Weckruf - Wegruf
Mit dem Propheten Amos auf dem Weg
Begleitheft zum Amos-Prozess
Sonntag, 21. Juni (Amos 4,1-5)
Maßlosigkeit
Manfred Rieger liest den Lesungstext
Dies war der Lesungstext für den Gottesdienst am 23. Juni.
Wieso? Weshalb? Warum? ...
Mit den Baschankühen sind die reichen Frauen Israels gemeint. Baschankühe galten damals als sehr stattlich und wohlgenährt. Baschan war berühmt für seine Weiden und Herden. In Psalm 22,13 werden die Stiere von Baschan als Symbol gewaltiger Kraft dargestellt. Amos sprach die Frauen damals also gewissermaßen mit "ihr Mastvieh" an. Inbegriff dieser Frauen könnte Königin Isebel gewesen sein, die ein Jahrhundert zuvor ihren Mann Ahab zur Beugung der Menschenrechte und zum Götzendienst angestachelt hat. Zahlreiche Jahwe-Propheten - so nennt man die Propheten im Dienst des Gottes der Bibel im Unterschied zu den Baals- oder Hofpropheten - wurden unter ihr getötet.
Frauen wie sie befehlen, um ein Luxusleben führen zu können, ihren Männern sogar die Ausbeutung armer und abhängiger Menschen.
An dieser Stelle erinnern Alttestamentler wie Alfons Deissler daran, dass "Mütterlichkeit" und "Erbarmen" im Hebräischen dasselbe Wort sind. Für den Hebräer schwingt dabei mit, dass Erbarmen ein mütterlicher Wesenszug ist. Deissler vermutet, dass gerade Frauen in der Sicht des Amos zum Erbarmen berufen sind und eine besondere Verantwortung dafür haben, dass Güte und Erbarmen unter den Menschen nicht ganz verloren gehen. Die Verantwortung der hier genannten Frauen ist aber ins "Viehische" pervertiert: anstelle von Barmherzigkeit erlebt Amos Ausbeutung. Deshalb wird Jahwe sie auch wie Vieh aus der Stadt hinaustreiben. Wer Arme unbarmherzig ausbeutet, kann nämlich nicht auf Gottes väterlich-mütterliche Zuwendung vertrauen. (Jakobus 2,13: Das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat.)
In Israel gab es vermutlich damals so etwas wie Anleitungen zur Durchführung einer Wallfahrt und von Opferhandlungen. So eine Anleitung, die den Menschen damals bekannt war, könnte der Hintergrund für Vers 4 sein. Sie hätte vielleicht folgendermaßen gelautet: "Kommt nach Bet-El und seid Gott wohlgefällig! Kommt nach Gilgal und seid auch dort Gott wohlgefällig. Bringt jeden Morgen eure Schlachtopfer herbei, bringt am dritten Tag euren Zehnten. Verbrennt als Dankopfer gesäuertes Brot! Ruft zu freiwilligen Opfern auf. Verkündet es laut, damit man es hört. Denn so gefällt es Jahwe, ihr Söhne Israels - Spruch Gottes, Jahwes." Vielleicht haben manche der Zuhörer den zynischen Wortlaut zunächst überhört. Denn erst das beißende Wort "Sündigt" macht klar, dass Amos den Text verändert und voller Sarkasmus etwas ganz anderes meint. Ein Priester hätte vielleicht damit geendet "denn so gefällt es Jahwe". Amos hingegen sagt: "Ruft es laut aus, denn so gefällt es EUCH, ihr Israelsöhne." Damit prangert er die Selbstgefälligkeit der Menschen an. Der Wallfahrtsbetrieb ist nicht Gott wohlgefällig, sondern entspringt laut Amos der Vergnügungssucht und steigert das persönliche Ansehen. Heute würde er vielleicht sagen: "Das ist euer Hobby. Nichts anderes. So liebt IHR es."
Das Aufsuchen der Kultorte in Bet-El und Gilgal und ein üppiger Opferdienst wurde von vielen als Kern der Gottesverehrung angesehen, dem man mit Freuden zugetan war, zumal die Schlachtopfer immer auch mit einem gemeinsamen Essen verbunden waren. Dieser Fehleinschätzung stellt Amos gegenüber, dass in den Heiligtümern Verbrechen geschehen und im Gottesdienst Selbstsucht praktiziert wird. Was Gottesdienst als Menschendienst im Alltag bedeutet, vergaß man völlig. Genau daran entscheidet sich aber nach Amos die Echtheit des Glaubens. Das ist die Sünde, die er hier thematisiert. Mit religiösen Leistungen lässt sich keine Verachtung eines bedürftigen Menschen kompensieren.
Vor- und nachgedacht...
Foto: Anni Valentin"
In der Verlautbarung des Treffens der lateinamerikanischen Bischofskonferenz in Aparecida 2007 heißt es: "Die großen Unterschiede zwischen Reichen und Armen fordern uns auf, mit größerem Einsatz Jünger zu werden, die als Tischgemeinschaft das Leben miteinander zu teilen verstehen, die Tischgemeinschaft aller Söhne und Töchter des Vaters, eine offene Tischgemeinschaft, aus der niemand ausgeschlossen sein und bei der niemand fehlen darf.
Der Ruf, Jünger und Missionare zu werden, verlangt von uns, dass wir uns eindeutig für Jesus und sein Evangelium entscheiden, dass Glauben und Leben miteinander übereinstimmen (...) und dass wir zum Zeichen des Widerspruchs und der Veränderungen werden in einer Welt, die den Konsum verherrlicht und die Werte entstellt, die dem Menschen Würde verleihen" (Botschaft der 5. Generalversammlung an die Völker Lateinamerikas und der Karibik, Abschnitt 4 4. Missionierende Jüngerschaft im Dienste des Lebens)
Auch wir würden unserem Gott lieber Opfer darbringen, als Tischgemeinschaft mit allen Menschen - auch den Ausgestoßenen - zu halten! Auf der anderen Seite stoßen unsere Kirchen auch viele vom Tisch des Herrn weg, versagen ihnen die Tischgemeinschaft Jesu, der alle einlädt (wiederverheiratet Geschiedene, Evangelische...). Welche Art von Kult feiern wir da? Wir grenzen Arme, Benachteiligte, Gescheiterte und sogar andere Christen aus. Vermutlich würde Amos heute seine Sätze: "die ihr die Schwachen unterdrückt / und die Armen zermalmt" und "Ruft zu freiwilligen Opfern auf, / verkündet es laut, damit man es hört!" auch gegen diese Form von Ungerechtigkeit verwenden!
Marieluise Gallinat-Schneider