Weckruf - Wegruf
Mit dem Propheten Amos auf dem Weg
Nachmittag mit Leopold Glaser zu gesellschafts- und kirchenpolitischen Themen
Weckruf am Samstag, 27. Februar 2010, Pfarrzentrum St. Paul
Die Kirche heute - ein Ort der Hoffnung?
Zur Lage des Glaubens und der Zukunftsfähigkeit des Christentums in der Dialektik der Moderne
von Leopold Glaser
Ich möchte beginnen mit einem Zitat des Erzbischofs von Köln, Joachim Kardinal Meisner, das uns mitten ins Thema führt. In einer Silvesterpredigt sagte der Kardinal einmal - und sinngemäß hat er sich regelmäßig immer wieder so geäußert: Deutschland sei eine "gottvergessene unfruchtbare Wüste", in der die Menschlichkeit geschwunden sei. "Unsere Gesellschaft ist voller Todeskeime", sagte er. "Die deutsche Gottvergessenheit zeigt sich heute in der geschwundenen Menschlichkeit in unserem Lande. Wem Gott nicht mehr heilig ist, dem ist nichts mehr heilig." (dem kann man gewiss ein Stück weit folgen, s. Erich Fromm einschlägig über "Nekrophilie"). Dann aber erklärte der Kardinal auch, warum das so sei (und weswegen ich das zitiere): "Wenn in deutschen Medien permanent Kirche, Christentum und Gott demontiert werden, dann sägt man schlicht den Ast ab, auf dem wir alle in der abendländischen Wertegemeinschaft sitzen." Das nenne ich Verfolgungswahn aus Angst vor der Wirklichkeit der Welt - für mich hat die gewiss schwierige Lage der Kirche(n) und der Christen andere Ursachen. Nun ahnen Sie vielleicht, was Ihnen bevorsteht, wenn Sie mir zuhören. Ich muss allerdings etwas ausholen - ich werde jedoch versuchen, es nicht zu weit zu treiben, und ich will auch versuchen zu zeigen, dass wir unter bestimmten Bedingungen getrost auf dem Ast, auf dem wir sitzen, sitzen bleiben können. Ich stelle meinem Referat als Motto einen Satz von Johann Baptist Metz voran, der in einem deutlichen Gegensatz zu der Auffassung des Kardinals steht:
"Nicht ein Zuviel an Kritik, sondern ein katastrophaler Mangel an fundamentaler und eingeübter kritischer Freiheit in der Kirche ist eine der Ursachen der kirchlichen Krise heute. Und dieser Mangel macht gerade die 'Herde Christi' zum zentralen Krisenherd in der Kirche von morgen." (Sie können diesen Satz nachlesen in dem berühmten, wichtigen und faszinierenden Buchs von Metz: Glaube in Geschichte und Gesellschaft", auf Seite 101.)
Um einen anderen Aspekt meines Themas gleich noch anzudeuten - und damit ich Sie nicht zu sehr "kritisch" abschrecke und ängstige, füge ich ein weiteres "Motto" hinzu, einen Satz des gar nicht kirchlich-religiös gebundenen Philosophen Christoph Türcke: "Dass die Menschen von der Religion einmal ganz loskommen könnten, gehört zu den religiösen Illusionen, von denen sie loskommen müssen - wenn sie bei Verstand bleiben wollen." (Diesen Satz finden Sie in Türckes Buch: "Kassensturz - Zur Lage der Theologie", auf Seite 7.). Türcke spricht freilich nicht von den Kirchen.
Ich würde mich im Folgenden gern an die Empfehlung derer halten, die sagen, man solle nicht so sehr über "die Kirche" reden, als vielmehr von ihrer Aufgabe, sich um die Menschen, ihr Leben und ihr Heil zu kümmern. Das ist schon richtig. Aber wie die Dinge derzeit liegen, nämlich wie sehr "die Kirche" - in allen ihren Gliedern, als "Volk Gottes", das wir ja alle sind, und als "Amtskirche" -, weithin diese Aufgaben nicht erfüllt, ist sie selbst ein nicht ganz kleiner Teil des Problems, für dessen Lösung sie gern gehalten würde.
Eine Lösung des Problems Kirche würde umso leichter sein, je besser es uns gelänge, das Kirchesein neu zu denken, jenseits (oder abseits) der dogmatischen Erstarrungen. Eugen Drewermann hat es paradox so formuliert (in einem Interview mit dem Schweizer Fernsehen): "Die Kirche muss aufhören, Kirche zu sein, damit sie endlich die Kirche Jesu würde."
Dies zur Einleitung.
Nun zur Gliederung meines Referats (5 Kapitel, in Stichworten):
I. Zur Lage des Glaubens: Was die Menschen heute alles glauben - und der dramatische Traditionsabbruch im christlichen Glauben. Ergebnisse von Umfragen und anderen Ermittlungen.
II. Wie es dazu kam, dass es so ist, wie es ist: Die Freiheitsgeschichte der Neuzeit, der "Gotteskomplex", die Dialektik der Moderne und der Rückzug der Kirche aus dem Dialog mit der Moderne. Ein bisschen Philosophiegeschichte.
III. Die "Wiederkehr" der Religion: Die Aufklärung der Aufklärung über sich selbst und die Erfahrung, dass sich die Religion als "aufklärungsresistent" erwiesen hat. Oder: Religionsproduktive Tendenzen der Moderne.
IV. Die Reaktion der Kirche auf ihre schwierige Lage: die Abschreckung der Gläubigen und aller, die es noch nicht oder nicht mehr sind, durch das "Lehramt". Stichwort Dialogverweigerung.
V. Was heute nottut: nämlich ein partnerschaftlicher Dialog der freien Menschen - in der Kirche und mit ihren Verächtern. "Nachfolge" statt Verordnungen, Vertrauen statt Misstrauen, Dienen statt Herrschen - weil Glauben heute auf der freien Entscheidung (der Wahl zwischen verschiedenen religiösen Optionen) beruht und die Überzeugungskraft glaubwürdiger Gläubiger verlangt.
Jetzt wissen Sie, was Sie erwartet. Ich vermute allerdings, dass ich damit ein Stück weit auch Eulen nach Athen trage.
I. Zur Lage des Glaubens heute
Ich möchte Ihnen zunächst, bevor ich Ihnen sogenannte gesicherte Daten vortrage, eine persönliche Erfahrung schildern. Als eine meiner Nichten, ein Patenkind von mir, eine sehr sympathische und kluge Person, eine hervorragende Archäologin übrigens, vor kurzer Zeit ein Baby gebar, fragten wir sie, wie's denn sei mit der Taufe. Und sie antwortete: "Bei dem Papst kann man das Kind doch nicht taufen lassen. Sie soll sich später mal selbst entscheiden, was sie will." Eine merkwürdige Äußerung, voller Missverständnis über den Glaubens und die Bedeutung des Papstes, aber nicht untypisch, denke ich, für ein unbehagliches und uninformiertes Danebenstehen, das sich unsicher ein Argument sucht: ein Fall von nicht erfahrener "Glaubensvermittlung", nicht nur des Wissens wegen. Dem nicht vermittelten Wissen ging die nicht-erlebte "Beheimatung" voraus. Diese junge Frau und jene vielen, die so reden, geben aber immerhin noch eine Begründung für ihre Entscheidung, den Segen der Kirche nicht in Anspruch zu nehmen. Andere höre ich nur erstaunt gegenfragen: "Taufen? Warum? Ich glaub' nix und mir fehlt nix."
Ich nehme an, dass Sie ähnliche Erfahrungen haben. Die Frage ist, wie "repräsentativ" solche Primärerfahrungen sind.
Dazu komme ich nun. Eine große Deutsche Wochenzeitung erschien vor einiger Zeit mit der großen Aufmacherschlagzeile "GOTT ist wieder in!" Darunter stand, die gute Nachricht schon etwas abschwächend: "Weniger als die Hälfte der Deutschen sind Christen - aber an höhere Wesen glauben fast alle". Da ich kein theologisches Referat halte, will ich mich nicht auf die Frage einlassen, was der Glaube an Ufos mit Gott zu tun hat. Aber die Zahlen der Umfrage, die diese Wochenzeitung zitierte, sind einigermaßen bemerkenswert (bei allem gebotenen Vorbehalt gegenüber der Gültigkeit solcher Umfragen). Es zeigt, dass sich das Glaubensbedürfnis, wenn es denn eines gibt, neue Wege sucht, vielfach "an Gott und der Kirche vorbei". Die Zahlen: Auf die Frage "Glauben Sie an Gott?" antworteten von den Befragten (in ganz Deutschland) 66 Prozent mit Ja, 32 Prozent mit Nein; im Westen der Bundesrepublik sagten Ja 74 Prozent, im Osten (der früheren DDR) waren es 31 Prozent. Nein sagten dort 66 Prozent. Besonders hervorzuheben ist dabei, dass von jenen 66 Prozent der Befragten, die "an Gott glauben", nur 63 Prozent den christlichen Gott meinen, 34 Prozent glauben an eine "Gottheit unabhängig von Religionen ". Das heißt, dass umgerechnet nur 42 Prozent "christlich" glauben, oder dass, salopp gesagt, der Gott des Christentums keine Mehrheit mehr hat in Deutschland. Am niedrigsten sind die Werte in der Gruppe der 14 bis 29jährigen: von ihnen geben 42 Prozent an, überhaupt nicht an Gott zu glauben. Die Zeitung zog das Fazit: "Heute glauben die deutschen mal an dies, mal an jenes, und das am weitesten verbreitete Glaubensbekenntnis lautet: Ich bin irgendwie religiös." Und die Zeitung zitiert den Soziologen Gerhard Schmidtchen, einen einflussreichen Experten für Religionsbefragungen, mit der Bemerkung, den meisten Deutschen sei ihr Jahresurlaub heiliger als das Vaterunser. (Jüngste Umfragen haben ergeben, allerdings recht unspezifisch, dass derzeit in Westdeutschland nur noch weniger als 60 Prozent einer christlichen Kirche angehören -1070 waren es noch 75 Prozent. Nota bene. Das war nicht die Frage nach dem Glauben an Gott. Und danach sagen Experten voraus, dass es 2025 weniger als 50 Prozent sein werden.
Auch wenn, wie gesagt, solche Umfrageergebnisse nicht einfach für bare Münze genommen werden können und aus sozialwissenschaftlicher Sicht viel gegen ihre Vordergründigkeit einzuwenden ist, so erscheinen die genannten Daten doch einigermaßen plausibel. Vor allem werden sie gestützt durch die Untersuchungen, die der Sozialwissenschaftler Heiner Barz (1990/91) im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland über "Jugend und Religion" machte. Es ist das bisher wohl Gründlichste, was es auf diesem Gebiet gibt: eine Auswertung langer, intensiver Gespräche mit Jugendlichen und dazu die Auswertung der bisher vorhandenen Literatur zum Thema.
Das Resultat von Barz' Untersuchungen sagt mehr aus über das Denken, Verhalten, über den Glauben bzw. Nicht-Glauben junger Menschen, als die dürren Zahlen einer herkömmlichen Umfrage - und es ist "aus christlicher Sicht", wenn ich so sagend darf, niederschmetternd. Ich kann das, was Barz in drei Bänden referiert, hier nicht im Einzelnen darstellen; nur einige Kernsätze möchte ich Ihnen geben. Barz sagt zusammenfassend (in einem Aufsatz in der Badischen Zeitung) über den Glauben der "heutigen Jugend": "So löst sich der Gottesglaube zunehmend von seiner christlichen, personalen, transzendenzbezogenen Prägung ab. Soweit Gott heute für Jugendliche noch denkbar ist, wird er immanent, pantheistisch vorgestellt. Gott ist weniger 'der ganz andere', sondern eher 'in allem'. Gott ist nicht mehr personales Gegenüber, sondern eher der innere Dialogpartner. Und die Einsicht, dass keine Religion ein exklusives Verhältnis zu Gott beanspruchen darf, setzt sich durch." Barz zitiert einen für dieses Denken typischen Jugendlichen: "Die einen sagen Buddha, die anderen sagen Manitu, die dritten sagen Gott und die vierten sagen Trallalla."
Zu einer solchen Haltung bekennen sich Jugendliche, die überhaupt noch mit Religion etwas "am Hut" haben. Sie koppeln sich in ihrer religiösen Überzeugung von der christlichen Tradition ab - mit einem Schulterzucken, oder - so Barz - mit der "symptomatischen Gegenfrage": "Wer glaubt denn heute noch an die sieben Gebote?" Für viele gilt Religion mit Marx als "Opium des Volkes" oder als "selbstgeschaffene Märchenwelt" einer unreifen Menschheit. Offenbar verträgt sich nach Auffassung solcher Jugendlicher Religion nicht mit ihren Stärke-Phantasien. Sie meinen, es seien die Schwachen, Außenseiter, Alten, Armen und Kranken, die in der Religion Halt, Sicherheit und Schutz suchten und fänden.
Barz resummiert: "Wer sein Leben nicht selbst in den Griff kriegt und 'etwas braucht, an dem er sich festklammern kann', der verschreibt sich einer Religion. Der selbständige, aufgeklärte Jugendliche von heute dagegen ist stolz darauf, dass er so etwas nicht braucht." Ein charakteristisches Zitat dazu: "Die westliche Welt hat eigentlich alles was sie braucht, und deshalb verlieren wir den Glauben." Barz verweist darauf, dass es jedoch noch "einen - wenn auch kleinen - Teil der jungen Generation" gebe, dem die Kirchen noch immer eine geistige Heimat böten: Barz fasst seine Einschätzung, die er während seiner Unersuchung gewonnen hat, so pessimistisch zusammen: "Der christliche Glaube wird weiter ab- wenn nicht aussterben, weil er erstens nicht mehr im Elternhaus vermittelt wird" (auf das Thema Elternhaus, Familie und Glaubensvermittlung" werde ich später noch zu sprechen kommen, im Teil V) "und zweitens nicht mehr zeitgemäß ist... Die Kirche als Institution wird zur Sekte schrumpfen und nur noch für wenige Außenseiter als letzter Strohhalm interessant sein. Dass sich die Kirchen verändern, der neuen Zeit Rechnung tragen müssen, wird ebenso oft gefordert, wie es für wenig wahrscheinlich, ja für ausgeschlossen erachtet wird..."
Auch für die Gruppe der sogenannten kirchentreuen Jugendlichen hat Barz ermittelt, dass sie den christlichen Großkirchen kaum noch Chancen geben. Ein wahrhaft "dramatischer Traditionsbruch", sagt er. Das gilt allerdings nur für die Welt des Westens. Der jetzige Papst hat, zuverlässigen Berichten zu Folge, die Kirche Deutschlands längst abgeschrieben.
Und die "neue Religiosität" - wie steht es damit? Dieses vielgerühmte und auch von manchen kirchlichen Funktionären wohl etwas voreilig vereinnahmte Phänomen beschreibt der Wiener Religionswissenschaftler und frühere Priester Adolf Holl, wie mir scheint treffend, so: "Aus dem religiösen Erbe bedient sich das Selbstverwirklichungsmilieu wie im Supermarkt, beständig auf der Suche nach neuen Erlebnissen, Sinn-Angeboten, Entlastungsmöglichkeiten. So entsteht eine Art Schnuppermentalität in Glaubensdingen, die mit der alten Frömmigkeit so viel gemein hat wie Helmut Kohl mit Karl dem Großen."
Man kann also getrost von einem radikalen, dramatischen Traditionsbruch reden (auch wenn laut Statistik in Deutschland immer noch etwa 60 Prozent (s. o.) als - Kirchensteuer zahlende - Christen gezählt werden); denn hinzu kommt noch der von dem Wiener Pastoraltheologen Paul Michael Zulehner beschriebene, weit verbreitete "ekklesiale Atheismus" unter den sogenannten guten Gläubigen - jene große Zahl "übertünchter Gräber", von der bei Matthäus die Rede ist und die nicht gerade faszinierend wirken auf die, denen der Glaube vermittelt werden soll. (Sie erinnern sich an die bei Matthäus zitierte "Strafpredigt" Jesu: "Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gleicht übertünchten Gräbern, die von außen schön aussehen, innen aber voller Unrat und Knochen sind. So steht es auch mit euch: Von außen glänzt ihr unter den Menschen als Gerechte, im Inneren aber strotzt ihr von Heuchelei und Schlechtigkeit." Mt. 23/27,28)
Diese Situationsbeschreibung des Christentums gilt allerdings, wie gesagt, nur für die westliche Welt. In der sogenannten "Dritten Welt" (zu der nun auch die ehemals "zweite", der frühere Ostblock, gehört) ist es weitgehend anders. Für unsere Situation allerdings gilt wohl, was der Osnabrücker Religionspädagoge Ralph Sauer über die Untersuchungen von Heiner Barz schrieb (CiG 47/92): Sauer erinnert an ein Wort von Karl Rahner, der einmal Deutschland als "heidnisches Land mit christlicher Vergangenheit und christlichen Restbeständen " charakterisierte, und er meint, "angesichts dieser unleugbaren Tatsache stellt die schon fast zum Schlagwort gewordene Rede von der 'Tradierungskrise des Glaubens" eine Verharmlosung dar; denn sie erweckt den Anschein, als ob es bei der Glaubenskrise nicht um die Sache des Glaubens gehe, sondern nur um die Art ihrer Vermittlung. Dabei geht es um den Kern der Botschaft, nicht einfach nur um Vermittlungsstrategien." Eine sehr pessimistische Einschätzung aus eher traditionell kirchlicher Sicht; denn die Botschaft Jesu findet auch bei nicht (mehr) kirchlich gebundenen Menschen Zustimmung - sie wird geradezu gegen die Kirche ins Spiel gebracht (siehe das eingangs zitierte Wort von Drewermann).
Ich vermute, dass wir damit an einem Punkt angelangt sind, der Sie in Ihrer Arbeit, soweit sie kirchlich engagiert sind, besonders angeht. Bevor ich dazu aus meiner Sicht - der eines Journalisten und Soziologen, der sich freilich seit langem mit Theologie beschäftigt hat - einige Bemerkungen mache, will ich in aller Kürze die Frage erörtern, warum es dazu kam, wie es nun ist.
Leopold und Veronika Glaser (von links)
II. Die Entwicklung der neuzeitlichen Subjektivität bis zur Dialektik der Moderne. Ein kleines Kapitel Philosophiegeschichte.
Aus den Ermittlungen von Heiner Barz und auch aus der Einschätzung von Adolf Holl (und vieler anderer) lässt sich unserem gegenwärtig vorherrschenden Bewusstsein folgende Diagnose stellen: Unsere Gesellschaft ist funktional hochdifferenziert und pluralisiert; sie "zerfällt" in verschiedene Sinnwelten mit je eigenem Normensystem: Individualisierung ist dafür das Schlagwort - mit seinen Licht und Schattenseiten. Im Mittelpunkt steht das eigene Ich: es bildet den letzten Sinnhorizont. Das private Glück des einzelnen wird zur letzten Instanz - mit der Folge hedonistische-materialistischer Orientierung: egoistischer ökonomischer Vorteilsmaximierung. So die vielfach kritisch charakterisierte Lage - mit der Kehrseite: der "Krise der Solidarität", die auch das neuzeitliche Subjekt in die Krise stürzt, ins Leere. Mit dem "Tod Gottes" ist auch der "Tod des Menschen" eingetreten, sagt Johann Baptist Metz. Eine paradoxe Situation: Die Erfindung des Subjekts führte zur Zerstörung des Subjekts? "Die Erfindung des Subjekts", habe ich gesagt - und das ist der kritische Punkt.
Diese ausgesprochen abendländische Erfindung des Individuums hat eine lange Vorgeschichte. Sie beginnt einerseits im alten Israel, wo das Individuum, vereinfacht gesagt, aus der Auseinandersetzung mit Gott hervorging (Man kann es auch so ausdrücken: Gott schuf den Menschen als Person); andererseits entsprang sie dem Vernunftdenken im alten Griechenland. Der bedeutenden US-amerikanischen Religionssoziologen Peter Berger sagt: "Die Geschichte des abendländischen Ich hat ihren Ausgangspunkt in der Verschmelzung der beiden von Jerusalem und Athen verkörperten Ströme individuierender Lebens- und Denkpraxis". In einer langen Geschichte hat sich dieses Denken entwickelt, bis es in der Neuzeit durch verschiedene Umstände auf die heutige Spitze getrieben wurde. (Wichtige Stationen waren auch die Trennung der Ostkirche von der des Westens und der Streit von Kaiser und Papst im späten Mittelalter um die Vorherrschaft und die Trennung beider Herrschaftsbereiche - mit der Folge der Anbahnung der allmählich sich entwickelnden modernen Gesellschaft.)
Wichtige Stationen auf diesem Weg waren auch die Entdeckung der Buchdruckerkunst durch Gutenberg, die sogenannte Entdeckung Amerikas durch Kolumbus (der Beginn der europäischen Expansion); sodann die Entfaltung des heliozentrischen Weltbildes durch Kopernikus und die Reformation mit Luther.
Vor allem aber: Den Geist der Renaissance - am Beginn der Neuzeit - hat der florentiner Philosoph Giovanni Pico della Mirandola in den 80er Jahren des 15. Jahrhunderts ganz besonders deutlich auf den Punkt gebracht. In seiner für die Entwicklung des modernen Selbstbewusstseins zentralen Oratio "De hominis dignitate" (Von der Würde des Menschen) entfaltet er - mit 23 Jahren - in einer fiktiven Rede, die er von Gottvater an den Menschen halten lässt, diesen Gedanken: Weil der Mensch ursprünglich nichts habe, könne er von allem haben, sein Mangel sei seine Stärke. Pico lässt Gottvater sagen: "Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen."
Das war ein enorm folgenreicher Gedanke: Das anthropozentrische Denken löste das bis dahin geltende theozentrische ab; der Mensch sieht sich jetzt als Schöpfer seiner selbst. Der menschliche Allmachtswahn und Machbarkeitswahn (und Unschuldswahn) nahm seinen Lauf. "Plus ultra", immer weiter hinaus: dieses Wort hat sich der Kaiser jener Zeit, Karl V., zum Motto gewählt.(und mit der Parole "Deus vult", Gott will es, überfiel er die Indios in der Neuen Welt.) Die Rede vom "Gotteskomplex" des Menschen (Titel eines wichtigen Buchs von Horst Eberhard Richter) hat hier ihren Grund. Die Kirche jener Zeit hat sich selbst auf diese Ebene der Eroberung - wie einst bei den Kreuzzügen - eingelassen, indem sie sich an den menschenfressenden Überfällen beteiligte - vermeintlich im Dienst der Glaubensverbreitung (einige wenige, die wir heute als Lichtgestalten feiern, Las Casas etwa, ausgenommen).
Der kurzen Zeit wegen kann ich die weitere Entwicklung dieses Denkens der Subjektivität und Allmachtsphantasien - und seiner Steigerung bis auf den heutigen Tag - nicht im Einzelnen darstellen. Ich nenne nur noch seiner besonderen Bedeutung wegen den Philosophen Rene Descartes mit seiner Formel "Cogito, ergo sum: ich denke, also bin ich". Ein höheres Denkmal kann dem Individuum nicht errichtet werden. Descartes hat daraus gefolgert, der Mensch sei also Herr und Besitzer des Natur. Leonardo Boff hat das so übersetzt: "Ich erobere, also bin ich" - und damit den gefährlichen Anteil, die mögliche und auch real praktizierte Hybris solcher Selbsteinschätzung entlarvt. Und der Philosoph Vittorio Hösle sagt: "In meinen Augen ist das bürgerliche Selbstbewusstsein nichts anderes als das notwendige Resultat der Emanzipation der neuzeitlichen Subjektivität von Gott als dem Grundbegriff allen Denkens im Mittelalter." notwendige Resultat. Es gibt ja auch starke Gründe, die Selbstüberschätzung des neuzeitlichen Menschen zu kritisieren - angesichts dessen, was daraus geworden ist, nämlich neben gewiss großartigen Schöpfungsleistungen verheerende Zerstörungen in den Seelen und in der Natur..
Aber ich kann mich dennoch nicht jenen anschließen, die deswegen die Aufklärung (oder die "Moderne") pauschal verdammen zugunsten eines vermeintlich besseren "guten Alten". Denn die Geschichte der Neuzeit ist auch eine faszinierende Freiheitsgeschichte, die zumindest die Möglichkeit gab, dass der Mensch sich aus Bevormundung und Unterdrückung befreite (wenn es auch nicht ganz gut gelungen ist). Bedauerlicherweise stand die Kirche zumeist nicht auf der Seite der Freiheit, auf der Seite der Menschen. Sie hat in ihrem Kampf mit den "weltlichen" Mächten um die Macht zu oft den guten Gedanken der Aufklärung, den Vorrang der Würde der Person und damit auch ihr Eigenes verraten, nämlich dass Gott freie Menschen mit aufrechtem Gang will: "Richtet euch auf und erhebt eure Häupter, denn die Erlösung ist nah", heißt es bei Lukas.
III. Gegenreaktionen gegen die halbierte Aufklärung.
Die Kirche hat sich, wie gesagt, von Anfang an gegen das Projekt der Aufklärung und der Moderne gestellt, ohne jemals die Chancen, die sich ihr darin boten, je wahrgenommen zu haben, nämlich das Individuum in seiner Freiheit zu begleiten und zu stärken und so zu sich selbst finden zu lassen,. Sie hat sich, beleidigt darüber, dass ihr die bisher innegehabte Macht über die Menschen und das Welterklärungsmonopol entwunden wurde und die Gewissen zu sich selbst befreit werden sollten, von dem Projekt abgewandt. Sie hat es mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft statt sich ihm kritisch zu stellen und es im Interesse der Humanität kritisch zu begleiten. Sie hat die Aufklärung dadurch sozusagen allein gelassen, statt ihre negativen Auswüchse zu zähmen. Sie hat damit den Menschen geschadet - und sich selbst auch, wie wir heute erkennen: Sie hat ihr Pfund vergraben, wie der Physiker und Philosoph Carl-Friedrich von Weizsäcker sagte: "Dies aber beraubte umgekehrt den Glauben an den Fortschritt der tiefen Belehrung durch die christliche Wahrheit."
Die Kirche verzichtete auf die Möglichkeit, die Halbierung der Aufklärung, ihre Verkürzung um die humane Vernunft, ihre Reduktion auf die bloß instrumentelle (technische) Vernunft, also auf die reine, kalte Zweckrationalität - bis in die radikale Ökonomisierung des Denkens und Handelns - zu überwinden. Diese Reduktion des Menschen auf seine Funktion als Rädchen im Getriebe des ökonomischen Systems, in dem es auf den Menschen gar nicht mehr ankommt, ist das Problem, vor dessen Unlösbarkeit wir derzeit stehen wie der Ochs vor dem Scheunentor - ratlos und unberaten, weil das System seiner selbst offensichtlich nicht mehr Herr wird (siehe die Krise unserer Gesellschaften). Die alleingelassene, halbierte Aufklärung - ich zitiere den Philosophen Helmut Dubiel - "schlägt um in eine nur noch von ökonomisch-technischen Verwertungsimperativen vorangetriebene Wissenschaftsentwicklung, die in keinem Verhältnis mehr zu humanen Zielsetzungen steht…Kurzum: die durchgeführte Aufklärung gelangte nicht, wie man mit Kant hätte hoffen können, zu einem öffentlichen Raisonnement über die Zwecke, die eine aufgeklärte Menschheit sich setzen will. Sie führte vielmehr zur Dominanz der Mittel über den Zweck, zur Despotie der Zweckrationalität - zu einer zweiten Natur, die sich dem Menschen ähnlich fremd und entscheidungsverschlossen darbietet wie die erste. In dem durchgeplanten, klimatisierten, computerisierten und voll versicherten Gehäuse der Gesellschaft ... bewegt sich der moderne Mensch ähnlich angstbesessen und desorientiert wie der Urmensch im Dickicht der vorgeschichtlichen Welt."
Also Umschlag der Aufklärung in eine Struktur der umfassenden Entfremdung: Horkheimer und Adorno haben das in ihrem fundamentalen Buch "Dialektik der Aufklärung" schon behandelt: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück, die Moderne wird zum permanenten Konflikt zwischen einer verdinglichten Rationalität und einer aus magischen, animistischen und mythischen Motiven sich speisenden irrationalen Weltflucht. Vor solcher Art "neuer Religiosität", vor solcher Wiederverzauberung der Welt ist zu warnen - und die christlichen Kirchen mit ihrem eigenen "Leidensgedächtnis" (Metz) sollten es tun. Sie könnten es auch, wenn sie sich denn dem humanen Interesse der Aufklärung ganz und gar zuwendeten: wenn sie sich selbst und die Aufklärung über sich selbst aufklärten.
Aber kann die Kirche das noch: sich ihrer Herkunft, ihrer eigenen Ideale, ihres Auftrags zur Befreiung der Menschen aus Despotie und Unmündigkeit, der bedürftigen zuerst, um der Botschaft Jesu Willen erinnern - und bei der notwendigen Umkehrung der "Prozesse der Entmächtigung und Auflösung des Menschen" (Metz) mitwirken? Die Menschenrechte basieren auf jüdisch-christlich-griechischem Gedankengut, wird zu Recht gesagt - auch wenn die Mitwirkung des kirchlich verfassten Christentums bei der Durchsetzung dieser Rechte und Verpflichtungen (Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, Anerkennung des Anderen, Toleranz) gelinde gesagt sehr bescheiden war, zum Teil heute noch ist.
Es ist - nach dem am Anfang über die Lage des Glaubens Gesagten - offensichtlich, dass viele sich in dieser Hinsicht von der Kirche wenig versprechen, dass die Selbstdarstellung des verfassten Christentums immer weniger Menschen überzeugt. Die Rede von der Wiederkehr des Religiösen und von den "religionsproduktiven Tendenzen der Moderne" (so der Theologe Hilmar Höhn) signalisiert zwar, dass die Aufklärung sich nicht als "religionsresistent" erwiesen hat; es zeigt sich sogar, dass die Moderne nicht per se antireligiös sein muss, sofern verfasste Religion sich nicht als prinzipiell antimodern geriert. Aber die Zuflucht derer, die sich wieder der Religion zuwenden oder die, die von ihr gar nicht loskamen, zu den diversen, diffusen Spielarten neuen Glaubens, zur Selbstbedienungs-Religion (ich erinnere an das Zitat von Adolf Holl) zeigt allerdings auch, dass die Kirche/die Kirchen (bisher jedenfalls) als Ausweg aus Angst und Einsamkeit und als Ziel der Suche nach Geborgenheit und Erlösung für die wenigsten ein hoffnungsvoller Ort sind.
IV. Die real existierende Kirche und ihre Reaktion auf die Sinnsuche der heutigen Menschen.
Die Kirche hat, wie gesagt, noch immer nicht erkannt, dass sie ihre Chance im Verlauf der Moderne selbst verspielt hat, und sie erkennt noch immer nicht ihre Chancen heute. Schlimmer noch, sie reagiert auf die Ratlosigkeit der Menschen immer noch völlig kontraproduktiv. Sie hat sich aus den Fesseln des 19. Jahrhunderts, als sich in der Abwehr der neuen Zeit die Abschottung gegenüber der modernen Welt, der "Antimodernismus" entwickelte, noch immer nicht befreit. (Der Versuch, es im "Aggiornamento" des Zweiten Vatikanischen Konzils zu tun, soll ja seit einer Reihe von Jahren mit mancherlei herrscherlichen Mitteln ungeschehen gemacht werden.)
Die neuen, "postmodernen" Angebote an Religiosität können allerdings als Alternativen zur traditionellen Religion kaum dienen; denn es ist zweifelhaft, ob mit dem beliebigen, maßstablosen Selbstfertigen religiöser Anschauungen dauerhafte tragfähige Gewissheiten entstehen können und die seelische und soziale Vereinsamung und Angst des heutigen Menschen aufgehoben werden kann (ich erinnere an das vorhin zitierte Wort von Adolf Holl).
Der Münsteraner Theologe Tiemo Rainer Peters, ein Schüler von Metz, hat sich einmal (bei einem Katholikentag in Karlsruhe) kritisch mit der "postmodernistischen Beliebigkeit" der neuen Religiosität auseinandergesetzt und gesagt: Zwar werde die Religion als Trostquelle allenthalben neu entdeckt, aber so, dass ihr nun auch der letzte Stachel gezogen werde, den ihr Marx noch gelassen habe, nämlich "Protestation gegen das wirkliche Elend" (also gegen das Leiden des Schwachen unter den Starken, gegen das Leiden der Armen unter der Kälte der Reichen) zu sein. Peters weiter: "Die vielen Götter sprechen nicht und trösten nicht, sie unterhalten nur noch." Und er hielt ein energisches Plädoyer für die jüdisch-christliche Überlieferung. Das Gefühl, auch "in Sachen Gott" endlich frei wählen zu können, führe letztlich dazu, sich in einer unerträglichen Leichtigkeit des Seins in lauter fiktiven, simulierten, beliebig löschbaren Bildschirm-Welten hoffnungslos zu verlieren. "Verloren wären dann wohl zunächst und vor allem jene, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben", resümierte Peters. (Nachzulesen in "Orientierung" 56/92, S. 154)
Auf diese Weise bleibt auch der Moderne jene tiefe Belehrung weiter vorenthalten, von der Carl-Friedrich von Weizsäcker sprach.
Wie sehr und auf welche Weise sie jedoch ihrer bedürfte, will ich mit einer "Diagnose zur Zeit" von Johann Baptist Metz belegen. Ich zitiere ihn mit einem Ausschnitt aus einem Vortrag, den er bei seiner Verabschiedung in Münster hielt: "Nietzsche prophezeite - als Folge des von ihm angezeigten Todes Gottes - den Einsturz 'unserer ganzen europäischen Moral'. Und hat er nicht Recht behalten? Leben wir nicht in einem Stadium der Erschöpfung Europas? Ist unsere intellektuelle Kultur nicht längst von der moralischen zur ästhetischen Betrachtung der Welt übergegangen? Warum wirken unsere ethischen Diskurse so nervös und so gereizt? Das moralische Klima in Europa schwankt zwischen dem erklärten Willen zur moralischen Suspension überhaupt und der Kleinen Moral postmoderner Spielart. Diese Kleine Moral, das ist die Moral mit den verkleinerten und beweglichen Maßstäben: mit dem Verzicht auf allzu langfristige, gar lebenslange Loyalitäten, mit dem Selbstverwirklichungsvorbehalt bei jedem Risiko, mit dem Insistieren auf Umtauschrecht bei jeglichem Engagement, aber eben auch ganz allgemein die Moral der Individualisierung aller Konflikte, mit der Vergleichgültigung gegenüber dem großen Konsens, mit der Verdächtigung aller universalistischen Begriffe... Diese Kleine Moral ist die Moral der befriedigten Mehrheit, die sich kaum um die unbefriedigten Minderheiten, um die Leiden der anderen kümmert. Kann diese Kleine Moral den gegenwärtigen Herausforderungen Europas Rechnung tragen? Ich zweifle energisch..." (zitiert nach dem Buch "Diagnosen zur Zeit" mit Beiträgen von J.B. Metz und anderen)
Ich denke, es fällt nicht schwer, sich dieser Diagnose von Metz anzuschließen, die die Frage nach der Religion über die bloße Innerlichkeit hinausträgt (und die die Mystik halbiert um ihren Impuls zum engagierten Tun). Mit seiner Diagnose verbindet Metz übrigens eine Kritik des Christentums, die zu erörtern sich lohnte; aber meine Behandlung des Themas soll ja keine theologische sein und so kann ich mich auf Metz' Stichwort von der "Gotteskrise" und die These vom Kompetenzverlust des Christentums durch seine "Theologiewerdung" mit der Folge des Verlust seiner Leidempfindlichkeit nicht weiter beschäftigen. Mit der Alternative zur Kleinen Moral meint Metz jedenfalls die Große Moral "einer universalistischen Menschenrechtsethik, in die die Befehle vom Berg Sinai, die biblischen 10 Gebote ebenso eingegangen sind wie die Imperative der politischen Aufklärung".
Ich habe gesagt, dass Christentum und Kirche ihre Stunde in der Zeit der Auflösung des alten Weltbildes und der Befreiung aus menschenunwürdiger Bevormundung nicht genutzt haben - und dass sie sie auch heute, in der Zeit der beschädigten, unvollendeten Moderne noch nicht erkennen. Immer noch reagiert das kirchlich verfasste Christentum auf die Ratlosigkeit der Menschen repressiv und damit kontraproduktiv. Es hat sich aus den selbstangelegten Fesseln im Zeitalter der Aufklärung, als es sich in Abwehr des Geistes der Zeit abschottete und einmauerte und mit dem "Antimodernismus" auch vorübergehend scheinbar erfolgreich war, noch immer nicht befreit. Im Gegenteil: Der Befreiungsversuch, der Versuch, mit dem "Aggiornamento", der "Verheutigung" des Zweiten Vatikanischen Konzils, die lebendige "Welt" endlich in das "Haus voll Glorie" (um das der "Sturm in wilder Wut" tobt) hereinzulassen, wird seit Jahren systematisch behindert. Theologinnen und Theologen, die diese Abschottung überwinden wollen, werden verfolgt und zum Schweigen gebracht. Ich werde ihnen die Aufzählung all der einschlägigen Maßnahmen aus Rom, aus Köln; Regensburg, Augsburg (unser 3 M-Bischöfe!) und anderswoher und die Nennung der Namen der bestraften Theologen ersparen. Sie kennen sie alle.
Noch ein kurzer Blick auf die Entwicklung zur heutigen gesellschaftlichen Gestalt von Kirche: er mag aufschlussreich sein. Wenn wir von dieser Gestalt reden, gehen wir (viele jedenfalls) davon aus, sie sei immer schon so gewesen und müsse ewig so bleiben. Viele der amtlichen Schreiben und Erklärungen aus Rom und aus den Bischofs-Kanzleien wollen uns das als unveränderliche Wahrheit weismachen. Aber dem ist nicht so, wie der Blick in das 19. Jahrhunderte zeigt, als sich die "Verkirchlichung des Christentums", wie der Religionssoziologe Franz-Xaver Kaufmann sagt, erst in Reaktion auf die gesellschaftlichen Differenzierungsprozesse und den Verlust der kulturellen Hegemonie der Kirche entwickelte. Erst in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entstand allmählich aus einem letztlich feudalen, weitgehend dezentralen System eine mehr und mehr sich zentralisierende, auf die Spitze des Papstes zulaufende hierarchische Ordnung, wie dies der absolutistischen Staatsidee des 17. und 18. Jahrhunderts entsprach.
Damit wurde die Kirche, so Kaufmann, stärker als ihr bewusst war, zu einem staatsähnlichen Gebilde, das sie im Grunde heute noch ist. Es bildete sich eine konfessionalisierte Subkultur unter Abgrenzung vom Rest der Kultur und es entstand das sogenannte katholische Milieu, das sich bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt - und das die Weitergabe des Glaubens begünstigte (wie umgekehrt seine Auflösung in der Zeit zunehmender Individualisierung des "Verdunsten" des Glaubens beförderte). Nicht nur reagierte die amtliche Kirche auf die Zeit mit einem Autoritarismus der Angst, mit fundamentalem Misstrauen und mit unbarmherziger Freiheitsfeindlichkeit und einem geschlossenen Deutungssystem, das alle Lebensbereiche unter Kontrolle hielt und die produktiven Ideen der Aufklärung aussperrte - und sie verkannte dabei verhängnisvoll, dass die Aufklärung auch zur Befreiung des Glaubens zu sich selbst hätte werden können - im Geist des Evangeliums, das ja "den edelsten Individualismus, die Freiheit der Kinder Gottes" predige, wie einmal gesagt wurde und wie heute "kritische Christen", etwa die in "Wir sind (auch) Kirche" engagierten, sagen.
Überdies trat mit diesem Wandel zu Zentralismus und Staatsförmigkeit, der die neuen Strukturen und ihr Personal sakralisierte, eine Bürokratisierung der Lebensverhältnisse in der Kirche ein, die zu einem wichtigen Grund für die Enttäuschung vieler an der Kirche wurde: zum Leiden an ihr oder zum Abschied von ihr, weil in der Kälte der Strukturen gerade das nicht zum Zuge kommen kann, wonach sich die Menschen sehnen und was sie brauchen, nämlich Stärkung in ihrem Subjektsein und Begleitung ihrer Suche nach sich selbst in der Wüste des menschenfeindlichen Kapitalismus.
Franz-Xaver Kaufmann charakterisierte die Situation so: "Die Kirche erscheint immer mehr als ein Verband wie irgendein anderer Verband. Die Momente, durch die wir die gegenwärtige religiöse Sensibilität kennzeichnen können, z.B. freiwilliges Engagement, Dialog, Spiritualität, Gemeinschaft, Weg, Machtverzicht, Geduld, Vertrauen - passen nur schlecht zu dem Erscheinungsbild von Kirche."
Eingedenk der Ermittlungen von Heiner Barz fast schon zu zurückhaltend, fügt er hinzu: "Es scheint immer schwieriger zu werden, vorhandene religiöse Sensibilitäten auf die Sozialgestalt der sichtbaren Kirche zu projizieren." (So Kaufmann bei einer Tagung der Katholischen Akademie in Freiburg, zitiert nach H.J. Pottmeyer, Hrsg.: Kirche im Kontext der modernen Gesellschaft.) Darin liegt ja - wie schon eingangs angedeutet - in der Tat einer der zentralen Problempunkte unseres Themas.
Indes machen die für diese Strukturen und diese Verhältnisse verantwortlichen Führer der Kirche keinerlei Anstalten, die Strukturen und Verhältnisse aufzubrechen, auch um den Preis nicht, dass die Aufrechterhaltung dieses Systems nicht nur viel Kraft und Vitalität in den Gemeinden und bei den mündigen Christen kostet. Die Wahrnehmungsverweigerung führt letztlich auch auf den Weg in die Sekte, wie der "Freckenhorster Kreis" (von Priestern und engagierten Laien im Bistum Münster) einmal in einer Erklärung "Kirche in der Amtskrise - Zukunftswege für die Gemeinden" konstatierte.
Aber ist es wirklich Wahrnehmungsverweigerung oder steht dahinter ein fragwürdiges Kalkül? Eugen Biser, der Religionsphilosoph, ein der unverhältnismäßigen Kritik unverdächtiger Zeuge, hat in seinem Buch "Glaubensprognose" die Beobachtung festgehalten, dass "zunehmend Stimmen laut werden, die sich die Lösung aller Probleme von einer klaren Rollenverteilung im Sinne einer befehlenden Klerikerkirche und einer gehorchenden Laienschaft versprechen." Diesem Konzept, so Biser, lägen indes "fundamentale Verwechslungen" zugrunde. "Verwechselt wird, um nur die wichtigsten Alternativen anzusprechen: Ordnung mit Herrschaft; Leitung mit Disziplinierung; Unterwerfung mit Indoktrinierung." Diese Dreiheit könnte, so Biser weiter, auf ein einziges Begriffspaar zurückgeführt werden, "mit dem die ganze Fatalität der Verwechslungen zum Vorschein käme, nämlich auf Glaube mit Ideologie. Tatsächlich scheint den Vertretern dieser strengen Observanz ein Kirchenmodell vorzuschweben, das eine geschlossene, nach außen hin abgeschottete und in ihrem Inneren durch strenge Über- und Unterordnung charakterisierte Gesellschaft zum Inhalt zu haben. Das aber ist eindeutig das Modell eines totalitären Herrschaftssystems."
Eine schärfere Charakterisierung gegenwärtiger Tendenzen in der Kirche ist kaum vorstellbar. Indes: Die Errungenschaft der neuzeitlichen Freiheit erweist sich daran auf zweifache Weise: zunächst, dass Biser nicht, wie es früher geschehen wäre, in den Kerkern der Inquisition enden kann; sodann, dass sich viele - was man bedauern kann - aus der real existierenden Kirche verabschieden (was früher auch bestraft wurde: Es war einmal eine Zeit, als der Grundsatz "cuius region, eius religio" galt und noch lange danach, da war die Konfession Staatsreligion und die Religionsausübung nach Maßgabe der geltenden Konfession war Untertanenpflicht, über die die jeweiligen Obrigkeiten streng wachten. Wer sich dieser Pflicht zu entziehen wagte, die Sonntagsgottesdienste oder den Empfang der Ostersakramente versäumte, setzte sich dem Zugriff des "bracchium saeculare", der weltlichen Gewalt, aus und wurde bei hartnäckiger Weigerung mit Zuchthaus bis zum Eintritt der Besserung bestraft. Das berichtet der Kirchenhistoriker Manfred Weitlauf. Diese Zeiten sind ein für allemal vorbei.)
Aber wer weiß, vielleicht ist auch der Exodus aus den Kirchen ein Heilszeichen Gottes und ein Zeichen der Hoffnung. Mit welcher Bemerkung ich Ihnen in fröhlicher Hoffnung Resignation und Verzweiflung ersparen will. Auf die Titelfrage einer ökumenischen Akademietagung in Tutzing "Sind die Kirchen am Ende?" antwortete der Frankfurter Fundamentaltheologe Siegfried Wiedenhofer eindeutig: "Die Kirchen sind tatsächlich am Ende, allerdings nur, was ihre epochale neuzeitliche Gestalt betrifft." Die Kirchen seien in ein auswegloses Dilemma geraten, weil die erforderliche gegenseitige kritische Auslegung von Tradition und Situation, die Auslegung der Gegenwart im Lichte der überlieferten Gotteserfahrung und der Glaubensüberlieferung, im Lichte der Gegenwartserfahrungen nicht mehr entschieden weitergeführt wurde.
Damit komme ich zu meinem Schlusskapitel:
V. Eine Annäherung an die Frage , was nottut.
Das wichtigste ist Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen.
Die Kirche muss sich bei dem Versuch der Weitergabe des Glaubens der neuen Zeit stellen. Das bedeutet, dass sie sich auf allen Ebenen - und auf der obersten Leitungsebene vor allem - von jenem Denken, das zu Ideologie erstarrte, endlich befreien und an die Freiheitsgeschichte der Neuzeit Anschluss finden muss, in ihren Strukturen und in der Verkündigung. Das ist viel verlangt. Aber anders wird es nicht gehen.
Anschluss finden an die Freiheitsgeschichte: das heißt Anerkennung des Menschen als Subjekt in seiner Gefährdung und in seinem Suchen, als Individuum; das heißt, Menschen wahrzunehmen als einzelnen mit einem eigenen, unvertretbaren Gewissen; das heißt Verzicht auf das Gebaren der Macht, auf Bevormundung und Repression, die keinem helfen. Das heißt aber auch, die Menschen Gemeinschaft erfahren zu lassen in der Kirche als "communio" (in unterschiedlichen kleinen Gemeinde-Einheiten, weil zentralistisch-hierarchische Strukturen lebensfeindlich sind),- ihn erfahren zu lassen, dass er mehr ist als eine Funktion und ein Produkt der Verhältnisse. Religion ist ein besonderes Anerkennungsverhältnis, nämlich der Hinweis darauf, dass ich "im Vorhandenen nicht aufgehe", wie es der evangelische Theologe Trutz Rendtorff formulierte, dass das tagtägliche Funktionieren nicht alles ist. Oder wie der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner sagte: "Zuerst gehört man an, dann glaubt man." (P. M. Zulehner in seinem Aufsatz "Macht die Moderne glaubens-unfähig?" in dem Buch "Streitbare Hoffnungen zwischen Resignation und Kirchenträumen", herausgegeben von Karl Kirchhofer). Das heißt, wir brauchen Orte: Orte anschaulich gelebter Hoffnung, also Gruppen, (Basis)Gemeinden, so Zulehner. Sogenannte Glaubenssätze, "doktrinale Konzepte", alte Dogmen können nicht weiterhelfen. Solche Glaubwürdigkeit: Was wäre das anderes als das Ernstnehmen der Botschaft der Menschenliebe des Jesu, des Herrn der Kirche?
Noch einmal Franz-Xaver Kaufmann. Er empfiehlt: "Zurück zu den Inhalten", weil der institutionelle Weg nicht weiterführt. "Institutionen sind zwar wichtig, sie haben ein Beharrungsvermögen, das über die Zeit weghilft, aber sie bringen nichts voran." Kaufmann weiter: "Die Glaubwürdigkeit eines zukünftigen Christentums wird davon abhängen, ob es gelingt, neue Sozialformen explizit christlichen Lebens zu entwickeln", also gelingende, stabile Beziehungen und Identifikationen. Und - ganz wichtig - wäre es eine dem heutigen Denken und Wahrnehmen vermittelbare Sprache zu finden, die die jesuanische Botschaft, überliefert in der Sprache vor 2000 Jahren, den Menschen heute plausibel machen kann. Das aber heißt auch, Abschied zu nehmen von mancher alten Lehre, die heute als Aberglaube erscheint.
(Siehe dazu das Buch des emeritierten evangelischen Theologen Klaus-Peter Jörns: Notwendige Abschiede, Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum)