Kar- und Ostertage 2020
ein wahrhaft besonderes Osterfest
Entgrenzte Zeit
Donnerstag, 16. April 2020
"Mir wird es nie langweilig. Ich habe so viel, was ich noch gerne anpacken würde."
Solch ein Satz wäre mir immer recht leicht über die Lippen gegangen. Deshalb ist ja auch die Vorstellung vom Ruhestand so verlockend. Ich kenne einen Kollegen, der sich schon als Student eine günstige 12-bändige Goetheausgabe gekauft hat - mit der Bergründung, es komme ja auch mal der Ruhestand und da könne man so etwas ja gut lesen.
Verrückt? Vielleicht. Aber eigentlich doch auch wieder normal. Wie viele Menschen sehnen sich denn genau deshalb nach dem Ruhestand: endlich mal die Zeit zu haben, in der man all das tun könne, wozu man jetzt einfach nicht komme.
"Wenn keine Stunde schlägt..."
Foto: Jörg Sieger
Ich gehöre sicher auch dazu. Wenn der Schreibtisch oder der Kalender voll ist, steigt sie auf, die Sehnsucht nach der Zeit, in der es mal keine Abendtermine gibt oder man morgens wirklich ausschlafen kann. Und ich weiß doch auch aus dem Urlaub, wie erholsam und großartig solche Zeiten sind - und wie ich mich danach sehne.
Es ist die schrecklichste Erfahrung dieser Tage, wie furchtbar es sein kann, Zeit zu haben.
Ja, ich kann sehr vieles aufarbeiten. Ich komme zu Dingen, die seit Monaten und Jahren liegengeblieben sind. Ich kann Projekte beginnen, von denen ich mir nie geträumt hätte, sie wirklich einmal angehen zu können.
Bis gestern ging das auch ganz gut. Aber gestern wurde mir auch im Bauch klar, was mein Verstand mir schon seit Tagen sagt: Diese Zeit dauert an. Wenigstens bis zum 3. Mai. Und was darüber hinaus ist, kann man jetzt absolut noch nicht sagen.
Und ich merke, was sich in den vergangenen Tagen schon abgezeichnet hat: Ich habe Ideen, aber ich gehe sie nicht an. Ich habe Zeit, aber ich fülle sie einfach nicht.
Ist das das Gefühl, wenn Menschen urplötzlich in den Ruhestand geschickt werden? Wenn der ganze Druck wegbricht, wenn all die hohen Dämme, die meine Zeit eingeengt haben, urplötzlich weggerissen werden, wohin flutet dann alles?
Der Urlaub ist großartig und ein Sehnsuchtsort. Aber vermutlich ist er das nur, weil er so schnell zu Ende geht. Zeit ist deshalb wertvoll, weil sie endlich ist.
Schon ganz am Anfang der Bibel geht es um dieses Phänomen der Zeit. Die wenigsten Menschen realisieren, dass es in dem dort ausgemalten Paradiesesgarten nicht nur einen, sondern zwei entscheidende Bäume gibt. Meist spricht man nur vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Von ihm zu essen, ist für den Menschen nicht gut. Es wird eindringlich davor gewarnt. Letztlich steht dieser Baum für die Fähigkeit mit allem machen zu können, was man will. Die Bibel umschreibt das mit dem Verlangen, wie Gott zu sein. Aber das hat in der Geschichte schon immer zu Katastrophen geführt. Wenn sich der Mensch auf Gottes Thron setzen wollte, wenn er sich selbst zum Herrn über Leben und Tod, zum Herrscher über die Welt, erhoben hat, führte das schon immer zumindest an den Rand des Abgrundes. Dieser Gefahr erliegt der Mensch immer wieder.
Nur deshalb vertreibt Gott den Menschen aus dem Paradiesesgarten. Denn in der Mitte des Gartens steht ein zweiter Baum: der Baum des Lebens. Dieser Baum steht für die Entgrenzung der Zeit. Von ihm zu essen, würde bedeuten, ewig zu leben. Der Mensch, der aber immer wieder der Gefahr unterliegt, mit Gut und Böse, also mit allem, umgehen zu wollen, wie es ihm beliebt, führt nun ein Leben voller Leid und Unglück. Wenn Gott den Menschen vom Baum des Lebens fernhält, dann ist das keine Strafe. Die Bibel umschreibt hier göttliche Sorge. Gott sorgt dafür, dass das nun elendiglich gewordene Leben des Menschen, nicht auch noch ewig währt. Die Begrenzung der Zeit ist letztlich Inbegriff der Fürsorge Gottes für seinen Menschen.
Es wird vielleicht etwas dauern, bis ich verinnerlicht habe, dass auch die Zeit, in der ich mich jetzt befinde, sehr begrenzte Zeit ist. Sie ist es nicht, weil die Corona-Krise irgendwann einmal vorüber gehen wird. Sie ist es von sich aus. Denn unsere Zeit ist immer begrenzte Zeit. Und jede Stunde hat von daher ihren ganz großen Wert. Meine Zeit verrinnt nicht weniger schnell, als sonst auch. Darum jetzt nicht nur zu wissen, sondern es wirklich zu leben, ist vielleicht die große Aufgabe für gerade diese Tage. Es gilt jetzt - vielleicht noch mehr als sonst - jede Stunde als das zu nehmen, was sie letztlich ist: ein in der Sorge Gottes mir zugedachter Raum in der Zeit - und damit ein Geschenk. Diesen Raum gilt es zu füllen.
Jörg Sieger
Dann sprach Gott, der HERR: Siehe, der Mensch ist wie einer von uns geworden, dass er Gut und Böse erkennt. Aber jetzt soll er nicht seine Hand ausstrecken, um auch noch vom Baum des Lebens zu nehmen, davon zu essen und ewig zu leben. Da schickte Gott, der HERR, ihn aus dem Garten Eden weg, damit er den Erdboden bearbeite, von dem er genommen war. Er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Kerubim wohnen und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten.
Genesis (1. Buch Mose) 3,21-23