsein mehr geben. Da aber muss sich in unseren Gemeinden vieles, sehr vieles und sehr grundlegend ändern!
Denn Hand aufs Herz, wer von Ihnen wäre heute hier, wenn er nicht als Kind getauft worden wäre? Wer hätte sich wirklich auf den Weg gemacht, um diesen Christus in seinem Leben zu entdecken? Und welche überzeugenden Menschen hätten Sie angesteckt, hätten Sie auf diesem Weg begleitet? Wo ist unsere eigene Entscheidung für den Glauben, unsere Entschiedenheit für Jesus Christus?
Ohne die geht es aber nicht, wenn es sich um eine wirkliche Vorliebe für Jesus Christus handeln soll. Und Vorliebe heißt wirklich: vor allem anderen: vor meiner beruflichen Karriere, vor meinen anderen Interessen, vor all den vielen vermeintlichen übrigen Verpflichtungen! Ohne diese Entschiedenheit für den Glauben geht es zukünftig nicht.
Und jetzt können Sie sich ausrechnen, wie viele von den über sechstausend eingeschriebenen Mitgliedern in unserer Pfarrei, da am Ende mittun können, mittun wollen, mittun werden! Ich muss kein Prophet sein, um mir auszumalen, dass dafür in Bruchsal selbst die kleinste unserer Kirchen noch locker reichen wird!
Aber ich will auch nicht vermessen sein. Es scheint mir nämlich auch einer unserer großen Fehler zu sein, dass wir immer ganz genau wissen wollen wer denn dann die Kriterien noch erfüllt und wer nicht, wer denn dann noch dazu gehört und wer nicht.
Ein Gemeindeverständnis mit klar abgesteckten Grenzen und klarer Zuordnung, nach Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit - das hat kaum noch Chancen.
Wie war das wenn jemand verstorben ist? Wie war lange die erste Frage? "Ja von unserer Pfarrei?" Wer gehört denn zur Gemeinde und wer gehört nicht dazu?
Halogenscheinwerfer oder Kerzenflamme
Wir verlangen immer nach dem Ja oder dem Nein. Wir schauen da so gerne nach schwarz oder weiß. Nicht umsonst aber ist Bild für Jesus Christus nicht der Halogenscheinwerfer mit seinen scharfen Schatten und klaren Grenzen des Lichtkegels. Bild für Christus ist die Kerzenflamme. Im Kerzenlicht gibt es aber nicht schwarz oder weiß. Es gibt sogar kaum wirklich strahlende Helle - die ist eigentlich allein für die Flamme selbst vorbehalten. Drum herum gibt es ganz unterschiedliche und mit jeder Bewegung der Flamme auch immer wieder wechselnde Licht und Dunkelzonen mit ganz fließenden Übergängen. Und wo gerade noch hell ist, kann es gleich wieder etwas schummriger werden.
Wir hätten häufig gerne den Halogenscheinwerfer. Dann kann man bei Pfarrgemeinderatswahlen gut Wählerverzeichnisse erstellen. Dann kann man sagen: Gehört dazu - oder - gehört nicht dazu. Wenn wir anfangen von Jesus Christus her zu urteilen, wenn wir uns auf die Kerzenflamme einlassen, dann wird die Antwort sehr viel schwieriger. Vielleicht wird das ja sogar eine der ganz großen Herausforderungen für unser Christsein der Zukunft werden. Vielleicht wird man zukünftig gar nicht mehr klar sagen können, wer gehört denn jetzt eigentlich zu uns? Wer tut denn wirklich mit? Und wie viele sind wir denn überhaupt. Welche Rolle Glaube und Religiosität für Menschen hat, kann schließlich kein anderer für sie beurteilen.
Wir werden immer gewisses Licht sehen, wenn wir Gemeinden betrachten, es wird immer Menschen geben, die uns sofort einfallen, aber es gibt eben auch sehr viel Zwielicht, Menschen, die mal dazugehören, mal weniger. Menschen, die sich mal stärker engagieren, mal weniger. Vielleicht wird das eine der großen Herausforderungen der Zukunft werden, dass Jesus Christus selbst der einzige ist, der wirklich beurteilen kann, wer dazugehört und wer nicht, kein erzbischöfliches Ordinariat, keine kirchliche Meldestelle und erst recht keine Pfarrkartei.
Was soll eigentlich bleiben, werden, sein?
Was werden wir von unseren Gemeinden in diese Zeit hinüberretten? Was wird sich durchhalten? Um was lohnt es sich zu kämpfen? Es gilt genau hinzuschauen. Und es gilt unsere Gemeinden auf dem Hintergrund dieser Vorliebe für Jesus Christus ehrlich abzuklopfen. Wir müssen uns die Frage stellen, was für uns wirklich existentiell ist.
Ohne was können wir nicht leben? Die Märtyrer von Scili haben - als Jugendlicher hat mich deren Legende zutiefst beeindruckt - diese Märtyrer von Scili haben bei ihrer Vernehmung angegeben: Wir können nicht leben, ohne miteinander das Brot zu brechen! Ohne was können wir nicht leben? Was ist für uns als Christen wirklich existentiell? Und was müssen wir tun, damit das möglich sein wird? Was braucht es dazu und wo braucht es das?
Und was ist eigentlich nur noch Folklore? Was ist nett, aber völlig unwichtig? Um was ist es mir eigentlich nur leid, weil halt Kindheitserinnerungen dran hängen, wie an einem alten Bild an der Wand, dessen Aufhängung im Grunde aber keine wirkliche Bedeutung hat? Wo sind all die Dinge, bei denen die Welt nicht untergeht, wenn sie mal irgendwo anders hingehängt, abgehängt oder sich gar ganz einfach von ihnen trennt.
Und um was ist es mir eigentlich gar nicht leid? Wo sind all die Dinge, die wir nur noch tun, weil sie halt immer schon gemacht wurden, die aber eigentlich doch nur noch Last oder auf Zukunft hin sogar hinderlich sind. Schauen wir uns unsere Gemeindewirklichkeit daraufhin ganz einfach ganz ehrlich an. Und konfrontieren wir all das, was sich da auftut, all das was wir da finden, alles, ohne das wir nicht leben können, alles, was nur noch Folklore ist, und alles, was wir eigentlich, wenn wir ehrlich sind, lieber heute als morgen loswerden würden, konfrontieren wir es mit jener Vorliebe für Jesus Christus.
Wie geht das, was sich da zeigt, mit dieser Vorliebe zusammen. Habe ich sie überhaupt? Ist sie mir wichtig? Wie bekomme ich sie, stärke ich sie, pflege ich sie? Was muss ich noch einmal zurechtrücken und welche Prioritäten zeichnen sich dann ab?
Was braucht es, um eine solche Vorliebe für Christus gemeinsam zu feiern?
Wie können wir für sie werben?
Und wo oder vor allem wie, wie können wir eine solche Vorliebe für Jesus Christus am ehesten gemeinsam leben?
(Dr. Jörg Sieger, Pfarrer)