Interkulturelle Kompetenz
Herausforderung für unsere Gesellschaft
Stereotypen
- Kategorien, Schubladen und Stereotypen
- Interkulturelles Training im 18. Jahrhundert
- Brandgefährlich
- Immer mehr falsch als richtig
Trotz der Einsicht in die Notwendigkeit, dass ich jeden Menschen als Individuum und je eigen betrachten muss und jeder und jedem unvoreingenommen begegnen sollte, verlangen viele nach Orientierungshilfen: Kann ich mich denn nicht auf eine Begegnung vorbereiten? Gibt es vielleicht Hinweise darauf, wie jemand, der aus einem anderen Land zu uns kommt, wohl reagieren wird? Gibt es nicht so etwas wie einen Katalog, in dem ich nachschauen kann, um dann genau zu wissen, wie ein anderer wohl tickt? Dann könnte ich mich ja darauf einstellen, Fehler vermeiden und meinem Gegenüber einfach angemessen begegnen.
Kategorien, Schubladen und Stereotypen
Das ist ein urmenschliches Verlangen. Seit Menschengedenken kategorisieren wir unsere Umwelt. So etwas ist letztlich ja auch überlebensnotwendig. Im Ernstfall müssen Menschen blitzschnell entscheiden, ob ein Objekt das sich mir nähert, Gefahr bedeutet oder etwa nur ein Blatt ist, das zu Boden fällt. Wir ordnen und bestimmen unsere Umgebung im Verhältnis zu uns selbst.
Von daher ist es nachvollziehbar, dass wir dies auch mit Menschen tun. Wir fragen danach, wie Franzosen, Araber, Russen ticken. Niemanden gibt es, dem nicht entsprechende Eigenarten einfallen, wenn wir an Polen, Italiener oder Spanier denken. Und wir arbeiten instinktiv und unterbewusst mit solchen Stereotypen. Die Werbeindustrie beispielsweise setzt sie ganz bewusst ein ⋅1⋅.
Und ganz ehrlich? Wie oft sind solche Stereotypen nicht einfach lustig. Was wäre die Welt etwa ohne Schwabenwitze?
Interkulturelles Training im 18. Jahrhundert
Aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt diese steierische Völkertafel - Interkulturelles Training vor zweihundert Jahren. Sie bietet genau das, was sich auch heute viele Menschen erwarten: einfache, klare und präzise Angaben über andere Völker und Nationen.
"Kurze Beschreibung der in Europa befintlichen Völckern und Ihren Aigenschaften",
Steiermark, um 1725
Lizenz: Anonym, Völkertafel,
als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
In mehreren Spalten wird aufgelistet, was kurz und präzise über die jeweiligen Personengruppen zu sagen ist.
Namen | Spanier | Franzose | Italiener | Deutscher | Engländer |
---|---|---|---|---|---|
Sitten | hochmütig | leichtsinnig | hinterhältig | offenherzig | wohlgestalt |
Natur und Eigenschaft | wunderbarlich | hochselig und gesprächig | eifersüchtig | ganz gut | liebreich |
Verstand | klug und weise | vorsichtig | scharfsinnig | witzig (=scharf) | anmutig |
Eigenschaften | männlich | kindisch | wie jeder will | überall mit | weiblich |
Wissenschaft | schriftgelehrt | Kriegssachen | geistliches Recht | weltliches Recht | Weltweisheit |
Kleidung | ehrbar | unbeständig | ehrsam | macht alles nach | auf französische Art |
Untugend | hoffärtig | betrügerisch | geizig | verschwenderisch | unruhig |
was sie lieben | Ehrlob und Ruhm | den Krieg | das Gold | den Trunk | die Wollust |
Krankheiten | Verstopfung | Ligner (= Syphilis?) | böse Seuche (?) | Podagra (= Gicht) | Schwindsucht |
Ihr Land | fruchtbar | wohl gearbeitet | ergötzlich und wohllistig | gut | fruchtbar |
Kriegstugenden | großmütig | arglistig | vorsichtig | unüberwindlich | ein Seeheld |
Gottesdienst | der allerbeste | gut | etwas besser | noch andächtiger | veränderlich wie der Mond |
werden regiert von | einem Monarchen | einem König | einem Patriarchen | einem Kaiser | bald von dem, bald von jenem |
haben Überfluss an | Früchten | Waren | Wein | Getreide | Viehweiden |
Zeitvertreib | spielen | betrügen | schwätzen | trinken | arbeiten |
Vergleich mit Tier | Elefant | Fuchs | Luchs | Löwe | Pferd |
ihr Lebensende | im Boot | im Krieg | im Kloster | im Wein | im Wasser |
Namen | Schwede | Pole | Ungar | Russe | Türke oder Grieche |
---|---|---|---|---|---|
Sitten | stark und groß | bäurisch | untreu | boshaft | wie Aprilwetter |
Natur und Eigenschaft | grausam | hochwilder | allergrausamst | gut ungarisch | ein junger Teufel |
Verstand | hartnäckig | gering achtend | noch weniger | gar nichts | oben aus |
Eigenschaften | unerkenntlich | mittelmäßig | blutgierig | unendlich grob | zärtlich |
Wissenschaft | freie Künste | Fremdsprachen | Latein | Griechisch | ein falscher Politikus |
Kleidung | aus Leder | langrockig | vielfarbig | mit Pelz | auf Weiberart |
Untugend | abergläubisch | Prahler | Verräter | gar verdächtig | noch verräterischer |
was sie lieben | köstliche Speisen | den Adel | den Aufruhr | den Prügel | sich selbst |
Krankheiten | Wassersucht | Durchbruch | Freis (?) | Keuchhusten | Schwäche |
Ihr Land | bergig | waldig | frucht- und goldreich | voller Eis | liebreich |
Kriegstugenden | unverzagt | ungestüm | aufrührerisch | mühsam | gar faul |
Gottesdienst | eifrig im Glauben | glaubt alleine | unmüßig (=gleichgültig) | ein Abtrünniger | ein ebensolcher |
werden regiert von | freie Herrschaft | einem Erwählten | einem Unbeliebigen (=Beliebigen) | einem Freiwilligen (=der sich bereit erklärt?) | einem Tyrannen |
haben Überfluss an | Erz | Pelz | an allem | Bienen | an zarten und weichen Sachen |
Zeitvertreib | essen | zanken | müßiggehen | schlafen | kränkeln |
Vergleich mit Tier | Ochs | Bär | Wolf | Esel | Katze |
ihr Lebensende | im Wasser | im Stall | beim Säbel | im Schnee | im Betrug |
In dieser Tabelle werden die Türkei und Griechenland nicht unterschieden. Das hängt natürlich damit zusammen, dass beide Länder zur Zeit dieser Völkertafel noch im osmanischen Reich vereint waren. Für uns ist das kaum vorstellbar, zwei solch unterschiedliche Kulturen einfach zusammenzufassen. Dies ist bereits ein Hinweis darauf, wie schwierig und sogar fragwürdig es ist, Kulturen einfach unter dem Gesichtspunkt "Länderkultur" zu betrachten.
Wenn man sich diese Tafel heute anschaut, wird sie bestenfalls spaßig wirken. Letztlich aber spürt man recht bald einen bitteren Nachgeschmack. Kann man wirklich unterschiedlichste Menschen, die einfach in einer bestimmten Region leben, mittels weniger Stichworte so in Schubladen packen? Das wird Menschen nicht gerecht, ist letztlich schlicht und ergreifend falsch und macht wirkliche Begegnung im Grunde unmöglich.
Brandgefährlich
Und wir wissen mittlerweile, dass solch ein Denken am Ende brandgefährlich ist. Wohin solche Stereotypen führen können, macht der Antisemitismus des NS-Regimes deutlich. Damals gab man vor, genau zu wissen, "wie Juden eben sind". Die Ausstellung "Der ewige Jude" aus dem Jahre 1936 in München ist ein trauriges Beispiel dafür.
Ausstellung "Der ewige Jude", München 1936
Lizenz: Bundesarchiv, Bundesarchiv Bild 119-04-29-38, Ausstellung "Der ewige Jude.jpg", CC BY-SA 3.0 DE
Es ist unerträglich und erschreckend, wie solch ein Denken gerade heute wieder um sich greift. Gerade Muslime werden immer häufiger in Schubladen einsortiert. Manche Äußerung an den berühmten Stammtischen oder in sozialen Netzwerken würde hervorragend, wenn man das Wort "Muslim" durch "Jude" ersetzt in eine längst vergangen geglaubte Zeit passen.
Immer mehr falsch als richtig
Deshalb ist es ganz wichtig festzuhalten: Alle Stereotypen und Standardisierungen, alle Generalisierungen und Verallgemeinerungen sind immer falsch. Ganz besonders, wenn sie einfach nur von Ländern und Nationen sprechen, ohne die Vielfalt der unterschiedlichen Menschen, die es in jedem Land gibt, auch nur annähernd zu berücksichtigen. Es gibt weder den Araber, noch den Tschechen, nicht den Russen und auch nicht den Deutschen.
Wenn auch immer man deshalb Aussagen über Gruppen von Menschen machen möchte, geht das einzig und allein in Grenzen, wie sie das IV. Laterankonzil im Jahre 1215 den Theologen gesetzt hat.
Theologen stehen schließlich nicht minder in der Gefahr, Aussagen über etwas machen zu wollen, das letztlich unsagbar ist. Die Kirchenversammlung des 13. Jahrhunderts hat versucht deutlich zu machen, dass ich über das Phänomen Gott eigentlich gar nichts sagen kann. All mein Sprechen über diesen Gott kann ihm eigentlich immer nur unähnlicher sein, als es ihm ähnlich ist ⋅2⋅. Will sagen: Der Anteil an einer Aussage über Gott der schlicht und ergreifend falsch ist, ist immer größer als der Teil, der richtig ist. Und das hängt für den Theologen damit zusammen, dass Gott eben so groß, umfassend und unbegreiflich ist, dass er einfach nicht mit Worten zu beschreiben wäre. Alles was wir sagen, ist immer mehr falsch, als es richtig ist.
Aber dennoch machen Theologen Aussagen über Gott, weil wir Menschen halt nur mit Sprache kommunizieren können und gar nichts zu sagen letztlich auch nicht hilfreich wäre.
Genauso ist es auch mit interkulturellen Fragestellungen. Wir machen Erfahrungen, wir systematisieren Eindrücke und versuchen diese in Worte zu fassen. Ich muss aber darum wissen, dass alle Verallgemeinerungen, Stereotypen und umfassenden Aussagen immer mehr falsch als richtig sind und dass ich im konkreten Fall völlig daneben liegen kann, wenn ich mich darauf verlasse. Und dennoch können solche Generalisierungen hilfreich sein - genau dann nämlich, wenn ich mir über dieser Einschränkung im Klaren bin.
Dies muss ich mir ganz besonders bewusst machen, wenn ich Versuche allgemeiner Aussagen über Nationalkulturen - wie etwa die Theorie von Geert Hofstede - betrachte.
Dr. Jörg Sieger
Anmerkungen