Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button 18.10.2015 - Interview im "Konradsblatt"

Herr Sieger, Sie haben vor rund einem Jahr ihre Stelle als Projektreferent in Sachen Migration und Integration beim Diözesan-Caritasverband angetreten. Damals waren es rund 200 000 Flüchtlinge, die bis Ende 2014 nach Deutschland gekommen waren. Hätten Sie sich vorstellen können, dass diese Zahl ein Jahr später fünf mal, vielleicht sogar sechs-oder sieben mal so hoch sein könnte?

Ich hätte mir vor allem nie träumen lassen, einmal in einem Feld tätig zu sein, das so viel Raum in den Medien einnimmt. Die Entwicklung der letzten Monate fordert dabei von allen Beteiligten beinahe die Quadratur des Kreises. Wir arbeiten weithin im Krisenmodus, agieren weniger, als dass wir auf sich immer wieder verändernde Voraussetzungen reagieren, und wollen dabei auch noch so etwas wie Strukturen aufbauen.

Sie gehören wahrscheinlich zu den wenigen Akteuren im Erzbistum, die ansatzweise einen Überblick über das Wo und Wie der ehrenamtlichen Hilfe für Flüchtlinge haben. Wie erleben Sie dieses Engagement?

Ich war und bin jedes Mal überwältigt, wenn ich mitbekomme, wie viele Menschen sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise völlig selbstlos einbringen. Und es ist begeisternd zu sehen, wie dann in einem Helferkreis Professor, Ärztin, Rentnerin und Handwerker nebeneinandersitzen. Auffallend ist, dass sich hier viele engagieren, die sich in den klassischen pfarrlichen Strukturen bisher nicht eingebracht haben und dies vermutlich auch nicht getan hätten. Wenn Obdachlose, Arbeitslose oder Hartz IV-Empfänger eine ähnliche Welle an Solidarität erfahren würden - unsere Gesellschaft würde anders aussehen.

Der Diözesancaritasverband, die Ortscaritasverbände und das Erzbistum Freiburg finanzieren inzwischen gemeinsam rund 11 Stellen an 22 Orten zur professionellen Unterstützung der Ehrenamtlichen in der Flüchtlingshilfe. In welchen Bereichen stoßen die Ehrenamtlichen an Grenzen und sind auf professionelle Hilfe angewiesen?

Die Menschen, die hier ankommen, haben zum Teil Schreckliches hinter sich und sind vielfach traumatisiert. Eine Helferin erzählte mir von einem Kind, das grundsätzlich unter dem Tisch verschwand, sobald ein Polizeiwagen mit Sirene vorbeifuhr. Hier gilt es ganz besonders sensibel zu reagieren. Dazu brauche ich Anleitung - auch um mich selbst zu schützen. Dies gilt auch, wenn Beziehungen entstanden sind und Menschen plötzlich abgeschoben werden sollen. Hier ist professionelle Begleitung angezeigt. Ich brauche Informationen über eigene kulturelle Orientierungen und die der anderen, damit nicht unterschiedliche Vorstellungen von Pünktlichkeit etwa zu unnötigen Frustrationen führen und Flüchtlinge gar für undankbar gehalten werden. Auch muss ich um meine Grenzen wissen, gerade in rechtlichen Fragen. Entsprechende Schulungsmaßnahmen laufen und werden zum Glück auch gut angenommen.

Ungeachtet fremdenfeindlicher Äußerungen und Aktionen hat sich in Deutschland gerade in den letzten Monaten eine ungewöhnliche Willkommenskultur entwickelt. Wie groß ist die Gefahr, dass diese Stimmung kippt und was kann getan werden, um das zu verhindern?

Die Stimmung ist gekippt. Der Wahlkampf in Baden-Württemberg hat begonnen und das Thema taugt hervorragend dazu, sich zu profilieren. Das hat schon dazu geführt, dass vielerorts von Flucht und Asyl gar nicht mehr differenziert gesprochen werden kann. Es wird auf die Frage reduziert: "Bist du für Flüchtlinge oder dagegen?" Wir müssen alles dafür tun, die Diskussion zu versachlichen. Ich folge, wo es nur geht, Einladungen von Lehrerinnen und Lehrern, um mit Schulklassen ins Gespräch zu kommen, das Thema in Pfarreigemeinschaften und Gruppen zu platzieren und den Menschen, um die es geht, ein Gesicht und eine Stimme zu verleihen. Wer von "den Flüchtlingen" und "den Asylbewerbern" spricht, denkt in anonymen Größen. Die machen ganz schnell Angst. Wir haben es aber mit ganz konkreten Menschen zu tun, von denen jeder und jede ihre ganz eigene Geschichte haben. Diese Geschichten sind zum allergrößten Teil ergreifend und machen sprachlos. Ich werde dabei oft ganz klein.

Gibt es Ihrer Erfahrung nach auch Fehler, die im Blick auf die Flüchtlingspolitik und Flüchtlingshilfe gemacht wurden?

Was haben wir Europäer denn wirklich richtig gemacht? Die Grenzen, die die Kolonialmächte in der Vergangenheit willkürlich gezogen haben, nahmen auf die Menschen dort keinerlei Rücksicht. Dass heute Volksgruppen aufeinanderprallen und Bürgerkriege losbrechen, ist nicht zuletzt das Ergebnis davon. Und unsere Politik hat Diktatoren unterstützt, ohne sich daran zu stören, dass sie Jahrzehnte lang ganze Volksgruppen mit Füßen getreten haben. Gerade in diesen Monaten wird Ostafrika in ein Freihandelsabkommen hineingezwungen, von dem allein unsere Wirtschaft profitieren wird - vielen afrikanischen Kleinbauern aber wird es den letzten Rest geben. Hier wird der Same für die nächste Generation von Armutsflüchtlingen gelegt. Und Hand aufs Herz: wo auch immer auf dieser Erde im Augenblick Menschen aufeinander schießen, sind mit großer Wahrscheinlichkeit deutsche Waffen mit im Spiel.

Was ist Ihrer Erfahrung nach derzeit die sinnvollste und wichtigste  Art und Weise, wie Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe einbringen können? Gibt es Tipps für diejenigen, die helfen wollen?

Zuerst einmal vor Ort nachfragen: beim örtlichen Caritasverband oder im zuständigen Pfarramt. Dort kann man in aller Regel am genauesten sagen, wer an welcher Stelle Ansprechpartner ist. Fast überall gibt es Unterstützerkreise, die einem zeigen, was gebraucht wird und dann auch helfen, in die Arbeit einzusteigen. Und ganz wichtig ist, sich klar zu machen, dass Flüchtlinge Menschen sind, die sich bis hierher durchgeschlagen haben. Sie sind keine unmündigen Hilfsbedürftige, die man wie Kinder an die Hand nehmen müsste, sondern Menschen, die selbst am besten wissen, was sie brauchen und was gut für sie ist. Sie haben es verdient, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen und als Gegenüber wirklich ernst nehmen.

(Die Fragen stellte Michael Winter, Konradsblatt)

Weiter-Button Zurück-Button