Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Abraham als "Wirtschaftsflüchtling"

hebräischer Bibeltext

"Jahwe sprach zu Abram: Geh aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen und ich werde dich segnen und ich werde groß machen deinen Namen, und du wirst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Und in dir sollen sich segnen alle Geschlechter der Erde. Und Abraham ging, wie Jahwe gesprochen zu ihm und Lot ging mit ihm. Abram war ein Sohn von fünfundsiebzig Jahren, als er aus Haran hinausging."
Genesis (1. Buch Mose) 12,1-4

Der Ruf Gottes ergeht an Abraham. Gott befiehlt dem Abraham, der zu dieser Zeit noch Abram heißt, aufzubrechen, alles hinter sich zu lassen und ins Ungewisse zu ziehen - ohne Sicherheit, allein auf Gottes Wort hin. Und Abraham hört und gehorcht.

So hat man es in unzähligen Predigten schon gehört. Gott befiehlt und Abraham gehorcht. Abraham als Inbegriff des gehorsamen Menschen. Das ist die klassische Deutung dieser Stelle aus dem ersten Buch der Bibel - nicht falsch, aber auch nicht wirklich richtig. Zumindest lässt diese fromme Deutung alle historischen Bezüge und Hintergründe völlig außer Acht.

Tut man dies nicht, steht Abraham aber in einem ganz anderen Licht da.

"Mein Vater war ein heimatloser Aramäer ..."

Hat es Abraham als Person überhaupt gegeben? Lange Zeit war diese Frage unter den Bibelwissenschaftlern umstritten. Mittlerweile scheint die Mehrheit der Exegeten von der Historizität der sogenannten "Urväter-Persönlichkeiten" aber auszugehen. Das heißt nicht, dass uns die Bibel gleichsam Biographien Abrahams, Isaaks und Jakobs überliefert. Es scheint aber mehrheitlich Konsens zu sein, dass sich in den biblischen Erzählungen Erinnerungen an Menschen erhalten haben, die tatsächlich einmal gelebt haben.

Dass die Vorfahren des späteren Volkes Israel tatsächlich wandernde Nomaden gewesen sind, hat sich auch an anderen Stellen der Bibel niedergeschlagen.

Im sogenannten "kleinen geschichtlichen Credo" heißt es etwa:

"Ein umherirrender Ara­mä­er war mein Vater."
Deuteronomium (5. Buch Mose) 26,5a

Während spätere israe­litische Personen­namen kanaanäische Bildungsmerkmale aufweisen, sind die Namen der Vorfahren Israels - also Jakob, Isaak, Dan, Gad oder Laban - genauso gebildet, wie es bei aramäischen Personennamen der Fall ist. ⋅1⋅ Dies ist ein nicht unwichtiger Hinweis darauf, dass die biblischen Urvätererzählungen durchaus historische Wurzeln haben.

Wir müssen hier ursprünglich von Nomadenstämmen ausgehen, die mit ihren Kleinviehherden in der Steppe unterwegs waren. In diesem Umfeld dürften die Personen zu suchen sein, deren Spuren sich in den Patriarchenerzählungen der Bibel erhalten haben. Die Ereignisse selbst dürften im 19. bzw. 18. vorchristlichen Jahrhundert - andere sprechen von der Zeit des 14. bis 13. Jahrhunderts - anzusiedeln sein. ⋅2⋅

Menschen mit einer eigenen Religion

Von besonderer Bedeutung ist das, was über die Religion dieser Menschen berichtet wird. Bei den bekannten Hochkulturen ist eine Gottheit immer mit einem Kultort verbunden. So erhalten die Götter Kanaans etwa durch diesen Kultort auch ihre Bezeichnung. Man spricht zum Beispiel vom "Gott von Bet-El" und meint damit eben die Gottheit, die man in Bet-El verehrt. All diese Götter haben in der Regel einen begrenzten Wirkungsort. Man verehrt sie lediglich am Heiligtum und sie wirken auch nur in einem entsprechenden Gebiet. Verlässt man das Territorium ihres Einflussbereiches, verlässt man auch den Wirkungsraum der entsprechenden Gottheit.

Die Gottheiten, die die Patriarchen der Bibel verehrten, waren anders. Das beginnt schon damit, dass diese Götter nicht durch Orte näher bezeichnet werden. Man benennt sie mittels Personen: Man spricht vom "Gott Abrahams" und meint damit, dass diese Gottheit Abraham zuerst erschienen ist und dass Abraham als erster den Kult dieses Gottes beging. In den darauffolgenden Generationen erhält die Gottheit dann den Namen "der Gott unseres Vaters Abraham". Diese Bezeichnungen haben sich bis heute in der Bibel erhalten. Offenbar verehrten die damaligen Nomadenstämme jeweils eigene Gottheiten, die mit den jeweiligen Vorvätern verbunden wurden. So sprach man vom "Gott unseres Vaters Isaak" oder vom "Gott unseres Vaters Jakob". Albrecht Alt hat für diesen ganz eigenen religionsgeschichtlichen Typ von Gottheit den Namen "Gott der Väter" geprägt. ⋅3⋅

Entscheidend neu an diesem Gottesbild scheint die Überzeugung der Menschen gewesen zu sein, dass "unser" Gott nicht an einem Ort wohnt. Er bindet sich an die Menschen, die ihn verehren, und er begleitet sie. Der "Gott der Väter" residiert nicht in einem Heiligtum, er begleitet die wandernden Nomadengruppen und zieht mit ihnen. Diese Eigenschaft Gottes blieb im Gottesbild Israels erhalten und wurde zu einem wichtigen Wesenszug des Gottes der Bibel.

Die sogenannten aramäischen "Wanderwellen"

Knochen in der Wüste

Verendetes Tier in der Wüste beim Roten Meer

Lizenz: P.R. Binter, Desert-skelleton-red-sea,
als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons

Die "umherirrenden Aramäer", von denen die Bibel berichtet, waren ursprünglich wahrscheinlich auf der arabischen Halbinsel beheimatet. Wahrscheinlich aufgrund klimatischer Veränderungen - großen Dürrekatastrophen etwa -, waren diese Nomadengruppen gezwungen ihre angestammten Wandergebiete zu verlassen. Zwei große, sogenannte aramäische "Wanderwellen" lassen sich historisch greifen. In einer ersten, Welle zogen im 19. bzw. 18. Jahrhundert vor Christus große aramäische Verbände nach Norden und fielen in das Kulturland ein. Im 14. bzw. 13. vorchristlichen Jahrhundert verursachten erneut große Trockenheitsperioden ein weiteres Vordringen in die fruchtbaren Bereiche an den großen Flüssen Euphrat, Tigris, Jordan und Nil. ⋅4⋅

Konsequenzen für die Deutung der biblischen Abrahamsberichte

Diese Zeit liefert den Hintergrund der biblischen Abrahamserzählung. Der historische Abraham war nicht allein. Abraham war einer von Tausenden, die in der damaligen Zeit aufbrachen. Abraham folgte dabei auch nicht einem Befehl Gottes, der ihm auftrug, die wohlvertraute Umgebung zu verlassen. Abraham lebte in einem Land, das seinen Herden keine Perspektive mehr bot. Er war aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Er wusste nicht mehr, wie er sich, seine Frau, seine Knechte und seine Herden ansonsten weiter ernähren sollte.

Aber Abraham hatte ein Problem: Seine Frau war unfruchtbar. Und in einer Zeit, in der die Nachkommen die einzige Sozialversicherung darstellten - konnte er es in solch einer Zeit wirklich wagen, mit einer Frau aufzubrechen, die keine Kinder bekommen konnte? Konnte er unter diesen Voraussetzungen in eine ungewisse Zukunft hinein aufbrechen, nicht wissend, ob einmal genügend Nachkommen da sein werden, um ihn im Alter zu versorgen? Nicht wissend, ob er es tatsächlich schaffen werde, in jenem heißbegehrten neuen Lebensraum einen Flecken für seine Herden zu ergattern? Allein diese Sorgen hielten den Abraham noch zurück.

Gott musste ihm deshalb nicht erst befehlen, das Land, das schon lange nichts mehr hergab, hinter sich zu lassen. Was in der Bibel geschildert wird, ist nicht ein Befehl Gottes, dem der Abraham dann heldenhaft gehorcht. Gott befiehlt gar nichts. Gott macht etwas ganz anderes: Gott macht dem Abraham Mut: "Wage es ruhig! Brich auf, es wird gut gehn! Du wirst Nachkommen haben, und du wirst in das Land kommen, das du dir ersehnst. Es wird geschehen, denn ich bin bei dir, um dich zu geleiten. Ich gehe mit dir, ich selbst begleite dich auf dem Weg in dieses neue Land."

Gott fordert den Aufbruch des Abraham nicht, Gott ermutigt dazu. Gott macht dem Abraham Mut aufzubrechen, ruhig in das Land zu ziehen, von dem er sich erhofft, dass es ihm dort besser gehen wird. Gott ermutigt ihn dazu, indem er ihm versichert, dass er sich ganz auf seine Seite stellt, auf die Seite des "Wirtschaftsflüchtlings" Abraham: "Ich führe dich in das Land, in dem Milch und Honig fließen. Ich selbst führe dich in das Land, in dem es dir besser gehen wird."

Kein Wort von den Kanaanäern. Kein Wort über die, die damals Herren dieses Landes waren. Kein Wort über die, die mittlerweile schon die Panik packte, angesichts der heranrückenden Scharen, die nun ein Stück vom Kuchen des Kulturlandes abbekommen wollten. Kein Wort über ihre Bestrebungen der Besitzstands-Sicherung und über ihre Ängste vor kultureller Überfremdung.

Es müsste uns eigentlich zu denken geben. Die biblische Geschichte von Abraham macht es eigentlich überdeutlich: Gott ist parteiisch. Der Gott der Bibel steht auf der Seite des Abraham, auf der Seite des Wirtschaftsflüchtlings, auf der Seite des Ausländers, auf der Seite dessen, der aus Not in die Fremde zieht ...

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 22. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 22-24. Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 25; Antonius H. J. Gunneweg, Geschichte Israels bis Bar Kochba (Stuttgart 3. Auflage 1979) 20-21. Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 22. Zur Anmerkung Button