Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button 26.06.2016 - Predigt im Gottesdienst der "Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen" (ACK) in Göbrichen

Warum Flüchtlinge auch unbequem sind (Lk 2,41-46)

Die Eltern Jesu gingen jedes Jahr zum Paschafest nach Jerusalem. Als er zwölf Jahre alt geworden war, zogen sie wieder hinauf, wie es dem Festbrauch entsprach. Nachdem die Festtage zu Ende waren, machten sie sich auf den Heimweg. Der junge Jesus aber blieb in Jerusalem, ohne dass seine Eltern es merkten. Sie meinten, er sei irgendwo in der Pilgergruppe, und reisten eine Tagesstrecke weit; dann suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten ihn dort. Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen.

Evangelium nach Lukas 2,41-46

Ich weiß, der Text mit Maria und Josef und dem Zwölfjährigen im Tempel erinnert Viele eher an die Weihnachtszeit als an den Hochsommer. Bitte sehen Sie mir das nach.

Und bitte haben Sie auch Nachsicht mit mir, wenn ich jetzt keine wirkliche Auslegung dieses Textes biete. Es geht mir jetzt nicht um Maria und Josef, die ihr Kind suchen, nicht darum, dass sich der Kleine im Tempel aufhält und den Gelehrten zuhört. Eigentlich geht es mir nur darum, was dieser Jesus dort tut. Hier wird nämlich geschildert, dass der Kleine dasitzt und Fragen stellt.

Dieser Jesus stellt Fragen.

Und bei Lukas ist das das Allererste, was von Jesu Tun überhaupt berichtet wird: Jesus fragt. Und das bedeutet letztlich: Dieser Jesus hinterfragt.

Liebe Schwestern und Brüder,

Mögen Sie Fragezeichen?

Ich kann das jetzt nicht belegen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die wenigsten darauf mit "Ja" antworten werden. Fragezeichen haben eigentlich wenige Freunde. Normalerweise lieben Menschen Ausrufezeichen: hilfreiche und zukunftsweisende Antworten, die wirkliche Klärungen herbeiführen. Denn Fragen bringen immer Unsicherheit mit sich. Wenn etwas in Frage steht, dann weiß man nicht, wie man damit umgehen soll, wie es letztlich weitergeht - und vor allem, was man selbst genau tun soll.

Ich habe im letzten Jahr viele Fragezeichen erlebt.

Eines der ersten stand plötzlich im Raum, als ich im Frühjahr 2015 zum ersten Mal in der "Rintheimer Querallee" war. Kurz zuvor hatte ich meine Tätigkeit beim Diözesancaritasverband begonnen. Und jetzt stand ich erstmals in diesem riesigen Festzelt - in einem Festzelt! - mit 500 Doppelstock-Feldbetten, zweistöckigen Feldbetten; das waren 1000 Schlafplätze, Kinder die schrien, Männer die schnarchten, welche, die aufs Klo mussten und welche, die andauernd husteten. Und die einzige Privatsphäre, die es dort gab, das war die Plastiktüte unterm Bett - und das für mehrere Wochen, bei manchen für Monate.

"Ich bin im Januar auch umgezogen", sagte ich zu meiner Kollegin, "mir hat die Plastiktüte damals nicht ausgereicht..."

Das war das erste Mal in meiner neuen Tätigkeit, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Und ich gebe zu, es war nicht in erster Linie das Schicksal der einzelnen Menschen, das mich da nicht schlafen ließ. Es war zunächst einmal ein Fragezeichen. Diese bohrende Frage nach mir, meinem Umzug damals mit all den Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten, die ich damit hatte. Probleme, die aber plötzlich so klein aussahen - ungeheuer klein angesichts dessen, was Menschen da durchmachen mussten, was die auf sich genommen hatten, um ihr bloßes Leben zu retten oder ein wenig von dem wiederzufinden, was man Perspektive nennt.

Ich fühlte mich plötzlich, mich und meine ganze Art zu leben, so was von in Frage gestellt. Und das geht mir seit dieser Zeit damals immer häufiger so.

Achtzehn Jahre lang war ich Gemeindepfarrer in Bruchsal. Das waren Gemeinden, die - wie viele andere - vor Ort versucht haben, Nachfolge Christi zu leben.

Als ich letztes Jahr bei den Kolleginnen und Kollegen der Sozial- und Verfahrensberatung in der Landeserstaufnahmestelle war und die Mitarbeiterinnen von ihrer Arbeit, von den Schicksalen und all den Schwierigkeiten berichteten, als ich erleben konnte, wie Menschen ganz konkret umsetzen, was im Evangelium mit den Worten "Ich war fremd und obdachlos und ihr seid mir beigestanden" umschrieben wird, da habe ich mich unwillkürlich mit der Formulierung bedankt: "Heute habe ich einen Ort erlebt, an dem Christsein wirklich lebt." Und ich habe mich gefragt, wie viel Bürokratie, Verwaltung, Besitzstandswahrung und vor allem wie viel Vereinsmeierei meine Arbeit in den zurückliegenden Jahren geprägt haben. Und wie viel davon die Arbeit und das Leben in unseren christlichen Gemeinden hier in Deutschland letztlich immer wieder prägt.

Die Begegnung mit den Geflüchteten hat mich hier manches hinterfragen lassen. Diese Menschen haben vieles von dem, was für mich selbstverständlich schien, plötzlich fragwürdig gemacht. Sie haben mich und meine Art zu leben in Frage gestellt.

Mögen Sie Fragezeichen?

Vielleicht ist es genau das: vielleicht ist genau das der Punkt, der viele Menschen heute so mit Sorgen und Ängsten erfüllt. Es wird ja immer von diffusen Ängsten gesprochen.

Ich glaube, das sind gar keine wirklichen Bedrohungen, keine wirklichen Ängste. Vor was denn auch?

Für wen von uns hat sich denn im letzten Jahr durch die große Zahl von Neuankömmlingen tatsächlich auch nur im Geringsten irgendetwas verändert? Wer hätte sich persönlich deswegen auch nur im Entferntesten irgendwie einschränken müssen?

Ich glaube das ist doch gar nicht der Punkt. Ich glaube, der eigentliche Knackpunkt ist der, dass Menschen plötzlich ein komisches Gefühl haben, etwas, was man gar nicht wirklich benennen kann. Da ist irgendetwas, was sauer aufstößt, unangenehm wirkt. Und ich glaube einer der Knackpunkte ist, dass Menschen - ob sie es wollen oder nicht - plötzlich Fragezeichen spüren.

Die Flüchtlinge stellen nämlich nicht nur mich, sie stellen uns alle in Frage. Sie stellen Fragen an unsere Gesellschaft, an unsere Art zu leben, an dieses Leben, in dem wir uns so gemütlich eingerichtet haben und bei dem uns letztlich gar nicht mehr auffällt, wie viel hier im Letzten mehr als fragwürdig ist.

Wir sind eines der reichsten Länder der Erde, bei uns ist für jeden gesorgt. Und dann stehen plötzlich Menschen wie ein Fragezeichen im Raum, Menschen, die untergebracht werden wollen. Und es wird plötzlich unübersehbar deutlich, dass schon ohne sie wirklich bezahlbarer Wohnraum Mangelware ist, dass in diesem reichen Land bei weitem nicht alles zum Besten bestellt ist, dass viele sich auch bei uns das Dach überm Kopf eigentlich gar nicht leisten können.

Bei uns gibt es Arbeit im Überfluss, händeringend werden Fachkräfte gesucht. Und dann stehen plötzlich Menschen wie ein Fragezeichen im Raum, Menschen, die nicht das Nötigste zum Leben haben. Und urplötzlich werden wir daran erinnert, dass es auch ohnedies schon Menschen gibt, die am Rande unserer Gesellschaft angesiedelt sind, die mittlerweile schon in der zweiten Generation von Hartz IV leben, nicht vermittelbar sind, weil unser Arbeitsmarkt sie offenbar nicht gebrauchen kann, dass es Menschen gibt, die wir hier "nicht gebrauchen können"! Oder die zwar arbeiten - und das die ganze Woche -, aber von ihrem Lohn nicht wirklich leben können, geschweige denn eine Familie ernähren.

Mir begegnet in den letzten Monaten so vieles, was fragwürdig ist, aber schon gar nicht mehr hinterfragt wird; woran wir uns offenbar schon so gewöhnt haben, dass kaum jemand noch dagegen aufbegehrt.

Und manchmal habe ich das Gefühl, dass manche gar nicht aufbegehren möchten, das, was im Argen liegt, am liebsten gar nicht sehen wollen.

Da tauchen plötzlich Männer auf, die von einem Frauenbild geprägt sind, das an unsere Vorstellungen der 40er und 50er Jahre erinnert. Und sie stellen damit auch unser Miteinander unter den Geschlechtern auf den Prüfstand. Aber wir wiegeln ab und erklären, dass sich nur die Neuankömmlinge ändern müssten, denn bei uns seien Frauen schließlich gleichberechtigt und vor sexuellen Übergriffen geschützt - außer an Fasnacht, außer auf dem Oktoberfest, bei der Fußballeuropameisterschaft oder immer dann, wenn Männer alkoholisiert sind. Denn das hat offenbar leider nichts mit Herkunft, Religion oder Kultur zu tun: Männer sind Schweine, vor allem wenn sie besoffen sind - und manche nicht nur dann.

Und wenn es um gleiche Bezahlung geht, um Doppelbelastung in Beruf und Familie, dann werden die Fragezeichen nur noch größer.

Und katholische Kirche muss da ganz besonders still sein, wenn es darum geht, davon zu sprechen dass Frauen bei uns gleichberechtigt wären.

Mögen Sie Fragezeichen?

Ich beginne, mich daran zu gewöhnen, und ich beginne, ihnen sogar einiges abzugewinnen. Ich glaube, es ist wichtig, solche Fragezeichen zuzulassen. Und ich glaube, dass dies letztlich die große Chance ist, die Chance, die uns die Vielzahl der Menschen, die derzeit neu bei uns ankommt, bietet.

Sie helfen uns nämlich. Ja, sie zwingen uns sogar dazu. Sie machen es notwendig, dass wir diese Fragen stellen. Sie zwingen uns dazu, gemeinsam zu überlegen, wie wir hier auf Zukunft miteinander leben wollen und ob wir an den Missständen unter uns nicht wirklich endlich einmal etwas ändern möchten.

Ich höre da immer wieder, dass Menschen sagen: "Ich will nicht, dass sich unser Land verändert!" Ich stehe dann immer da und schüttle voller Unverständnis den Kopf. Es könnte uns nichts Schlimmeres passieren, als dass sich nichts ändert. Nichts wäre fataler, als dass am Ende alles so bliebe, wie es jetzt ist. Ich hoffe, dass sich diese Gesellschaft verändert.

Ja, wir müssen den Neuankömmlingen klar machen, welchen Wert das Miteinander von Mann und Frau hat. Aber wir müssen dabei auch die Missstände, die es immer noch unter uns gibt, in den Blick nehmen. Und nicht nur in den Blick nehmen, sondern auch wirklich zum Positiven gestalten.

Wir müssen den Menschen, die uns um Hilfe bitten, die Hand reichen. Aber allen, nicht zuletzt denen, die schon seit Menschengedenken unter uns leben.

Und dann dürfen wir nicht nur an den Symptomen herumdoktern, sondern müssen die Ursachen der Not bekämpfen: angefangen bei der Not in den Staaten Afrikas, über die Ausplünderung der Menschen durch unsere Firmen und Konzerne in Ostasien. Wenn wir es weiter zulassen, dass wir unseren Wohlstand darauf gründen, dass andere unter menschenunwürdigen Bedingungen für uns produzieren, wenn wir weiterhin exzellent leben und zwar auf Kosten anderer, wenn wir weiter zu den Weltmeistern im Waffenexport gehören, Staaten wie Saudi-Arabien, die letztlich in allen kriegerischen Auseinandersetzungen in der dortigen Region ihre Finger mit im Spiel haben, durch immer neue Waffenexporte auch noch unterstützen, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir die nächste Generation von Flüchtlingen heute schon wieder produzieren.

Und reden wir uns bitte nicht damit heraus, dass, wenn wir keine Waffen verkaufen, es halt die anderen tun würden. Das ist das dümmste Argument, um unverantwortliche Profitgier irgendwie doch noch legitimieren zu wollen, das dümmste Argument, das es überhaupt gibt.

Wir und unsere Gesellschaft müssen uns verändern, unsere Art und Weise, auf Kosten anderer zu leben, muss aufhören.

Und für all diejenigen, die sich mit Fragezeichen schwertun: Das ist das Ausrufezeichen!

Unsere Art auf Kosten anderer zu leben, unser vorab profitorientiertes Wirtschaften - ohne Rücksicht auf Verluste -, muss sich ändern, damit Menschen am Ende gar nicht mehr auf die Idee kommen, auf Grund wirtschaftlicher Not ihre Heimat verlassen zu müssen; wir müssen anders miteinander umgehen, so dass Gerechtigkeit kein unerreichbares Ideal bleibt, sondern wirklich von jedem und jeder erlebt werden kann.

Das sind die Ausrufezeichen!

Wenn wir sie tatsächlich ernst nehmen, dann haben wir alle Chancen eine für alle positive Zukunft zu gestalten.

Wir konnten uns in der Vergangenheit vielleicht noch davor drücken. Die Flüchtlinge, die jetzt bei uns angekommen sind, machen ein Wegducken unmöglich. Sie tragen diese Fragezeichen auf unsere Marktplätze, in unsere Kommunen und in unsere Kirchen.

Und vor allem hier, in unseren christlichen Gemeinden, sollten wir sehr klar darum wissen, dass es nicht allein die Flüchtlinge sind, die uns hier Fragen stellen. In diesen Flüchtlingen begegnet uns nämlich niemand anders als der, der schon mit Zwölf angefangen hat, die Seinen in Frage zu stellen.

Es sind seine Fragen, denen wir uns stellen müssen. Und ich hoffe, wir bleiben ihm die Antwort nicht schuldig.

Amen.

(Dr. Jörg Sieger, Karlsruhe)

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