Kar- und Ostertage 2020
ein wahrhaft besonderes Osterfest
Zweierlei Maß
Samstag, 9. Mai 2020
Berliner Charité definiert Bedingungen für Fußballspiele! - Diese Überschrift habe ich gestern vermisst.
Am Freitag fand sich in den Badischen Neuesten Nachrichten ein Artikel über Konzerte und Opernbetrieb. ⋅1⋅ Die Wissenschaftler der Charité haben die Eigenheiten der verschiedenen Instrumente analysiert und errechnet, wie groß die Abstände zwischen den einzelnen Musikern sein müssen, damit ein infektionsfreier Orchesterbetrieb möglich ist. 1,5 Meter sollen die Stühle voneinander entfernt stehen. Für Bläser werden sogar 2 Meter empfohlen. Zusätzlich braucht es hier noch einen Plexiglasschutz. Diese Untersuchung habe Modellcharakter auch über Berlin hinaus. Sie biete eine wichtige Grundlage für den Proben- und Konzertbetrieb der Orchester.
Ekhof-Theater, Gotha.
Foto: Jörg Sieger
Ich habe in meinem Leben schon manche Theater von innen gesehen und ich kenne die Dimensionen von einer ganzen Reihe von Orchestergräben. Solche Abstände lassen sich dort niemals einhalten. Es sei denn, man streicht das Repertoire einfach zusammen. Wir verabschieden uns von Wagner, Strauss, Verdi und Puccini und begnügen uns mit Barockopern und ihren verhältnismäßig kleineren Orchestern. Es muss ja nicht Mahler sein, auch ein Kammerkonzert hat ja seinen Reiz.
Die wenigsten Menschen in Deutschland würden sich darüber aufregen. Klassische Musik und der damit verbundene Kulturbetrieb ist nichts für die Massen. Und so wie der Kulturetat auch bei den Haushaltsdebatten von Ländern und Städten im Zweifelsfall der ist, der zusammengestrichen wird, so hält sich der Protest über das gestrichene Kulturangebot momentan durchaus in Grenzen.
Tragisch für die Künstler, deren Kunst nicht nur Berufung sondern Beruf geworden ist und die von Musik und Theater leben müssen. Aber sie sind ja nicht systemrelevant.
In den letzten Jahren habe ich viel über Kultur gehört: unsere deutsche, unsere europäische Kultur. Ich habe viel darüber gehört, wie identitätsstiftend und wichtig dieselbe sei und wie gefährlich es wäre, wenn uns diese Kultur abhandenkäme.
Einen wesentlichen Teil unserer Kultur sind wir im Augenblick dabei im wahrsten Sinne des Wortes sang und klanglos aufzugeben und zu opfern.
Berliner Charité definiert Bedingungen für Orchesterbetrieb in der Corona-Krise, titelten gestern die Badischen Neuesten Nachrichten. Unabhängig davon, dass die Charité bei all ihrer Kompetenz wohl kaum in der Lage sein dürfte, die Bedingungen für unseren Kulturbetrieb zu definieren, stellt sich mir schon die Frage, warum bei uns mit solch ungleichem Maß gemessen wird.
Man kann auch Fußball spielen, ohne sich zu berühren. Der Ball rollt, auch wenn die Spieler darauf achten, 1,5 Meter Abstand voneinander zu wahren. Wenn sie sich körperlich anstrengen und demnach schwer atmen und so die Gefahr besteht, dass sie mehr Viren ausstoßen, dann können sie ja auch 2 oder 3 Meter Abstand halten; tut dem Ballspiel ja keinen Abbruch.
Zugegeben, es wären sehr langweilige Spiele. Und ich kann nachvollziehen, dass die kaum jemand sehen wollte. Beim Fußball ist den Verantwortlichen klar: Da funktioniert das mit dem Einhalten des Abstandes nicht wirklich. Da muss man einfach testen, testen, testen. Sportler, die nicht erkrankt sind, verbreiten schließlich keine Viren.
Auch Musiker, die gesund sind, stellen keine Infektionsgefahr dar. Und bevor wir zulassen, dass die Kulturnation Deutschland immer mehr an Bedeutung verliert und ein wesentlicher Bestandteil des kulturellen Lebens verkümmert und auf Dauer erstirbt, sollten wir aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Man kann auch Künstler testen. Für unser Land sind sie mit Sicherheit nicht weniger systemrelevant als jeder Fußballer auch.
Jörg Sieger
Kennt vor Gericht kein Ansehen der Person! Klein wie Groß hört an! Fürchtet euch nicht vor angesehenen Leuten; denn das Gericht hat mit Gott zu tun. Und ist euch eine Sache zu schwierig, legt sie mir vor; dann werde ich sie anhören.
Deuteronomium / 5. Buch Mose, 1,17
Anmerkung