Interkulturelle Kompetenz
Herausforderung für unsere Gesellschaft
Verhältnis zur Zeit
Die schmelzende Uhr
© ThumbsUp!
Mit freundlicher Genehmigung der Firma "ThumbsUp!"
vgl. https://www.thumbsup.de/schmelzende-uhr
Am augenfälligsten sind augenblicklich die Schwierigkeiten, die es im Miteinander von Flüchtlingen und Ehrenamtlichen gibt, in Bezug auf Pünktlichkeit. Immer wieder gibt es Klagen darüber, dass vereinbarte Zeiten nicht eingehalten werden.
Kaum irgendwo wird vermutlich deutlicher, wie verschieden die unterschiedlichen Standorte der jeweiligen Menschen in jenem kulturellen Raum sein können, den Karl-Heinz Flechsig beschreibt. Beim Verhältnis zur Zeit werden die Differenzen ganz besonders deutlich.
Zeitraum oder Zeitpunkt
Auch hierzu - wie bereits im Blick auf das Verhältnis von Menschen zur Umwelt - ein Beispiel aus Peru:
Ich war in den Anden, genauer gesagt in den Bruchsaler Partnergemeinden San Pedro und San Pablo - gute zwei Stunden von Cusco entfernt. Damals erlebte ich eine Frau, die nach einem Fußweg von drei Stunden aus ihrer Communidad endlich im Hauptort San Pablo angekommen war. Sie wollte Padre Gabriel, den dortigen Pfarrer sprechen. Als sie am Pfarrhaus angekommen war, eröffnete man ihr, dass Padre Gabriel gar nicht anwesend sei. Er war an diesem Tag wegen dringender Geschäfte zur Prälatur nach Sicuani gefahren.
Peruanische Frau in Irubamba
© Elisabeth Rieger
mit herzlichem Dank an Elisabeth Rieger
und den Perukreis Bruchsal
Ich begann die Frau schon zu bedauern, die jetzt ja wohl unverrichteter Dinge den langen Weg wieder nach Hause gehen würde. Sie wirkte aber gar nicht enttäuscht und sie machte auch keinerlei Anstalten, gleich wieder umzukehren. Sie setzte sich einfach auf die Stufen des Pfarrhauses, blieb dort sitzen und wartete - über vier Stunden lang. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich in dieser Zeit auch nur ein einziges Mal von der Pfarrhaustreppe wegbewegt hätte.
Als Padre Gabriel endlich kam, sprach sie gerade mal eine viertel Stunde mit ihm - ich glaube es ging um eine Taufe - und dann machte sie sich auf den erneut drei Stunden langen Heimweg in ihre Communidad.
Versuchen Sie mal mit dieser Frau einen Termin auf 16.15 Uhr auszumachen…
Während wir Zeit in der Regel eher als Punkt betrachten, was sich dann auch in der sprichwörtlichen Pünktlichkeit äußert, ist Zeit in Peru eher so etwas wie ein Raum. In Peru ist man gewohnt, sich gegenwartsbezogen an eine entsprechende Situation anzupassen. Das braucht Zeitpuffer, bedarf ständigen Umplanens und einer hohen Flexibilität. Exakte Zeitplanung, wie wir sie kennen, macht dies selbstverständlich häufig unrealistisch.
Während wir aber gewohnt sind, bei Zeitverzögerungen rasch ungeduldig und unwirsch zu reagieren, bringt es diese eher vom Bild eines Raumes geprägte Vorstellung von der Zeit mit sich, dass Peruaner selbst lange Wartezeiten immer noch als "un momentito" - einen kleinen Augenblick - empfinden können. Deutsche aber sind - gelinde gesagt - doch eher verwirrt, wenn die Angabe, "das ist gleich hier gegenüber" - "acacito, al frente" bzw. "aquicito, al frente" -, nicht selten am Ende eine Wegstrecke von mehreren Stunden bedeutet. ⋅1⋅
Linie oder Kreis
Ist Zeit eher ein Zeitpunkt, was sich im wahrsten Sinne des Wortes dann in Pünktlichkeit ausdrückt, oder ist Zeit ein Raum, so dass fünf Minuten vorher und 30 Minuten später immer noch zu jenem Zeitraum gehören, der völlig akzeptabel ist? Und hat Zeit ein Ziel oder kehrt alles einfach immer wieder?
Mindestens genauso prägend wie die Vorstellung von Zeit als "Zeitpunkt" oder "Zeitraum" ist es, wenn ich davon ausgehe, dass unsere Zeit ein Ziel hat. Wenn Zeit linear verläuft, einen Anfang hat und auf ein Ziel ausgerichtet ist, dann ist auch jeder Augenblick, der vorüber ist, unwiederbringlich vorbei. Und jeder Augenblick der vor mir liegt ist nicht minder einmalig: es gilt die Chance, die er bietet, zu nutzen und zu ergreifen. In einem solchen Umfeld lernen Menschen zu planen und zu organisieren. Hier gedeihen Fortschritts- und Zukunftsorientierung. Man plant längerfristig und auch nachhaltig. Das bedeutet häufig aber auch, dass man, kaum dass ein Ereignis - ein Festtag etwa - Realität geworden ist, bereits wieder auf die Zukunft blickt, schon wieder für den nächsten Anlass plant.
Ganz anders sieht es aus, wenn ich Zeit als Kreislauf betrachte - geprägt von der ewig gleichen Wiederkehr von Tag und Nacht im Ablauf von 24 Stunden oder der Abfolge von Frühling, Sommer, Herbst und Winter im nicht umsonst "Jahreskreis" genannten Zyklus der zwölf Monate eines Jahres. Im Erleben von Sterben und Vergehen und immer wieder neu Werden der Natur entsteht ein Bewusstsein, dass alles wieder kommt, es immer wieder einen neuen Anfang gibt und, was heute nicht erledigt werden konnte, eben morgen getan werden kann. Diese Vorstellung von der Zeit begünstigt ein Leben in der Gegenwart. Ich koste den Augenblick aus und habe gleichsam - schon sprichwörtlich - "alle Zeit der Welt".
Einflüsse der Religionen
Solches Erleben von Zeit geht Hand in Hand mit der Vorstellung von Leben und Tod und hat damit immer auch einen Bezug zur jeweiligen Religion der Menschen. Vor allem in östlichen Religionen findet sich der Glaube an eine Reinkarnation, eine Wiedergeburt. Das festigt das Bewusstsein eines Kreislaufes, einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die Fruchtbarkeitskulte Kanaans in vorchristlicher Zeit wiederum waren geprägt von der immer wieder neuen Abfolge des Sterbens und neu Werdens der Natur, so dass man auch im Blick auf die Zeit vor allem zyklisch und nicht linear dachte.
Es war eine erstaunliche Entwicklung, dass dieses Denken im Horizont Israels und der Bibel aufgebrochen wurde. Hier wurde die Vorstellung vorherrschend, dass Gott im Anfang die Welt und damit die Zeit erschaffen habe und dass diese Zeit ein Ziel hat. Auf diesem Hintergrund entwickelt sich dann das sogenannte "geschichtliche Denken". Die Kategorien Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bekommen ganz neues Gewicht. Solch ein Umfeld begünstigt dann auch die Entstehung eines dezidierten Glaubens an ein Leben nach dem Tod in einer ganz anders gearteten Welt. Wo die Zeit ein Ziel hat, kann ich mir auch vorstellen, dass mein Leben ein Ziel hat. Die Gegenwart wird dann zum Ort der Vorbereitung und Bewährung. Es geht darum, alles daranzusetzen, um das Ziel auch wirklich zu erreichen.
Pünktlich wie die Eisenbahn
Wichtig ist zunächst einmal, dass es in diesen Zusammenhängen weder richtig noch falsch gibt. Es sind unterschiedliche Betrachtungsweisen, die Menschen unterschiedlich geprägt haben. Jede Sichtweise hat ihre Vorteile, jede birgt Schwierigkeiten in sich. Wie so oft im Zusammenhang mit all diesen kulturellen Unterschieden, gilt es einfach die Verschiedenheiten wahrzunehmen und, vor allem im Miteinander von Menschen unterschiedlicher Kulturen, mit ihnen zu rechnen.
S-Bahn am Münchener Hauptbahnhof
Foto: Jörg Sieger
Wichtig ist darüber hinaus, darauf hinzuweisen, dass selbst dort, wo bestimmte Verhaltensweisen als üblich und normal betrachtet werden, dies nicht bedeutet, dass man immer auch wirklich nach diesen Standards handelt.
Deutschland gilt beispielsweise als Kultur, in der Pünktlichkeit hochgehalten wird. Dies kulminiert dann in Sprichworten wie:
"Fünf Minuten vor der Zeit ist die wahre Höflichkeit."
Wenn es darum geht, einen wichtigen Termin wahrzunehmen, kann man in Deutschland denn auch tatsächlich beobachten, dass Menschen früher als ausgemacht eintreffen. Wer sich aber immer an diese, den Deutschen doch offenbar so wichtige Eigenschaft hält, kann ab und an recht unangenehm auffallen. Bei einer Einladung zum Abendessen beispielsweise würde sich die Gastgeberin in vielen Fällen bedanken, wenn die Gäste vor der Zeit auftauchen würden. Da gebietet es die Höflichkeit, eher ein paar Minuten später zu erscheinen, damit die Vorbereitungen auch in aller Ruhe zu Ende gebracht werden können.
Und auch dort, wo man in Deutschland Pünktlichkeit für sich reklamiert, kann man in vielen Fällen einen doch eher großzügigen Umgang mit diesem Kulturstandard feststellen. Und dabei muss man nicht einmal zuerst auf den immer wieder verschobenen Eröffnungstermin des Berliner Hauptstadtflughafens blicken. Auch in Deutschland gibt es mehr Unpünktlichkeit, als vielen Deutschen wirklich bewusst ist.
Wo es allerdings auffällt, unternimmt man gerne alle erdenklichen Anstrengungen, um nur nicht als unpünktlich zu erscheinen:
Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) gelten als "pünktlichste Bahn Europas". In ihrer Statistik weisen sie aus, dass 87,7 Prozent aller Züge mit einer Verspätung von höchstens drei Minuten ihr Ziel erreichen. ⋅2⋅ Mit 87,7 Prozent kann sich die Deutsche Bahn (DB) offenbar nicht zufrieden geben. In einem Land, in dem man "pünktlich wie die Eisenbahn" ist, braucht es schon eine Pünktlichkeit von 95,2 Prozent - wie etwa für den März 2016 ausgewiesen. Allerdings wird diese Zahl nur erreicht, indem auch noch Züge, die fast sechs Minuten Verspätung haben, einfach als pünktlich betrachtet werden. Und in der gleichen Statistik wird sogar ein Pünktlichkeitswert von 99,1 Prozent angegeben. Dafür werden aber alle Züge als pünktlich gewertet, deren Verspätung, gemessen an der planmäßigen Ankunftszeit, höchstens 15 Minuten und 59 Sekunden betrug - auf genau diese 59 Sekunden, auf die kommt es dabei aber auch absolut an! ⋅3⋅
Dr. Jörg Sieger
Anmerkungen