Interkulturelle Kompetenz
Herausforderung für unsere Gesellschaft
11.10.2015 - Predigt in der Paul-Gerhardt-Kirche, Bruchsal
Ich hätte heute gerne über anderes gesprochen.
Ich hätte Ihnen beispielsweise gerne von Abraham berichtet. Von dem wird ja immer wieder gesagt, dass Gott ihm den Befehl gegeben habe, in ein fremdes Land zu ziehen, und dass Abraham, schweren Herzens, aber gehorsam, diesem Befehl folgt und ins Ungewisse aufbricht.
Ich hätte Ihnen gerne gezeigt, dass dies eine zwar fromme Deutung ist, aber dass sie letztlich an der historischen Wirklichkeit wohl meilenweit vorbeigeht. Ich hätte Ihnen dann von der ersten großen aramäischen Wanderwelle berichtet, von jenem Aufbruch von Hunderten von Familien, die in ihren Weidegründen keine Nahrung mehr fanden und in Scharen ins Kulturland einfielen - eine der ersten großen Migrationsbewegungen, die wir historisch fassen können. Und ich hätte Ihnen dann nachzuweisen versucht, dass der historische Abraham einer dieser Flüchtlinge aus der damaligen Zeit gewesen zu sein scheint.
Ich hätte zu zeigen versucht, dass sein Problem nicht gewesen ist, plötzlich in ein unbekanntes Land aufbrechen zu sollen, dass sein Problem vielmehr war, dass er sich nicht getraut hat, mit den anderen zu ziehen, weil er ohne Nachkommen, ohne familiären Rückhalt war, weil er Angst davor hatte, ohne Absicherung dieses Wagnis zu unternehmen, und dass Gott ihm keinen Befehl gegeben hat. Gott hat ihm Mut gemacht, Mut zum Aufbruch, Mut aus dem Land wegzuziehen, das ihm keine Perspektive mehr gab.
Ich hätte Ihnen auch gern von den Hebräern berichtet. Ich hätte Ihnen gerne dargelegt, dass die Hebräer kein Volk gewesen sind. Wir hätten darauf geschaut, dass der Begriff im Alten Testament letztlich nur an ganz wenigen Stellen vorkommt - und zwar immer im Zusammenhang mit dem Aufenthalt in Ägypten.
Ich hätte Ihnen dargelegt, dass es so etwas damals nicht nur in Ägypten gab, dass im ganzen Vorderen Orient - der ganzen damals bekannten Welt - dieses Phänomen plötzlich auftauchte, dass es überall solche Menschen gab, die man Ibri, Habiru oder Hebräer nannte - Bezeichnungen, die alle aus den gleichen Konsonanten bestehen - und etwas anderes als Konsonanten hat man in den damaligen Sprachen ja gar nicht geschrieben. Bezeichnungen, die keine Völker, keine Menschen umschrieben haben, die miteinander verwandt waren. Das waren keine Bezeichnungen für Nationen, dieser Ausdruck benannte eine soziale Größe: Menschen ohne festen Wohnsitz nämlich, Halbnomaden. Und vor allem waren es Menschen ohne irgendwelche Rechte. Es waren die Angehörigen der zweiten großen aramäischen Wanderwelle, eine Flut, die zur damaligen Zeit die ganze bekannte Welt überschwemmte; und zwar deshalb, weil sie in ihren angestammten Weidegebieten keine Perspektive mehr fanden, keine Perspektive für ein gedeihliches Leben.
Das waren die Hebräer, heute würde man sagen Wirtschaftsflüchtlinge. Und zu ihnen gehörte die Gruppe von Menschen, die Mose damals aus Ägypten herausgeführt hat.
Darüber hätte ich heute gerne gesprochen. Und ich hätte dann weiter mit Ihnen zusammen überlegt, was das wohl bedeutet, dass sich Gott an genau diese Gruppe von Menschen gebunden hat, dass er diese Nachfahren von Wirtschaftsflüchtlingen, diese Menschen mit Migrationshintergrund unter seine Fittiche genommen hat, zu ihnen sagte, "Ihr seid mein Volk!" - und dass er diese Menschen - nicht gerade zur Begeisterung der dort ansässigen, recht wohlhabenden Gesellschaft - in ein Land geführt hat, ihnen dort sogar Heimat gegeben hat.
Darüber hätte ich gerne heute gesprochen. Da aber war ein Text vor; ein Text, der mich in diesen Tagen ganz besonders anspringt und dem ich jetzt einfach nicht ausweichen kann. Sie kennen diesen Text und haben ihn schon oft gehört.
Ich lese ihn trotzdem vor:
"Es war einmal ein reicher Mann, der sich in Purpur und feines Leinen kleidete und Tag für Tag herrlich und in Freuden lebte. Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Statt dessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Auch der Reiche starb und wurde begraben. In der Unterwelt, wo er qualvolle Schmerzen litt, blickte er auf und sah von weitem Abraham, und Lazarus in seinem Schoß. Da rief er: Vater Abraham, hab Erbarmen mit mir, und schick Lazarus zu mir; er soll wenigstens die Spitze seines Fingers ins Wasser tauchen und mir die Zunge kühlen, denn ich leide große Qual in diesem Feuer. Abraham erwiderte: Mein Kind, denk daran, dass du schon zu Lebzeiten deinen Anteil am Guten erhalten hast, Lazarus aber nur Schlechtes. Jetzt wird er dafür getröstet, du aber musst leiden. Außerdem ist zwischen uns und euch ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund, so dass niemand von hier zu euch oder von dort zu uns kommen kann, selbst wenn er wollte. Da sagte der Reiche: Dann bitte ich dich, Vater, schick ihn in das Haus meines Vaters! Denn ich habe noch fünf Brüder. Er soll sie warnen, damit nicht auch sie an diesen Ort der Qual kommen. Abraham aber sagte: Sie haben Mose und die Propheten, auf die sollen sie hören. Er erwiderte: Nein, Vater Abraham, nur wenn einer von den Toten zu ihnen kommt, werden sie umkehren. Darauf sagte Abraham: Wenn sie auf Mose und die Propheten nicht hören, werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn einer von den Toten aufersteht."
Evangelium nach Lukas 16,19-31
Liebe Schwestern und Brüder,
ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht ist: Lazarus steht nicht allein. Gott steht auf seiner Seite. Gott kümmert sich und er sorgt für Lazarus, so wie er für Abraham sorgte, ihm Mut machte und auf dem Weg ins Unbekannte zur Seite stand; so, wie er sich an die Hebräer gebunden hat, sie zu seinem Volk machte und ihnen zusagte: dass er für sie da sei, wann, wo und wie es auch sei. Gott steht nämlich auf der Seite des Abraham, des Wirtschaftsflüchtlings, der Habiru, Ibri oder Hebräer. Und Gott steht auf der Seite des Lazarus.
Das ist die gute Nachricht.
Die schlechte? Die schlechte Nachricht ist: Wir sind nicht Lazarus!
Wir sind nicht Lazarus!
Liebe Schwestern und Brüder,
in einem katholischen Gottesdienst könnte ich jetzt getrost "Amen" sagen. Pfarrer Schowalter wollte aber eine evangelische Predigt, und ich glaube der Unterschied ist einfach der, dass evangelische Predigten länger sind. Also mache ich jetzt noch nicht Schluss, obwohl ich Sie gleich vorwarnen muss: Es wird nicht viel Erbauliches mehr kommen.
Dieses Gleichnis Jesu kann einem nämlich den Rest geben. Man könnte ja noch damit leben, mit einem Reichen, der einfach durch und durch böse ist, den armen Lazarus unterdrückt und ihm unrecht tut. So ginge das ja noch.
Aber der Reiche aus diesem Gleichnis hat ja gar nichts gemacht! Nirgendwo steht, dass der irgend etwas verbrochen hätte. Der hat den Lazarus nicht vor die Tür geworfen. Der lag einfach da! Der ist nicht verantwortlich für dessen Geschwüre. Woher der die hatte? Keine Ahnung! Und ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob dieser arme Reiche diesen Lazarus überhaupt gekannt hat. Ich glaube immer mehr, dass der den wahrscheinlich bewusst gar nicht wahrgenommen hat.
Dieser Reiche ist kein Verbrecher, er hat sich selbst nach unserem Strafgesetzbuch, das in diesen Dingen ja sehr viel pingeliger ist als die Gerechtigkeitsvorstellungen zur damaligen Zeit, er hat sich selbst nach unserem Strafgesetzbuch vermutlich gar nichts zu Schulden kommen lassen. Dieser Reiche hat dem Lazarus überhaupt nichts getan!
Und das ist vermutlich sein einziger Fehler. Er hat einfach nichts getan. Da wird einer fürs Nichtstun bestraft!
Haben wir etwa etwas getan? Können wir was dafür, dass die Menschen in Schwarzafrika ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen? Dass die sich im Nahen Osten immer wieder in die Haare kriegen und einfach nicht miteinander auskommen wollen? Sind wir denn schuld am Elend auf der Welt?
Ich unterstelle einmal, dass kein Einziger hier irgendjemandem etwas Böses wünscht und erst recht absolut nichts dafür getan hat, dass die Verhältnisse so sind, wie sie sind. Ich unterstelle einmal, dass jede Einzelne von uns nichts anderes möchte als in Ruhe und in Frieden leben.
Und das ist ja, weiß Gott, auch bei uns alles andere als einfach. Da muss man sich ganz gewaltig für anstrengen. Das fällt einem auch nicht einfach in den Schoß. Für unser bisschen Wohlstand mussten wir ja auch ganz schön was tun.
Und jetzt kommen die plötzlich alle daher!
Wird's am Ende gar wieder Zwangseinquartierungen geben, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg schon einmal war? Wo soll das bloß enden?
Keine Ahnung! Ich weiß es nicht.
Eines aber weiß ich, eines habe ich mittlerweile erfahren. Wir jammern da auf extrem hohem Niveau!
Es geht kaum jemandem auf der Welt so gut wie uns. Unsere Kids wachsen behütet auf, wie es behüteter nicht mehr geht. Und unsere Selfies, unsere Postings auf Facebook zeigen es der ganzen Welt. Selbst in Bangladesch kann man nachschauen, wie bei uns schon zum Frühstück Party gemacht wird.
Was für ein Glück, hier geboren zu sein! Pech gehabt, wenn man irgendwo anders auf die Welt gekommen ist!
Genauso wenig, wie wir dafür können, in einem Land das Licht der Welt erblickt zu haben, wo im Vergleich zu anderen immer noch Milch und Honig fließen, genauso wenig kann ein Kind dafür, das in Syrien auf die Welt kam, in Afghanistan, in Ghana oder Nigeria. Und dieses Kind kann auch nichts für die Verhältnisse, die dort herrschen.
Aber wir, wir können da schon 'was dafür!
Nein, nicht Sie persönlich und auch nicht ich. Aber unsere Gesellschaft, unser Staat und vor allem unsere Wirtschaft!
Verfolgen Sie auch die Diskussionen um das Freihandelsabkommen mit Kanada und das TTIP-Abkommen mit den USA? Furchtbar, was da geschieht. Unsere Firmen werden da ganz schön ins Hintertreffen kommen und Europa kann da eigentlich nur verlieren. Ganz wichtig, dass wir uns da wehren!
Kennen Sie EPA? Ich gebe zu, bis vor wenigen Wochen wusste ich nicht, dass es das gibt, das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Ostafrika. Da hört man bei uns wenig von, vor allem hört man nichts von Protesten. Denn EPA ist gut, gut für Europa. Da werden die letzten Zölle auf unsere Waren fallen und unsere Tomaten und unsere Milchprodukte, die werden den afrikanischen Markt dann erst wirklich überschwemmen.
Kenia wollte das nicht. Es wurde zum Mitmachen gleichsam gezwungen. Und die Milchbauern dort, die werden über kurz oder lang am Ende sein - und das nicht nur wirtschaftlich!
Kann man es Menschen verdenken, dass - nicht sie, sie selbst werden zu alt dafür sein; aber ihre Kinder - kann man ihnen verdenken, wenn sie dann das Letzte zusammensammeln und ihre Kinder auf den Weg schicken werden, auf den Weg in eine vermeintlich bessere Welt, damit die Kinder wenigstens eine Zukunft haben?
Und was ist mit den Kindern in den Kriegsgebieten? Manche von Ihnen haben die ausgebombten Städte nach dem Krieg hier doch noch erlebt. Manche von Ihnen, sind wie die Flüchtlinge heute, als kleine Kinder an der Hand ihrer Mutter auch über Tausende von Kilometern zu Fuß oder mit der Bahn ins Ungewisse gereist. Das ist heute nichts anderes.
Und die, die zu schwach sind, die schicken Stärkere vor. Hier kommen so viele allein reisende Männer an. Viele sind deswegen besorgt, bei so vielen jungen Männern in Saft und Kraft!
Männer in Saft und Kraft! Das sind so viele Familienväter. Menschen, die aus lauter Verzweiflung, weil sie genau wussten, dass die drei kleinen Kinder den Weg nie geschafft hätten, vorausgegangen sind, den Weg übers Mittelmeer gewagt haben, in der Hoffnung, die Familie dann auf einem halbwegs sicheren Weg nachholen zu können.
Und das Handy ist die einzige Verbindung zu ihnen! Da kann Papa wenigstens übers Handy den Kleinen "Gute Nacht" sagen - und dabei nachhören, ob sie überhaupt noch am Leben sind…
Aber was haben wir damit zu schaffen, wenn sich Idioten irgendwo auf der Welt die Köpfe einschlagen. Das ist nicht unser Krieg.
Und doch ist er von uns, von unserer Politik gar nicht so unmaßgeblich verursacht. Es waren europäische Mächte, die wahllos Grenzen gezogen haben, Staaten gebildet haben, ohne auf die dort lebende Bevölkerung auch nur irgendwelche Rücksichten zu nehmen. Es ging nur um die Interessen von Kolonialmächten. Und es geht auch heute noch nur um die Interessen der Wirtschaft, um Rohstoffe und um Machthaber, die uns wirtschaftlich, politisch und militärisch gewogen sind. Ob sie das eigene Volk mit Füßen treten, ist unseren Regierungen egal. Wenn sie hilfreich sind, werden sie gestützt und an der Macht gehalten. Selbst wenn das auf Kosten der dortigen Menschen geht.
Und sagen Sie bitte nicht, das seien nur andere Staaten. Da handeln wir nicht anders als alle Mächtigen dieser Erde. Überall, wo auf der Welt im Augenblick Menschen erschossen werden, sind Waffen mit im Spiel, die hier produziert und von uns verkauft wurden.
Und gerade wir in Baden-Württemberg müssen da ganz kleinlaut werden. In ganzen Regionen unseres Landes würde das Licht ausgehen, wenn der Waffenexportweltmeister Deutschland - immerhin auf Platz drei! - da zurückfahren würde. Da rüttelt keine grüne Regierung, keine rote und die mit dem C im Namen schon gar nicht daran. Da wird nicht einmal öffentlich darüber debattiert.
Es ist auch unser Krieg, vor dem die Menschen auf der Flucht sind!
Aber wir sind doch die Guten! Wir machen doch auch was. Wir doch wenigstens nehmen Flüchtlinge auf, und zwar bis zur Schmerzgrenze.
Ja, denn es gibt bei uns ein verfassungsmäßig verbürgtes Recht auf Asyl - und mit Blick auf unsere Geschichte auch aus gutem Grund.
Ich stand letzthin am Bahnhof. Ich hatte eine gültige Fahrkarte in der Hand. Durch diese Fahrkarte hatte ich einen Rechtsanspruch darauf, von der Bahn entsprechend transportiert zu werden. Ich stand nun vor dem Bahnhof und plötzlich überkam mich der Gedanke, wie würde ich mich jetzt wohl fühlen, wenn die Bahn plötzlich alle Eingänge zum Bahnhof einfach zumauern würde. Und wenn da jetzt jemand stünde und mir zurufen würde: "Ätsch bätsch, wir nehmen Dich natürlich mit - aber nur wenn Du es jetzt schaffst hier auch wirklich rein zu kommen!"
Wie fühlt sich die Frau am Zaun in Ungarn, die Mutter, die drauf und dran ist, in ein wackeliges Boot zu steigen, der Familienvater, der sich dem Wasserwerfer gegenüber sieht. Wir helfen gerne, verfassungsmäßig verbrieft, wenn die Schutzbefohlenen nicht vorher aufgegeben haben, vergrault wurden oder letztlich ertrunken sind.
Aber was sollen wir denn tun? Wir können schließlich nicht alle aufnehmen, wir können nicht die Probleme der ganzen Welt lösen. Wir tun doch schon so viel und wir sind dabei doch wirklich schon am Anschlag.
Und das ist toll! Ja, es ist großartig, was ich landauf, landab erlebe. Die Vielen, die sich einsetzen und manchmal sogar rund um die Uhr helfen und einfach nur da sind: Das ist toll und darauf dürfen wir auch stolz sein.
Aber genau das gilt es momentan auch zu tun. Denn hier geht es um Menschen, gleich welchen Alters, welcher Religion und welchen Geschlechts, die unsere Hilfe brauchen. Und Christen wissen, dass sie in diesen Menschen nicht nur Menschen, sondern Christus selbst begegnen.
Es gibt augenblicklich nicht viel, was wichtiger ist. Wenn ein Unglück geschieht, dann gilt es zu reagieren. Wenn es in der Nachbarschaft brennt, kann ich nur schlecht sagen, ich wollte aber gerade ins Kino gehen. Das gebietet unser Christsein, das gebietet die Menschlichkeit.
Und ich habe großartige Menschen in den vergangenen Monaten erlebt.
Aber dann braucht es auch politische Konsequenzen. Politik hat diese Verhältnisse mitverantwortet und sie hat dieselben zu einem guten Teil auch verschlafen.
Ein guter Freund, der noch bis vor wenigen Jahren in Jerusalem lebte, sagte mir vor kurzem: Vor drei Jahren hat in der dortigen Region schon jeder sehen können, dass das auf uns zurollt. Die Verantwortlichen haben alle die Augen davor verschlossen.
Jetzt gilt es endlich, endlich aufzuwachen.
Politik muss dafür sorgen, dass, mit Waffen Geschäfte zu machen, geächtet wird, dass nicht Firmen und Konzerne, sondern die Menschen im Mittelpunkt des Interesses stehen und dass der Gemeinnutz wirklich vor dem Eigennutz kommt.
Wenn die Menschen dort, wo sie leben, keine wirkliche Perspektive haben, dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Zahl derer, die es zuhause nicht mehr aushält, noch viel größer werden wird.
Wenn wir dem wehren wollen, dann geht das nur auf dem Weg, dass wir den Menschen vor Ort die Möglichkeit bieten, gut und in Würde zu leben.
Dazu müssen unserer Wirtschaft Zügel angelegt werden. Firmen machen nichts aus Menschenfreundlichkeit und sie sorgen von sich aus auch nicht dafür, dass es Menschen andernorts am Ende besser geht. Dazu braucht es Regulierungsmaßnahmen, dazu braucht es den Druck der Straße. Und das fängt schon damit an, dass man die schlimmsten dieser Armutsverursacher eben an den Pranger stellt. Auf nichts reagieren Firmen so schnell wie auf Imageverlust, darauf, dass ihre Produkte nicht mehr gekauft werden.
Und was ganz besonders wichtig ist: Wir müssen die Fragezeichen ernst nehmen, die diese Flüchtlinge an unsre Gesellschaft stellen.
Denn das ist vielleicht das wirklich Positive an der ganzen Katastrophe, die uns in diesen Monaten überrollt. Diese Flüchtlinge stellen in Frage. Sie stellen unsere Art zu leben in Frage. Sie stellen in Frage, dass Menschen sich den Wohlstand gefallen lassen, während andere kaum zum Überleben haben. Und das ist auch ein großes Fragezeichen an eine gutbürgerlich christliche Gesellschaft, die sich daran freut, doch zu den Guten zu gehören, während sie grün alternativ angehaucht auf Designersofas fett geworden ist.
In unseren Gemeinden kommen die Armen doch schon lange nicht mehr vor, kaum Obdachlose, Hartz IV-Empfänger oder im Leben Gescheiterte. Wir haben gemeinhin aus dem Blick verloren, dass auch bei uns Gesellschaft in eine furchtbare Schieflage geraten ist.
Ich war letzthin in Bremen, wo uns ein Sozialarbeiter vorgerechnet hat, dass dort 5000 bezahlbare Wohnungen fehlen, und dass das 200 Millionen Euro kosten würde. Dass es in Bremen aber über 10.000 Einkommensmillionäre gäbe, und dass 1 Prozent von diesen Einkommen 450 Millionen in die Kassen spülen würde.
Unsere Welt ist in Schieflage, es kann nicht sein, dass manche alles und andere nichts haben. Unsere Gesellschaft ist in Schieflage, es kann nicht sein, dass gerechte Entlohnung von Arbeit weit weniger zählt als Rendite und Dividenden für diejenigen, die sowieso schon nicht mehr wissen, wohin sie damit sollen.
Viele Menschen befürchten, dass ihnen die Flüchtlinge Arbeitsplätze streitig machen. Viele befürchten, dass sie sich wegen der Neuankömmlinge einschränken werden müssen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie es einige Schichten in unserer Gesellschaft fertig bekommen, dass diejenigen, die nichts haben, am Ende auch noch eifersüchtig auf diejenigen blicken, die noch weniger haben. Ich bin immer wieder erstaunt, wie man es fertigbringt die Blickrichtung der Massen von den eigentlichen Verursachern der Schieflage wegzulenken.
Wenn wir daran nichts ändern, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Den Anfang davon erleben wir jetzt!
Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht.
Die gute Nachricht lautet: Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Das kriegen die schon in den Griff. Es wird keine Zwangsbelegung von leerstehenden Wohnungen geben. Irgendwann wird der Zaun um Europa so dicht gemacht sein, dass es kaum noch jemand hindurchschafft. Viele werden einfach abgeschoben werden. Männer, die nach Jahren verzweifelten Versuchens ihre Familien doch noch hierherzubekommen, am Ende ihrer Kräfte sind, werden frustriert zu den Ihren zurückkehren. Manche werden sich mehr schlecht als recht hier durchschlagen. Wir werden sie genauso wenig zur Kenntnis nehmen, wie wir die Armen und Obdachlosen in den Bahnhofsvierteln und sozialen Brennpunkten schon heute übersehen.
Viele wird unsere Industrie gut gebrauchen können. Wir werden die Gebildeten und Qualifizierten hervorragend integrieren. Und niemand wird fragen, ob die Ärzte und Ingenieure in ihrer Heimat nicht fehlen. Wir werden weiterhin mit dem Gefühl, doch zu den Guten zu gehören, fast genauso weitermachen wie bisher. Und unsere Medien werden nur ab und an davon berichten, dass es den Menschen in Ostafrika noch schlechter geht und die Menschen im Nahen Osten weiter still vor sich hin leiden.
Und es wird genügend Konzerne geben, die toll davon profitieren, die mit dem Elend der anderen gute Geschäfte machen, weil eine Voraussetzung für übertriebenen Wohlstand immer die ist, dass andere dafür umso mehr in furchtbarem Elend leben.
Unser Wirtschaftssystem, von dem Papst Franziskus gesagt hat, dass es tötet, wird schon für Wachstum sorgen. Und wir alle hier, wir alle werden gut davon leben.
Kaum jemand wird etwas dagegen tun wollen, so wie die meisten von uns nicht einmal etwas dafür tun. Wir können ja eigentlich gar nichts dafür. Wir tun doch nichts.
So wie der aus dem Evangelium eigentlich auch nichts getan hat. Er hat den Lazarus nicht vor die Tür geworfen und seine Geschwüre hat er auch nicht gemacht. Eigentlich konnte er doch gar nichts dafür. Er hat doch gar nichts getan. Mehr war es doch nicht. Er hat einfach nichts getan.
Liebe Schwestern und Brüder,
das war die gute Nachricht: Es wird uns so schnell gar nichts passieren. Für die meisten von uns wird sich auch in den nächsten Jahren kaum etwas zum Nachteil verändern. Das war die gute Nachricht.
Und natürlich, dass sich Gott kümmern wird, dass er, der sich bereits um Abraham, die Hebräer und sein Volk gekümmert hat, nicht locker lassen wird. Das ist die gute Nachricht: Gott steht auf der Seite des Lazarus.
Die schlechte ist: Wir sind nicht Lazarus!
Wir sind nicht Lazarus!
Aber das habe ich ja schon einmal gesagt, damit hätte ich eigentlich auch schon vor einer Viertelstunde schließen können. Erbaulicheres konnte ich Ihnen leider nicht berichten.
Hier stehe ich.
Ich wollte, ich könnte anders.
Gott steh uns bei.
(Dr. Jörg Sieger, Karlsruhe)