Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Deutschland ist multikurell

Normalerweise gehen Menschen in Deutschland davon aus, dass sich dieses Land und damit auch die deutsche Kultur in den letzten Jahrzehnten durch die Zuwanderung von Fremden zu einer multikulturellen Gesellschaft verändert haben. Den Anfang sieht man dabei in der Regel mit der Anwerbung von sogenannten Gastarbeitern.

Die Entwicklung einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland

historische Aufnahme

Unterzeichnung des deutsch-spanischen Abkommens
über die Wanderung, Anwerbung und Vermittlung von
spanischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik
Deutschland durch den spanischen Botschafter
Marqués de Bolarque und Staatssekretär
van Scherpenberg am 29. März 1960
im Auswärtigen Amt

Lizenz: Unterberg, Rolf, Bundesarchiv B 145 Bild-F008013-0006,
Auswärtiges Amt, Gastarbeiter-Vertrag mit Spanien
,
CC BY-SA 3.0 DE

In den 50er- und 60er-Jahren wurden in der Folge regelrechter Anwerbeabkommen Menschen in größerer Zahl eingeladen, nach Deutschland zu kommen, um den wachsenden Arbeitskräftebedarf zu decken. ⋅1⋅

Diese sogenannten Gastarbeiter waren meist Ungelernte, arbeiteten in der Industrie und lebten anfangs häufig in Baracken und Wohnheimen. Blauäugig ging man davon aus, dass sie letztlich wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Im Endeffekt aber blieben diese Menschen, holten ihre Familien nach, bildeten eigenständige Milieus mit ihren je eigenen Orientierungssystemen, und wurden in der Wahrnehmung der angestammten Bevölkerung immer mehr zum Problem, als in der Folge der Wirtschaftskrise Anfang der 70er Jahre viele Arbeitsplätze verloren gingen. Der Anwerbestopp 1973 ⋅2⋅ brachte keine wirkliche Entlastung, denn die inzwischen 2,6 Millionen Ausländerinnen und Ausländer waren mittlerweile ja bereits da.

Als dann in den 90er-Jahren der sogenannte Ostblock zusammenbrach, kam es noch einmal zu einer größeren Wanderbewegung von Menschen mit je eigener kultureller Orientierung beim Zuzug der sogenannten "Spätaussiedler".

All dies führte innerhalb von gerade einmal fünf Jahrzehnten zu einer nicht unbeträchtlichen Veränderung der bundesdeutschen Gesellschaft, mit all den damit zusammenhängenden Problemen, Befürchtungen, Ängsten auf der einen, aber auch all der kulturellen Bereicherung auf der anderen Seite - wobei hier jetzt nicht nur an den gastronomischen Bereich gedacht werden soll.

Die Entwicklung einer multikulturellen Gesellschaft in Kanada und den USA

Solch eine Entwicklung ist alles andere als ein deutsches Phänomen. Ganz im Gegenteil: Es gibt Staaten, die schon per se multikulturelle Gesellschaften darstellen, weil sie etwa - wie Kanada oder die Vereinigten Staaten von Amerika - von vorneherein Einwanderungsgesellschaften waren.

So sagt Claus Leggewie - sicher grob verallgemeinernd, aber die Sache doch pointiert auf den Punkt bringend:

"Wenn Amerikaner die gleiche Genealogie betreiben wie Deutsche, dann landen sie immer im Ausland." ⋅3⋅

Und das habe für die amerikanische Gesellschaft die Folge, wie Michael Walzer es formuliert, dass man als Amerikaner eben Amerikaner sei aber auch sonst noch alles Mögliche. ⋅4⋅

Dieses Nebeneinander verschiedenster Ethnizitäten macht die amerikanische Gesellschaft aus und ihr Beispiel zeige, nach Leggewie, wie erfolgreiche Einwanderungspolitik aussehen könne.

Die Entwicklung einer multikulturellen Gesellschaft in afrikanischen Gesellschaften

Das heißt aber nicht, dass multikulturelle Staaten nur auf dem Weg der Einwanderung entstehen. Fast alle afrikanischen Staaten bilden multikulturelle Gesellschaften, ohne dass auch nur ein Mensch dort eingewandert wäre. Diese Staaten gehen zurück auf die künstliche Teilung des Kontinents durch die europäischen Kolonialmächte. ⋅5⋅ Die häufig einfach mit dem Lineal gezogenen Grenzen nehmen keinerlei Rücksicht auf ethnische Zusammengehörigkeit oder kulturelle Unterschiede.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass Staaten nicht per se Monokulturen bilden und erst auf dem Weg der Migration zu multikulturellen Gesellschaften werden, oder - wie es dann rechtsradikale Propaganda gerne formuliert -, durch Migration gleichsam verunreinigt werden.

Kultur ist nicht zuerst "völkisch" und auch nicht zuerst national.

Deutschland als per se multikulturelle Gesellschaft

historische Aufnahme

Viertel eins - eigentlich doch keine Frage ...

Foto: Jörg Sieger

Dafür ist Deutschland selbst eigentlich schon das beste Beispiel. Als Lorenz Werthmann, der Gründer des Deutschen Caritasverbandes, am Ausgang des 19. Jahrhunderts von Fulda nach Freiburg zog, hatte er einen Migrationshintergrund. Er musste erst einmal badischer Staatsbürger werden. Und er zog damit auch in einen anderen kulturellen Raum.

Daran hat sich letztlich kaum etwas verändert. Bis heute liegt die Kultushoheit, also die Zuständigkeit für Bildungs- und Kulturpolitik nicht beim Bund, sondern bei den Ländern. Der Unterschied zwischen den Regionen in Deutschland, ist so groß, dass Benjamin Haerdle 2014 im Tagesspiegel schrieb:

"Man muss nicht nach China oder Afrika reisen, um die Einwohner nicht mehr zu verstehen. Das kann einem auch in Bayern oder Sachsen passieren." ⋅6⋅

Und er fragt sich, warum große Unternehmen ihre Mitarbeiter, die ins außereuropäische Ausland gesandt werden, in Seminaren auf kulturelle Unterschiede vorbereiten, den kulturellen Differenzen im eigenen Land aber keine Bedeutung beimessen.

Dabei sind die nicht weniger zu spüren und können massive Auswirkungen haben. Verabreden Sie sich mal mit einem Geschäftspartner auf "viertel eins". Als Studentenpfarrer in Mannheim habe ich ein Pärchen erlebt, wo er als Badener bei einer solchen Verabredung auf seine Angebetete aus dem Rheinland über eine Stunde gewartet hat!

Nichts wäre unhistorischer als von einer "deutschen Kultur seit alters her" zu sprechen. Der durch die Jahrhunderte vorherrschende politische Flickenteppich unterschiedlichster Herrschaften hat nie eine einheitliche deutsche Kultur entstehen lassen. Deutschland ist letztlich immer schon ein Gebilde aus vielen mehr oder minder unterschiedlichen Kulturen gewesen. Das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Kulturen in unseren Breiten ist eine Realität, an die wir uns offenbar schon so gewöhnt haben, dass sie uns meist gar nicht mehr auffällt.

Deshalb wäre das Verlangen nach einer monokulturellen Gesellschaft auf der einen Seite ein unrealistisches Wunschgebilde oder hätte auf der anderen Seite ein totalitäres Zwangsregime zur Folge.

Wir leben in den unterschiedlichsten Orientierungssystemen. Wir sind geprägt von einer familiären Kultur, von den Traditionen der Gruppe, in der wir uns bewegen, regionalen Bräuchen bis hin zu nationalen Eigenheiten. Kultur lässt sich nicht auf eine Nation oder ein Staatswesen beschränken.

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: https://www.bundesregie­rung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregie­rung/BeauftragtefuerIntegration/geschichte/ gastarbeiterBrd/_node.html (abgerufen am 14.1.2017). Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: https://www.bundesregie­rung.de/Webs/Breg/DE/Bundesregie­rung/BeauftragtefuerIntegration/geschichte/ gastarbeiterBrd/_node.html (abgerufen am 14.1.2017). Zur Anmerkung Button

3 Claus Leggewie, Kulturelle Vielfalt statt kulturelle Einfalt - Die multikulturelle Gesellschaft, Vortrag an der Universität Freiburg, vgl.: SWR Teleakademie, Erstausstrahlung Sonntag, 1.10.2000 = http://www.tele-akademie.de/begleit/video_ta140622.php (abgerufen am 14.1.2017). Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Claus Leggewie, Kulturelle Vielfalt statt kulturelle Einfalt - Die mutikulturelle Gesellschaft, Vortrag an der Universität Freiburg, vgl.: SWR Teleakademie, Erstausstrahlung Sonntag, 1.10.2000 = http://www.tele-akademie.de/begleit/video_ta140622.php (abgerufen am 14.1.2017). Zur Anmerkung Button

5 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Art. Multikulturelle Gesellschaften = https://www.bpb.de/internationales/afri­ka/afrika/58880/multikulturelle-gesellschaften?p=all (abgerufen am 14.1.2017)) und auch den Abschnitt "Es sind unsere Grenzen" auf dieser Website. Zur Anmerkung Button

6 Benjamin Haerdle, Soziale Kompetenzen - Deutsche Länder, deutsche Sitten, in: Der Tagesspiegel, 3.11.2014 = http://www.tagesspiegel.de/wirt­schaft/soziale-kompetenzen-deutsche-laender-deutsche-sitten/10918474.html (abgerufen am 14.1.2017). Zur Anmerkung Button