Sankt-Florians-Prinzip

Dienstag, 21. April 2020

Da habe ich bisher noch gar nicht darüber nachgedacht: Was machen eigentlich Menschen, die darauf angewiesen sind, von den Lippen anderer abzulesen, wenn jetzt plötzlich alle mit Mundschutz herumlaufen?

Florianstor, Krakau

Foto: Jörg Sieger

Ist das einfach der Preis, den wir für mehr Sicherheit bezahlen müssen? Dabei müssen letztendlich diesen Preis gar nicht "wir" bezahlen. Es trifft ja nur diejenigen, die darauf angewiesen sind, die Lippen anderer erkennen zu können. Da für die große Mehrheit der Menschen bei uns diese Notwendigkeit aber nicht besteht, denkt man kaum darüber nach. Ist halt eine der Nebenwirkungen, die im Augenblick in Kauf genommen werden müssen. Die Gesundheit ist jetzt eben wichtiger.

Deshalb gibt es an der Eistheke jetzt auch keine Waffel mehr. Das ist offenbar eine Frage der Hygiene. Eis darf zwar wieder verkauft werden, aber nur im Becher. Wir hatten uns zwar einmal darauf verständigt, dass Verpackungsmüll dringend reduziert werden muss, damit unsere Umwelt auf Dauer nicht irreparabel geschädigt wird, aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Die Gesundheit hat jetzt einfach Vorrang.

Unsere Gesundheit! Und wenn wir darüber in Kauf nehmen, dass Minderheiten dadurch jetzt das Nachsehen haben, dann geht das im Augenblick eben nicht anders. Und wenn wir mit unseren Maßnahmen die Gesundheit zukünftiger Generationen aufs Spiel setzen, dann muss man das jetzt wohl einfach verstehen. Jetzt geht es ja um unsere Gesundheit.

"Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker",

heißt es so schön. Jede Problemlösung birgt ihre Risiken in sich. Und jede Maßnahme hat ihre Nebenwirkungen. Wenn Nebenwirkungen erst die Zukunft betreffen, nehmen wir sie häufig ohne großes Zögern in Kauf. Und wir tun das umso eher, je größer die Chance ist, dass uns diese Nebenwirkungen gar nicht mehr betreffen, dass die Konsequenzen unseres Handelns erst von zukünftigen Generationen ausgebadet werden müssen.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere Gesellschaft vor allem nach zwei Grundsätzen arbeitet:

"Nach mir die Sintflut",

und

"Heiliger Sankt Florian,
verschon mein Haus,
zünd andre an..."

Jörg Sieger