Kar- und Ostertage 2020
ein wahrhaft besonderes Osterfest
Auferstehung fällt aus
Donnerstag, 2. April 2020
"ANNULÉ"
steht auf der Seite des Orchestre philharmonique de Strasbourg über dem Spielplan für den 2. April. Die für heute geplante Aufführung der Auferstehungssymphonie von Gustav Mahler fällt aus.
Mich trifft diese Absage, denn ich habe Karten für diese Vorstellung. Und ich habe mich schon lange auf diesen Abend gefreut. Es ist eines der vielen Dinge, die in diesen Tagen nicht möglich sind. Genauso wie Feiern im Kreis von Freunden oder der Familie, ein gutes Essen in einem Restaurant oder der Besuch einer Ausstellung in einem Museum.
"Der hat Probleme!", wird der eine oder die andere sagen. Weltweit sterben Tausende von Menschen und der lamentiert über ein ausgefallenes Konzert.
Mahlers "Auferstehungssymphonie" in der Elbphilharmonie
Foto: Jörg Sieger
Natürlich ist dieser Einwand richtig. Natürlich geht es mir gut. Natürlich habe ich im Vergleich absolut keine Probleme und dementsprechend keinen Grund zum Klagen. Aber den habe ich eigentlich nie! Wenn gerade keine Pandemie die Welt in ihren Klauen gefangen hält, denke ich nicht an all die Menschen, die jeden Tag sterben müssen, weil sie hungern, in Kriegsgebieten getötet werden, auf der Flucht ums Leben kommen oder Krankheiten zum Opfer fallen. Ich blende im Normalfall all die Menschen aus, die ich nicht kenne, die aber nicht minder um einen geliebten Menschen trauern und eine Perspektive für das Morgen nicht mehr finden.
Die über 900 Toten, die das Virus in Deutschland bisher gefordert hat, sind viel. Und das ist schrecklich. Denke ich aber daran, wenn gerade keine Pandemie herrscht, dass jeden Tag über 2500 Menschen in Deutschland sterben? Im Jahr 2017 sind insgesamt hier bei uns tausend Mal mehr Menschen verstorben, als bis heute dieser Krankheit erlegen sind: über 930.000.
Gemessen an all dem Leid auf der Welt habe ich fast nie Grund zum Klagen. Und ich tue es doch. Und Sie vermutlich auch: Alles ist zu teuer, Vieles tut weh und Dinge, auf die ich mich gefreut habe, finden nicht statt. Und wenn mich so etwas zu normalen Zeiten trifft, dann lässt es mich auch in Krisenzeiten nicht einfach kalt. Es ist ärgerlich, wenn meine aufwändigen Planungen blitzschnell über den Haufen geworfen werden, und es tut weh, wenn man Menschen, die einem wichtig sind, über längere Zeit nicht sehen kann.
So etwas nicht zulassen zu wollen, sich beständig einzureden, dass die eigenen Bedürfnisse ja weit weniger wichtig sind als die von all denen, die es noch viel schwerer trifft, ist im Grunde genommen ja etwas sehr Gutes. Es kann auf Dauer aber auch krank machen. Wenn ich mich immer und beständig hintanstelle, dann kratzt das langsam auch am Selbstwertgefühl und es fördert am Ende Niedergeschlagenheit und Depression. Auch meine Enttäuschung und die eigene Trauer müssen ihren Raum bekommen. Ich muss sie zulassen, sie holen sich ihre Aufmerksamkeit ansonsten auf andere Weise. Alles hat nämlich seine Zeit.
Und deshalb möchte ich heute auch ein wenig traurig sein - traurig über die ausgefallene "Auferstehung" heute Abend. Sie wäre für mich wirklich hilfreich gewesen. Gerade Mahlers zweite Symphonie ist für mich von ihrer Anlage her nämlich ein großartiges Bild für die Zeit, die wir gerade erleben.
Sie beginnt im ersten Satz am Sarg eines geliebten Menschen. Sein Kämpfen und Leiden ziehen in Gedanken noch einmal musikalisch an uns vorüber. Und auch, dass dieser Mensch den Kampf am Ende verloren und der Tod den Sieg davongetragen hat, wird mehr als deutlich. Der zweite Satz gehört der Erinnerung. Die Jugend dieses Menschen wird hörbar, all die Hoffnungen und schönen Augenblicke. Bis dann im dritten Satz der Boden und der Halt gleichsam verloren geht. Zweifel und nicht mehr glauben Können führen zu Ekel vor allem Sein und dem Aufschrei der Verzweiflung. Dann klingt im vierten Satz die Erinnerung an den fast schon naiven Glauben der Kindheit auf. Aber was soll der noch? Wirklich tragen kann er nicht. Der fünfte Satz lässt all die furchtbaren Fragen wieder durchbrechen: Es ist doch alles zu Ende, es bleibt nur noch Schrecken und das Jüngste Gericht. Es ertönen schon die Trompeten der Apokalypse. Und dann grauenvolle Stille.
"... mitten in der grauenvollen Stille glauben wir eine ferne, ferne Nachtigall zu vernehmen, wie einen letzten zitternden Nachhall des Erdenlebens! Leise erklingt ein Chor der Heiligen und Himmlischen: "Auferstehn, ja auferstehn wirst du!" Da erscheint die Herrlichkeit Gottes! Ein wundervolles, mildes Licht durchdringt uns bis an das Herz - alles ist stille und selig! - Und siehe da: Es ist kein Gericht - Es ist kein Sünder, kein Gerechter, kein Großer und kein Kleiner - Es ist nicht Strafe und nicht Lohn! Ein allmächtiges Liebesgefühl durchleuchtet uns mit seligem Wissen und Sein!"
Heute Abend fällt die "Auferstehung" aus. Im Augenblick ist auch noch keine Zeit für die Erlösung. Noch ist Zeit zum Klagen und Trauern. Denn auch sie will ihren Raum. Die nächste Auferstehungssymphonie, von der ich weiß, wird am 13. Mai 2021 sein. Dann aber in Leipzig - so Gott will...
Jörg Sieger
Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Ausreißen der Pflanzen, eine Zeit zum Töten und eine Zeit zum Heilen, eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, eine Zeit für die Klage und eine Zeit für den Tanz; eine Zeit zum Steinewerfen und eine Zeit zum Steinesammeln, eine Zeit zum Umarmen und eine Zeit, die Umarmung zu lösen, eine Zeit zum Suchen und eine Zeit zum Verlieren, eine Zeit zum Behalten/ und eine Zeit zum Wegwerfen, eine Zeit zum Zerreißen/ und eine Zeit zum Zusammennähen, eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden, eine Zeit zum Lieben und eine Zeit zum Hassen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden.
(Kohelet / Prediger 3,1-8)