Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Weiter-Button Zurück-Button Verhältnis zum Raum

leerer Strand

Strand von Biarritz

© Sophie-Cathrine Schneider
mit freundlicher Genehmigung der Fotografin

Die Erfahrung der Einsamkeit, am menschenleeren Strand... Da fehlen nur noch die Palmen, ein Liegestuhl mit Sonnenschirm und das ultimative Urlaubsfeeling ist komplett.

Und wo ist hier das Wasser?

Dabei sehen Bade­strände im Urlaub meist aus, wie auf nebenstehendem Bild. Schirm an Schirm in Reih und Glied...

Ist das noch erholsam?

In aller Regel wünschen sich Menschen aus Mitteleuropa mehr Raum, träumen von Abstand zum Nachbarn, wollen ungestört sein.

Strände wie auf diesem Bild nutzen wir zwar, belegen sie aber dann doch eher mit abschätzigen Bemerkungen, wie man sie etwa vom "Teutonengrill" am Strand von Rimini kennt.

Wem das Platzangebot an der Elia-Beach auf Mykonos dann aber schon zu gering ist, wie mag der dann erst auf Bilder aus China reagieren? Man schaue sich nur das Video von einem völlig überfüllten Pool in der Provinc Sichuan an: "BarcroftTV: Swimming-Pool in China". Die Schwimmringe sind hier übrigens Vorschrift, weil die meisten der Besucher nicht schwimmen können. In aller Regel hört man hier ungläubige Fragen wie: "Ach, Gott, wo ist denn hier das Wasser?"

Chinesen empfinden im allgemeinen in solch einem Pool allem Anschein nach Spaß und Vergnügen. Für Menschen aus Deutschland wäre dies in aller Regel schlichtweg unvorstellbar. Offenbar benötigen manche Menschen eben mehr Raum, um sich wohl zu fühlen, andere wiederum deutlich weniger. Und offenbar hat dies etwas damit zu tun. was wir von Kindheit auf gewohnt sind. Unser ganz individuelles Raumbedürfnis ist eine unserer kulturellen Prägungen und demnach eine weitere Koordinate für unseren Standpunkt im kulturellen Raum - oder wie Karl-Heinz Flechsig sagt - eine weitere "kulturelle Orientierung".

Wie nahe lasse ich jemanden an mich heran?

In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, wie nahe ich Menschen an mich heranlasse, oder - anders gesagt: Wie viel Abstand von anderen benötige ich, um mich nicht bedrängt zu fühlen?

Wie nahe darf jemand, der gerade mit mir spricht, an mich heran? Wann empfinde ich das als bedrängend? Und wie halte ich es mit privatem Raum und öffentlichem Raum? Lädt man andere ganz schnell zu sich nach Hause ein? Ist das eher die Ausnahme? Bevorzugt man Einzelarbeitsräume und Abtrennungen? Finden Besprechungen normalerweise hinter verschlossenen Türen statt? Muss man um Erlaubnis bitten, um eintreten zu dürfen? Oder werden Großraumbüros bevorzugt? Stehen die Türen eher offen und man tritt einfach ein?

Ausgesprochen instruktiv ist die Geschichte, die von einem Reitclub in São Paulo berichtet wird - eine Begebenheit, die, wenn sie tatsächlich nicht wahr sein sollte, so doch wirklich gut erfunden ist. In diesem Reitclub, in dem viele Empfänge für neu angekommene Firmenvertreter stattfinden, musste eine Brüstung der Terrasse verstärkt und erhöht werden, weil immer wieder Personen aus den Vereinigten Staaten oder Nordeuropa rückwärts über das Geländer gefallen waren, als sie von ihren brasilianischen Gesprächspartnern zurückwichen. ⋅1⋅

Und wer kennt das nicht, dass man unwillkürlich zurückweicht, wenn ein Gesprächspartner oder eine Gesprächspartnerin immer näher rückt. Und nichts schlimmer als die Wand im Rücken, die mich daran hindert, noch einen weiteren Schritt zurückzuweichen, um den Abstand, der mir guttut, wieder herzustellen.

Privater und öffentlicher Raum

Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass auch die Frage, ob man jemand anderen schnell zu sich nach Hause einlädt oder ob dies eher die Ausnahme ist, etwas über die kulturelle Orientierung eines Menschen in Sachen Raum aussagt. Hier geht es um das Verhältnis von privatem Raum und öffentlichem Raum.

In dieses Umfeld gehört auch, ob man eher Einzelarbeitsplätze mit klaren Abtrennungen bevorzugt. Oder sind Großraumbüros die Regel? Stehen am Arbeitsplatz die Türen eher offen und man tritt einfach ein? Oder legt man großen Wert darauf, dass man anklopft und darauf wartet, hereingebeten zu werden?

In den Vereinigten Staaten empfindet man "offene Türen" normalerweise als Ausdruck von Aufgeschlossenheit und Kommunikationsbereitschaft. Wenn Deutsche eher ein individuelles Büro und geschlossene Türen bevorzugen, gilt das US-Bürgern oft als Zeichen von Verschlossenheit und Verweigerung informeller, "unkomplizierter" Kommuni­kation. Andererseits unterstellen Deutsche der US-amerikanischen Praxis gerne Oberflächlichkeit und werten es als Zeichen dafür, nicht wirklich konzentriert arbeiten zu wollen oder zu können. ⋅2⋅

Hier sind bereits in der ersten Phase des Zusammenarbeitens Konflikte vorprogrammiert. Solche Konflikte drohen - wie dieses Beispiel zeigt - schon dann, wenn von Angehörigen einer Kultur wichtige Symbole anders interpretiert werden, als Menschen, die anders kulturell geprägt sind, dies voraussetzen oder auch erwarten.

Und all die Beispiele zeigen, wie viel das Verhältnis zum Raum etwas über den kulturellen Standpunkt eines Menschen verrät - eine weitere Koordinate, um etwas über diesen kulturellen Standpunkt, die kulturelle Orientierung eines Menschen sagen zu können.

Dr. Jörg Sieger

Weiter-Button Zurück-Button Anmerkungen

1 Knapp, K., Die Kluft in der Kommunikation, zitiert in: Stefan Müller / Katja Geblrich, Interkulturelle Kommunikation (München 2014) 112. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Stefan Müller / Katja Geblrich, Interkulturelle Kommunikation (München 2014) 197. Zur Anmerkung Button